Eine klassische Erziehung
Als Nektarios den Papagei kaufte, sprach der Vogel nur einen einzigen Satz,
und selbst diesen nur auf portugiesisch, da er vorher einem Seemann aus Porto
Alegre gehört hatte, bis dieser das Tier bei einer heiß umkämpften Partie Dame
an die Vogelhändlerin verloren hatte.
"Mostre-me o caminho para o bor Ad mais barato, amigo", sagte
der Papagei.
Innerhalb eines Monats konnte er diese Worte auch in Nektarios' Sprache:
"Zeig mir den Weg zum billigsten Hurenhaus, mein Freund."
Bei dem Papagei handelte es sich um eine gelbe Amazone mit einem gebogenen Schnabel,
so groß wie der Haken eines Derrickkrans und von geradezu mineralischer Härte,
einer ledrigen Zunge, mit der er sich unentwegt den unteren Teil seines Schnabels
leckte, und Augen, in denen sich offene Neugier spiegelte. Nektarios nahm ihn
mit nach Hause. Der Junggeselle wohnte in einem Haus, das um einiges interessanter
war als der heimische Dschungel des Papageis. Es gab ein Sofa, an dem der Papagei
gern rupfte und zupfte, einen Lampenschirm auf einem freistehenden Ständer,
auf dem er oft hockte und sich stundenlang hin- und herwiegte, und einen alten
Gefrierschrank, der den Vogel jedesmal erschreckte, wenn das Stromaggregat ansprang.
Nektarios war entzückt. Er stellte den Papagei seiner Nichte vor, als ihre Eltern
die Kleine bei ihm einquartierten, ehe sie sich mit ihrem Lastwagen in die Kreisstadt
aufmachten, um ihr Korn zu verkaufen.
"Was meinst du?" fragte er sie.
Das kleine Mädchen sah den Vogel gleichgültig an.
"Er sieht aus wie ein zu großer Kanarienvogel. Außerdem singt er nicht", erklärte
sie und machte den Fernseher an.
Nektarios war Sachbearbeiter im Rathaus. Seine Beschäftigung hatte ihn nicht
nur kurzsichtig gemacht, sondern sorgte auch dafür, dass die ihm eigene krankhafte
Fantasie seine Lebensmaßstäbe nicht völlig durcheinanderbrachte. Für seine ungewöhnlichen
Anwandlungen hatte er bereits bitter bezahlen müssen: Er war einsam. So war
es wohl unvermeidlich gewesen, dass er Trost in der Gesellschaft von Haustieren
gesucht hatte und seitdem seinen Kindheitstraum zu verwirklichen versuchte;
Dompteur hatte er werden wollen. Einmal hatte er zwei Siamkatzen gekauft, denen
er monatelang Trapezkunststücke beizubringen versuchte, ohne auch nur das Geringste
zu erreichen. Schließlich fuhr er mit ihnen zum Tierarzt in der Kreisstadt.
"Sie sind einem Schwindler aufgesessen", sagte der Doktor. "Diese
Katzen
sind taub."
Nektarios war enttäuscht, wenn auch nicht lange. Bald fasste er ein neues Projekt
ins Auge. Von weitem sah das Aquarium aus wie alle anderen auch, doch bei näherem
Hinsehen konnte man die sechsspurige Bahn und die Ziellinie auf dem Boden erkennen.
Nektarios begann, einen
Schwarm Engelsfische für das erste Fischrennen der Welt
zu trainieren.
"Sie hätten mich vorher konsultieren sollen", sagte der Tierarzt. "Engelsfische
sind keine besonders ehrgeizige Spezies."
Während jener Tage der Rückschläge kam die Vogelhändlerin mit ihren exotischen
Vögeln ins Dorf. Als Nektarios den Papagei erblickte, ließ er unvermittelt sein
Einkaufsnetz fallen. Der Vogel war mit dem einen Bein an eine hölzerne Stange
gekettet und sah Nektarios ebenso fasziniert an. Mit seinem aufgeplusterten
Gefieder und dem enormen Schnabel wirkte er unter all den kleinen Käfigen mit
Finken und Kanarienvögeln fehl am Platz. Auf seiner Brust befand sich ein mit
Klebeband befestigtes Stück Papier, auf dem IM SONDERANGEBOT, WEIL ER JEDEM
AUF DIE NERVEN GEHT stand. Als Nektarios den Vogel näher begutachten wollte,
plapperte der Papagei jenen einzigen Satz, den er kannte.
