Ruhiya trat aus dem Steinhaus
und hielt ihren Schleier in der sanften Brise, die ihr entgegenwehte, fest. Sie
machte sich daran, ihr Haar zurückzubinden, ließ es dann aber bleiben. Die Nacht
würde sie verbergen, der Schlaf für sie Wache halten. Trotzig schlang sie sich
ihren hijab um die Hüfte. Es war schon Jahre her, dass sie den Wind im Nacken
gespürt hatte, den kühlenden Hauch, der die sommerlichen Schweißperlen auflöste.
Sie zog die Füße durch den warmen Sand. Das Haus von al-Ashkar stand auf der
anderen Seite des Dorfes. Der Wind hatte aufgefrischt und wiegte die hohen
Palmen mit leisem Raunen. Wie ihre Mutter es versprochen hatte, tat sich ein
neuer Weg vor ihr auf. Sie wandte sich um und lief auf die Moschee zu, geleitet
von den flammenden Bougainvillea-Sträuchern und den Reihen blühenden Jasmins.
Ruhiya sah zum Himmel hinauf und zu den leuchtenden Punkten darin. Sie bildeten
eine wirbelnde Krone für die gelbe Moschee. Sie lugten durch die beiden Monde,
die in die Steinmauer der Moschee gehauen waren, der zu- und der abnehmende
Mond. Die Tür stand weit offen wie immer, die Stufen zum Minarett lagen direkt
dahinter. Die Treppe schien zu schmal für die stämmige Gestalt ihres Vaters, zu
dunkel. Ruhiya sah sein eingefallenes Gesicht vor sich. Seine Augen blinzelten
einmal, dann war er verschwunden. Ruhiyas Füße trugen sie die Stufen hinauf.
Sein Moschusgeruch war überall. Hätte der Gesang ihres Vaters melancholischer
sein können? Vom ersten Tag an war man sich einig gewesen, dass die
sehnsuchtsvolle Stimme des jungen Radwan ihresgleichen suchte. Und im Lauf der
Jahre war sie immer ergreifender geworden. Die Dorfbewohner sagten: "Hört nur,
der Muezzin wird immer sehnsüchtiger." Mit der Zeit wurden auch sie von dieser
Sehnsucht mitgerissen, und in den Stunden der Dämmerung, bei Sonnenaufgang und
Sonnenuntergang trieb ihnen sein Gebetsruf Tränen in die Augen.
Sie stand oben auf dem Minarett, allein auf dem runden Balkon. Hier wehte ein
kühlerer Wind und das Raunen war verstummt. Sie sah sich um und erblickte zum
ersten Mal die Hausdächer von al-Ahmar. Die Bäume reckten ihre Äste als geisterhafte
Schatten in den Himmel. Der Gesang in Ruhiyas Kehle war angeschwollen wie ein
Abszess, der Schweiß brach ihr aus. Sie zog ihren Schleier bis zu den Schultern
hoch und wischte sich das Gesicht damit ab. Sie dachte an Umm Kulthum, die ägyptische
Diva, deren Gesang die Macht besaß, eine ganze Nation verstummen zu lassen.
Warum war denn die Stimme dieser Frau nicht awra? Ruhiyas Großmutter hatte ihr
erzählt, dass selbst in Jerusalem ganze Stadtviertel still wurden, wenn Umm
Kulthum im Radio kam, von Ras al-Amud bis zum orthodoxen Viertel in der Altstadt,
alte Männer saßen da und lauschten ihren Balladen, während sie nachdenklich
ihre Schnurrbärte zwirbelten und ihre Wasserpfeifen drehten. Sie erzählte Ruhiya,
dass jedermann verträumt die Augen schloss, wenn ihre Lieder erklangen, in den
Wechselstuben und Friseurläden
der Salaheddin-Straße ebenso wie in den Universitäten von Bethlehem
und Birzeit. Und dass es nie
Ärger
mit den Soldaten gab, wenn Umm Kulthum sang. Denn ihre Lieder kamen aus
dem Herzen.
In wenigen Augenblicken war es Zeit für das
Morgengebet. Kühl taute der Himmel auf, die Sonne wartete hinter dem Horizont.
Ruhiya schloss die Augen und durchquerte die Wüste bis zu einem glitzernden
Meer. Es hatte eine Zeit gegeben, als das Sprechen verboten war, und es schien
so lange her.
