Jurga Ivanauskaite: "Die Regenhexe"


Nach mehreren auf der Frankfurter Buchmesse der letzten Jahre meiner Meinung nach zu Unrecht hochgelobten Romanen wie Sándor Márai: Die Glut (Ungarn) und Ersi Sotiropoulos: "Bittere Orangen" (Griechenland) ist man um so erfreuter, dass man der diesjährigen Favoritenwahl, dem Roman "Die Regenhexe" der litauischen Autorin Jurga Ivanauskaite, vorbehaltlos beipflichten kann.

Nun sind inzwischen bereits zahlreiche übereinstimmend positive bis begeisterte Rezensionen zu diesem Werk verfasst worden, so dass es schwer fällt, Neues hinzuzufügen.
Es bleibt aber der Gesamteindruck, der wiederum für die hohe Qualität des Romans spricht: Es gäbe noch sehr viel zu ihm zu sagen, und er ist mit den bisherigen Stimmen noch längst nicht in seiner Tiefe und Vielschichtigkeit ausgelotet.
Ihn als emanzipatorischen Vorstoß zu verstehen, bliebe sicherlich zu vordergründig. Er zeigt die schicksalhafte und unlösbare Verstrickung der Geschlechter in beispielhaften symbolträchtigen Figuren, in ständiger Wiederholung, die einer ewigen Verdammnis gleichkommt. Es gibt keine Erlösung aus den einmal zugewiesenen Rollen, weder durch größere Rationalität im 20. Jahrhundert noch durch Einflussnahmen von außen, etwa die Methoden der Psychoanalyse. Die drei Geschichten des Romans sind letztlich eine, die drei Frauen- und Männergestalten verschmelzen zu Prototypen, die sich lediglich durch ihre zeitgeschichtliche Einbettung in verschiedene Epochen geringfügig unterscheiden. Die Autorin macht das unmissverständlich deutlich durch äußerst geschickt eingesetzte stilistische Mittel, die an die des Spielfilms erinnern: stufenlose Überblendungen von einer Zeitebene in die andere, motivische Wiederholungen bis hin zu Parallelen, die fast Selbstzitaten gleichen. (Feuer und Verbrennen; Demutsgebärden; Kahlscheren des Kopfes; Selbstmordversuche usw. )

Was unterscheidet diesen Roman von dem großen Angebot in der Rubrik "Frauenroman"? Die hohe erzählerische Qualität und der selten zu findende Grad sprachlicher Bewusstheit ebenso wie der Umstand, dass die Autorin den Leser nicht zu bekehren versucht. Sie macht nicht Front gegen den Mann und für die Frau. Sie überlässt es dem Leser, sich aus dem Dargestellten ein eigenes Bild zu machen. Und das könnte, je nach Perspektive, durchaus auch (mit dem Titel des Romanzyklus von Henry de Montherlant) lauten: "Erbarmen mit den Frauen" und nicht nur als einseitige Verurteilung der Männer "This is the road to hell" (S. 294) gesehen werden haben.
Selbst das mit wunderbarer Zartheit und Behutsamkeit entworfene Christus-Bild bleibt doppeldeutig in der innigen Vermischung von Bibelzitaten und eigener Beschreibung.

Es handelt sich um ein Werk, dass zu verschlingen viel zu schade wäre. Es lädt ein zum Entdecken, Nachdenken, Vergleichen, ja, zum wiederholten Lesen, um die immer wieder aufblitzenden Bezüge besser in ihren Zusammenhängen zu verstehen. Es gibt bestimmt nicht viele Neuerscheinungen auf dem deutschsprachigen Büchermarkt, von denen man das sagen könnte.

(Diethelm Kaminski; Köln, den 27.10.2002)


Jurga Ivanauskaite: "Die Regenhexe"
dtv premium 2002,
Aus dem Litauischen von Markus Roduner.
300 Seiten. 
ISBN 3-4232-4324-4.
ca. EUR 14,50.
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