"Was hat er gesagt?" fragte Nektarios.
"Das ist die erste Zeile eines portugiesischen Gebets", log die Vogelhändlerin.
"Was Sprachen angeht, ist der Vogel besonders begabt."
Plötzlich kam Nektarios eine Idee, und seine Augen hinter der Brille verengten
sich zu schmalen Schlitzen.
"Ich nehme ihn", sagte er mit fester Stimme.
"Sie brauchen auch einen Käfig", warnte ihn die Vogelhändlerin. "Sonst könnte
es passieren, dass Sie den einen oder anderen Finger verlieren."
Der Eisenkäfig kam auf den Küchentisch; zwischen die Stäbe steckte Nektarios
ein Salatblatt. Er ließ den Papagei jeden Morgen hinaus, bevor er zur Arbeit
ging, und setzte ihn abends wieder in den Käfig, um ihm Unterricht zu geben.
Mit Hilfe eines Wörterbuchs übersetzte er die Worte, die alles andere als ein
Gebet an die heilige Jungfrau waren, und in weniger als einem Monat hatte er
dem Vogel beigebracht, den Satz auch in seiner Sprache zu sagen. Stolz wiederholte
der Papagei pausenlos das Gelernte, bis Nektarios den Käfig mit einem Tuch verhängte
und der Vogel schließlich einschlief.
"Er heißt Homer", ließ Nektarios seine Nichte wissen. "Und bald wird er die
Klassiker auswendig können."
Das war leichter gesagt als getan, selbst für einen so außergewöhnlich begabten
Papagei. Homer war nämlich nicht nur im Amazonasdschungel geboren, sondern in
den übelsten Vierteln und Häfen der Welt aufgewachsen, ehe Nektarios ihn in
sein Ziegelhaus mitgenommen hatte. Seine Erziehung ging nur langsam voran, doch
Nektarios ließ sich nicht entmutigen. Seine Augen leuchteten nur so vor fehlgeleitetem
Enthusiasmus, während er dem Papagei jeden Abend aus ausgewählten Bänden seiner
Klassikerbibliothek vorlas. Er hatte die Bücher mit den Lesebändchen auf dem
Flohmarkt in der Kreisstadt gekauft, zusammen mit einem schweren Lesepult, einem
Fußbänkchen, einem alten Hausmantel mit einer Reihe angesteckter Orden und einem
Paar Kordpantoffeln - deshalb, weil er belehrt worden war, nur so könne er literarische
Schriften wirklich genießen. Er hatte jedoch kaum das erste Buch von Apollonius'
Argonautica hinter sich gebracht, als er bereits das Interesse verlor. Der Vergessenheit
preisgegeben, waren die Bücher in den Regalen geblieben, bis der Papagei ins
Haus gekommen war.
Im Gegensatz zu seinem Besitzer erwies sich der Vogel als äußerst gelehrig.
Die Nächte, die er in Gesellschaft von Matrosen und Kneipengesindel verbracht
hatte, waren lange her; nun saß Homer stundenlang still da und lauschte Nektarios'
sanft intonierten Worten mit wissendem Nicken. Es dauerte einige Tage, doch
schließlich konnte der Papagei ganze Absätze rezitieren, und wenn zufällig eine
Seite fehlte, verfiel er in ein ziemlich einschüchterndes Gebaren. Er gab ein
lautes Quaken von sich, das er wohl
von
einem tropischen Frosch aufgeschnappt hatte, und flatterte aufgebracht mit
seinen bunten Flügeln.
"Er spricht in Zungen", sagte Nektarios' Nichte.
"Nein", berichtigte sie ihr Onkel. "Das ist Herodot
im Original."
"Poesie wäre noch schwieriger, Onkel."
