Amos Oz: "Wo die Schakale heulen"

Erzählungen


Die Geburt eines großen Schriftstellers / Leben im Kibbuz

Das allererste schriftstellerische Werk des großen israelischen Autors Amos Oz ist ein Erzählungsband, der 1965 in Israel erschienen ist. In den Jahren 1976 und 1980 erschienen jeweils revidierte Ausgaben dieser Erzählungen. Diese zehn nun erstmals in deutscher Sprache erschienenen Erzählungen könnte man als erstes Manifest des Autors sehen, ein erstes Abstecken der auch in den späteren Romanen und Erzählungen immer wiederkehrenden Themen. Unter Anderem das Leben im Kibbuz und das Leben in Israel.
Der Autor, der nach dem Selbstmord seiner Mutter mit dreizehn Jahren das Elternhaus in Richtung eines Kibbuz verlassen hat, findet bereits in diesen sehr frühen Erzählungen zu seiner eigenen Sprache, zu seinem höchstpersönlichen Erzählstil. Gleichzeitig mit diesen frühen Erzählungen publizierte Amos Oz bereits zahlreiche politische Essays, die eine eindeutige und wahrscheinlich nicht ganz unumstrittene Position zur Lage Israels einnehmen.

Ausgelöst hat diesen Band die Lektüre von Sherwood Andersons Erzählungsband "Winesburg, Ohio", der sich dem Leben, den Sehnsüchten und Problemen der Menschen in einer Kleinstadt in Ohio widmet. Ähnlich wie Anderson verlegt Oz seinen Erzählungsband in einen Kibbuz, wahrscheinlich ähnlich jenem, wo Oz selbst seine Jugend verbracht hat. Er kreiert wunderbare Figuren, die teilweise Paten für spätere Romanfiguren zu sein scheinen. Doch selbst wenn die hier versammelten Erzählungen als erste Talentprobe, als Ausgangspunkt und Sammelbecken für später betrachtet werden können, sind sie zum größten Teil herrlich unterhaltende, nachdenklich stimmende Erzählungen, die den Vergleich mit den reifen Werken des Autors nicht scheuen müssen.
Rätselhaft bleibt nur, warum es doch so lange gedauert hat, bis diese zehn wunderbaren Texte ins Deutsche übersetzt worden sind.

Beim Lesen dieser erstaunlichen Erzählungen kann man kaum glauben, dass sie von einem jungen Mann von gerade einmal drei- bis fünfundzwanzig Jahren geschrieben worden sind. So sehr gehen sie in die Tiefe, so gewaltig sind die Abgründe, welche sich immer wieder auftun, die den Leser dazu zwingen, tief durchzuatmen, bevor er weiterlesen kann. Bereits hier spürt man die Genialität dieses Autors, der bis jetzt von der Stockholmer Nobelpreisjury sträflich übersehen wurde.

Die Sinnlichkeit ist hier ebenso allgegenwärtig, schon in der ersten Erzählung "Land der Schakale" spielt Oz virtuos mit der Grenzlinie von Verbotenem und Erlaubtem, indem er eine junge Frau in die Arme eines älteren, anrüchigen und geheimnisvollen Kibbuz-Bewohners treibt. Der Mann, ein aus Bulgarien stammender ehemaliger Pferdezüchter, lockt sie mit Malmaterial, das er ihr zur Verfügung stellen will, in sein Zimmer, wo er ihr andeutet, mehr über ihre Mutter zu wissen, als ihr lieb sei. Bei Kaffee und viel Zögern überkommt sie, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass er ihr Vater sein könnte, das Begehren. Mit der Begründung, sie sei ja sowieso blond und demnach sicher nicht seine Tochter, ruft sie: "Wir dürfen es! Komm!"
Und so könnte man hier bereits die viel globalere Erkenntnis verstehen, dass das Begehren, wenn vorhanden, sogar durch Selbstbetrug gerechtfertigt wird. Ein Motiv, das in unterschiedlichsten Formen immer wieder im Schaffen von Amos Oz wiederkehren wird.

In einer anderen Erzählung, die in einer noblen Gartensiedlung in Jerusalem spielt, schwankt die Atmosphäre so genau zwischen Bedrohung und Verheißung, dass man unbedingt wissen möchte, wie Amos Oz das nur gemacht hat. In einer anderen wieder verlieren junge Männer ihr Leben bei kriegerischen Handlungen oder Vergeltungsaktionen. Schakale sind ebenso allgegenwärtig, sie besitzen eine fast leitmotivische Rolle, dahinter steckt natürlich auch viel Symbolik, die sich dem Leser dennoch leicht erschließt.
In einer Erzählung lässt Oz eine junge Israelin auf einen Beduinen treffen, während ordentlich Stimmung gegen die diebischen Araber gemacht wird.