"In diesem Augenblick quelle ich fast über von der Liebe, die
Gott mir erwiesen hat. Aber es hat sich nichts geändert; ich bin einfach nur
dort, wo ich sein soll, halte einen kühnen Moment lang den Atem an und frage den
Morgen, ob er mir gehören will. Mir zur Seite stehen will, wenn ich Seine
Herrlichkeit preise."
"Allaahu Akbar!" Ihr Körper war steif. Der Schrei war
ihr entwichen. Sie stand unerschütterlich wie ein Vulkan und spie glühende Lava,
schleuderte Worte wie Asche hinaus. Sie kostete sie aus wie Konfekt, das auf der
Zunge zergeht. Am Schluss, eingedenk der Worte Yehyas, machte sie die korrekte
Pause: "La Ilaaha Illa Allah ..." Es gibt keinen Gott außer Allah.
Ruhiya öffnete die Augen und legte die Hand auf ihr Herz. Sie blickte hinab.
Ein kleines Mädchen stand unten vor dem Minarett und sah zu ihr empor. Es war
Asrar, die Tochter des heiligen Mannes und Heilers al-Ashkar. Ruhiya hatte sie
gar nicht bemerkt, doch jetzt verflochten sich ihre Blicke voll Liebe und Dankbarkeit.
Ruhiya presste die Hand auf die Lippen, als untersuche sie eine frische Wunde.
Ihr Mund trug keine Spur der Schande, trotz des leichten Zitterns und des Kribbelns
unter ihrer Haut. Mit Bedacht drehte sie sich um und ging hinein, dann rannte
sie die Stufen des Minaretts hinunter und wieder aus der Moschee hinaus. Sie
ging auf das kleine Mädchen zu und kniete sich hin, so dass ihre Gesichter auf
gleicher Höhe waren. Die beiden - eine, die bald eine Frau sein würde, die andere,
die sich gerade so spektakulär von den Beschränkungen befreit hatte, die den
Frauen auferlegt sind - starrten einander an wie Katzen
verschiedener Rassen. Ruhiya sprach als Erste.
"Asrar, du darfst nicht
weitersagen, was du gesehen hast. Du musst es für dich behalten. Leg die Hand
auf dein Herz und schwöre auf den Koran, dass du es für dich behalten
wirst!"
"Ich würde auf den Koran, das Kreuz, die Thora schwören. Ich würde ja
schwören, aber es haben dich schon alle gehört, Ruhiya."
Ruhiya lächelte. Sie
sagte sanft: "Einschließlich Gott?"
Asrar betrachtete die vor ihr kniende
junge Frau, ohne zu antworten. Sie wusste, dass sie gerade etwas Bedeutsames
miterlebt hatte, begriff aber nicht ganz den Grund für die Panik, die in Ruhiyas
Augen stand.
"Gott vergib mir! Du musst mein Geheimnis bewahren,
Asrar!"
Asrar zögerte nicht. "Du bist das Geheimnis, Ruhiya." Denn wenn Asrar
eins erkannte, dann waren es Geheimnisse.
(Aus "Der Honig" von Zeina B Ghandour. Deutsch von Sabine Hübner.)
Etwas Unerhörtes ereignet sich in einem
palästinensischen Dorf: Von der Moschee ruft eine Frau zum Gebet.
Sie bricht
eines der tiefsten islamischen Tabus: Ruhiya, die Tochter des Muezzins, führt
anstelle ihres kranken Vaters den Ruf zum Morgengebet aus. Zur selben Zeit, als
sie sich auf den Weg zur Moschee macht, bereitet sich in Jerusalem ein junger
Mann namens Yehya, ihre Jugendliebe, auf ein Selbstmordattentat vor. Bevor er
sein Vorhaben ausführen kann, hört er Ruhiyas Ruf, und anstatt seinen
Sprengstoffgürtel zu zünden und sich in die Luft zu sprengen, rennt er
davon.
Am selben Tag kommt eine ausländische Journalistin in das Wüstendorf, angelockt
von Gerüchten um einen weiblichen Muezzin. Sie trifft auf eine Mauer des Schweigens
und beginnt nach Antworten auf ihre Fragen zu suchen - mit Hilfe eines kleinen
Mädchens, das alles hört und sieht. Es kommen Geheimnisse aus einer gewalttätigen
Vergangenheit ans Licht ... (dtv)
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