Nektarios tätschelte Homer den Kopf.
"Warte nur ab, bald beherrscht er auch den daktylischen Hexameter."
Die Sommertage schleppten sich dahin wie ein Zug auf einer Anhöhe. Jeden Tag
befasste sich Nektarios mit Geburtsurkunden und anderen amtlichen Aufzeichnungen,
immer ein Auge auf die Uhr geheftet, bis es endlich wieder Zeit war, nach Hause
zu gehen, wo der Papagei bereits auf die nächste epische Vorlesung wartete und
kleine Stückchen aus dem Sofa biss. Homers Hingabe war nicht rein akademischer
Natur. Um seinen Lerneifer ein wenig anzustacheln, brachte Nektarios jeden Nachmittag
eine volle Tüte Vogelsamen mit, was es erschwerte, die Grenze zwischen dem Wissensdurst
des Papageis und seiner Gefräßigkeit klar zu definieren. Das Dorf litt unter
einer Hitzewelle, und es wurde zur Qual für Nektarios und das Mädchen, in dem
kleinen Haus zu schlafen. Den Papagei hingegen hielten Wetter und Vogelsamen
bei bester Laune, und so manche Nacht wurden Nektarios und seine Nichte von
Homers beherztem Keckem geweckt, einem Echo der geheimnisvollen Träume, wie
sie nur Vögel träumen können.
Einige Tage später erhielt Nektarios ein Telegramm von seiner Schwester, dass
sich der Verkauf des Korns schwierig gestaltete und sie es noch in anderen Städten
versuchen wollten. Pass auf das Kind auf. Küsse.
"Jetzt sind wir beide die Gelackmeierten", sagte seine Nichte. "Du musst es
mit mir aushalten, und ich mit einem philologisch geschulten Papagei."
An dem Sonntag, als der gelbe Wind vom Meer her wehte und das Tal zur Mittagszeit
mit einer goldenen Staubschicht bedeckt hatte, war Homer zum dreiundzwanzigsten
Buch der Odyssee vorgedrungen.
"Wo kommt er überhaupt her?" fragte die Kleine ihren Onkel, während sie den
Papagei mit einem Staubwedel putzte.
"Aus der afrikanischen Wüste jenseits des Ozeans", antwortete Nektarios.
Eingehüllt von dem seltsamen Nebel aus Staub, traf der in die Kreisstadt fahrende
Bus ein und brauste mit angeschalteten Scheibenwischern und Scheinwerfern wieder
ab, während jene Menschen, die auf den Straßen unterwegs waren, sich Schals
um die Gesichter wickeln und mit Regen- und Sonnenschirmen schützen mussten.
Die Luft war zum Ersticken. Vor dem Rathaus stülpte sich ein Vagabund einen
Pappkarton über den Kopf, schnitt Löcher zum Sehen hinein und sah zu, wie der
Wind den Sand zu funkelnden Haufen auftürmte. Der Sturm hielt bis zum Abend
an. Unterdessen verbreiteten sich im Dorf so derart abwegige Gerüchte, dass
selbst der Priester ihnen keinen Glauben schenkte. Unter anderem ging das Gerede,
dass es draußen im Tal plötzlich frischen Dung geregnet habe und wenige Minuten
später drei verschreckte
Kamele
erschienen seien, auf denen Beduinen in schwarzen Dschellabas saßen.
Nektarios in seinem kleinen Haus schenkte dem Naturphänomen nur wenig Beachtung;
statt dessen konzentrierte er sich darauf, dem Vogel die Regeln der griechischen
Syntax beizubringen. Ermutigt vom Lerneifer des Papageis war auch Nektarios'
Ehrgeiz gewachsen - nun hatte er vor, den ersten Übersetzerpapagei der Welt
zu dressieren. Er verlor das Zeitgefühl und arbeitete die ganze Nacht hindurch,
während er Homer mit reichlich Vogelsamen bei Laune hielt. Am Montagmorgen setzte
sich der Sandsturm fort, um einiges heftiger als zuvor.
"Das ist das Ende der Welt!" sagte das staunende Mädchen. "Pater Gerasimo
hat recht gehabt."