Die vielleicht stärkste und traurigste Erzählung in diesem Band ist "Der Weg des Windes", die damit beginnt, dass der Leser erfährt, der Protagonist werde diese Erzählung nicht überleben: "Gideon Schenhavs letzter Tag begann mit einem strahlenden Sonnenaufgang. Weich, fast herbstlich war er. Gedämpfte Lichtblitze flackerten durch die dicken Wolken, die den östlichen Horizont abschlossen. Heimtückisch verbarg dieser neue Tag seine Absicht und zeigte noch nichts von der Hitze, die in ihm steckte."
Der junge Gideon, seines Zeichens Fallschirmjäger im Heer, bereitet sich auf einen Schausprung vor, der über dem Kibbuz seiner Eltern stattfinden soll. Seine Freude ist groß, er will vor seinen Freunden und Verwandten glänzen.
Parallel dazu lernt der Leser den Vater des Jungen kennen, einen bereits etwas älteren Herrn, dem nichts so wichtig ist wie die tägliche Routine, die möglichst viel produktive Arbeit ermöglichen soll. "Ein Mann mit viel Erfahrung ist Schimschon Scheijnbojm. Das Leben hat ihn gelehrt, wie Willkür und Torheit unser Schicksal bestimmen, das Schicksal des Einzelnen wie das der Gemeinschaft. Seine nüchterne Haltung hat ihm nichts von der Offenheit genommen, die ihn seit seiner Jugend bestimmt."
Nachdem Schimschon lange Jahre allein gelebt hat, entscheidet er sich mit 56, einen Erben zu zeugen. Pragmatisch und nüchtern. Dafür wählt er die um dreiunddreißig Jahre jüngere Raja Grinschpan, "ein winziges Persönchen, das stotterte".
Er trennt sich bald von ihr, übernimmt aber seine Pflichten als Mentor und Erzieher seines Sohnes.
"Er überhäufte den Jungen, als dieser sechs oder sieben Jahre alt geworden war, mit der ganzen Wärme seine Persönlichkeit. Allerdings war Gideon eine Enttäuschung. Ein Junge wie er besaß nicht die Voraussetzungen, um eine Dynastie zu gründen. Seine ganze Kindheit hindurch lief ihm die Nase. Er war langsam, unkonzentriert, steckte Schläge und Beleidigungen ein, ohne sich zu wehren, ein seltsamer Junge, der sich für goldene Bonbonpapiere, getrocknete Blätter, Seidenraupen interessierte."
Als der Junge mitteilt, er wolle zu den Fallschirmjägern gehen, freut sich der Vater und hofft, dass nun endlich ein Mann aus dem Jungen würde. Gegen den Willen der Mutter verschafft er ihm dank seiner Beziehungen die Aufnahme in das Fallschirmjägerregiment. Es ist wirklich beeindruckend, wie Amos Oz auf wenigen Seiten detailliert und plastisch eine Familiensituation darstellt, die den jungen, nach Anerkennung suchenden Gideon dazu verleiten wird, einen fatalen Fehler zu begehen.
Und so kommt es zum Sprung. Damit ihn seine Eltern besser erkennen können, betätigt er zusätzlich zum bereits geöffneten Fallschirm den roten Reservefallschirm. Zusätzlich zum regulären Wind kommt der Chamsin auf, der den nunmehr fast reglos schwebenden Jungen weit weg vom Ziel und in eine Hochspannungsleitung treibt. Vom Vater angeschrien, schafft er es nicht, den Mut aufzubringen, die Leinen durchzuschneiden, um abspringen zu können. Letztendlich, als die Rettung fast glückt, erschrickt er und landet im Stromkreis.

Auch die anderen Texte stehen diesem in ihrer Tiefe und Aussage um nichts nach.
Der Band enthält folgende Erzählungen: "Land der Schakale" (Seite 9), "Beduinen und Kreuzottern" (Seite 31), "Der Weg des Windes" (Seite 54), "Vor seiner Zeit" (Seite 81), "Die Trappistenabtei" (Seite 109), "Fremdes Feuer" (Seite 136), "All die 
Flüsse" (Seite 172), "Die Verbesserung der Welt" (Seite 205), "Ein ausgehöhlter Stein" (Seite 219), "Auf dieser bösen Erde" (Seite 259).
Es sind allesamt Kleinode, von denen einige locker auch groß angelegte Romane hätten werden können. Mirjam Presslers Übersetzung ist kongenial, sie liest sich nie wie eine Übersetzung und lässt die nüchterne, detaillierte Sprache dieser Erzählungen auch auf Deutsch blühen.
"Wo die Schakale heulen" ist ein Muss für alle Anhänger dieses Autors. Für alle, die es noch nicht sind, stellt der Band einen perfekten Einstieg in das Schaffen dieses großartigen Schriftstellers dar.

(Roland Freisitzer; 07/2018)


Amos Oz: "Wo die Schakale heulen. Erzählungen"
(Originaltitel "Arzot ha-Tan")
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Suhrkamp, 2018. 200 Seiten.
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