Nektarios war gerade dabei, den Papagei mit einer weiteren Handvoll Vogelsamen
zu ködern.
"Aber erst isst du dein Frühstück auf", sagte er geistesabwesend.
Der Sturm hielt Onkel und Nichte davon ab, ins Freie zu gehen. Sie blieben mehrere
Tage lang im Haus, und die Kleine sah sich, unbeachtet von ihrem Onkel, so viele
Kindersendungen im Fernsehen an, dass ihre Augen genauso rechteckig wie der
schwarzweiße Bildschirm wurden. Ab und zu hielt der Papagei, erschöpft von Odysseus'
Abenteuern, in seinen Rezitationen inne und sah ebenfalls zu. Nektarios schüttete
dann wieder Vogelsamen in den kleinen Napf in seinem Bauer, worauf Homer sich
erneut seinen Studien widmete. Doch alles Bestreben war vergeblich. Der Papagei
wurde nur immer fetter, ohne auch nur ein einziges Wort des antiken Texts in
die moderne Sprache zu übersetzen. Nektarios' Enthusiasmus begann zu verfliegen,
während ihm seine Anstrengungen schlimmere Kopfschmerzen bereiteten als der
Geruch der chinesischen Tusche im Büro.
Am Tag, als sich der Sandsturm endlich legte, trafen Nektarios' Schwester und
sein Schwager ein, um die Kleine wieder mit nach Hause zu nehmen. Nun war der
Fernseher aus, und es kehrte wieder Stille in die kleine Wohnung ein. Der Fernseher
gehörte ebenfalls zu Nektarios' Spontankäufen. Allein sah er nie fern. Er hatte
ihn in der Kreisstadt von der Familie eines verstorbenen Verwandten gekauft,
als er vor einiger Zeit einem Lamm hatte beibringen wollen, jedesmal zu blöken,
sobald der Präsident eine Rede an die Nation hielt. Auch dieses Unternehmen
war ein Schlag ins Wasser gewesen.
"Schafe haben ihren eigenen Willen, auch wenn die meisten Leute das nicht glauben
wollen", hatte der Tierarzt gesagt, als Nektarios mit dem Tier vorbeigekommen
war, um seine Sehkraft überprüfen zu lassen.
Nun saß Nektarios in seinem Lehnstuhl und betrachtete sein Spiegelbild auf der
dunklen Mattscheibe. Neben ihm saß Homer friedlich auf der Stange in seinem
Käfig. Seit seine Nichte abgereist war, kam Nektarios das Haus kleiner vor.
Ihm fiel auf, dass er beide Wände gleichzeitig berühren konnte, wenn er die
Arme ausstreckte, und dass er mit dem Kopf an die von der Decke hängende Glühbirne
stieß, wenn er sich zu voller Größe aufrichtete - beides Zeichen, dass seine
Fantasie langsam versiegte. Er setzte seine Anstrengungen fort, auch wenn der
alte Schwung passé war. Eines Abends schließlich hörte der Papagei zu sprechen
auf und begann, seinem Herrn Samenhülsen ins Gesicht zu spucken.
"Jetzt ist endgültig Schluss!" sagte Nektarios wütend. "Morgen bringe ich dich
dahin zurück, wo du hergekommen bist. Und wenn sie dich nicht zurückhaben wollen,
stopfe ich dich aus wie einen
Pharao."
Mitten in der Nacht wachte Nektarios auf und stellte fest, dass er in seinem
Lehnstuhl eingeschlafen war. Im Dunkel sah er zwei Augen, in denen sich das
Licht des Mondes spiegelte. Er hielt den Atem an und lauschte. Der Papagei schwafelte
vor sich hin.
"Der kann ja sogar reimen!" murmelte Nektarios schließlich mit bebender Stimme.
Der Papagei rezitierte ein Kindergedicht, das Nektarios noch nie gehört hatte.
Als er mit dem Gedicht fertig war, fing er gleich mit dem nächsten an. Als er
noch ein drittes aufgesagt hatte, schnellte Nektarios aus seinem Stuhl hoch.
Er hatte dem Papagei jedenfalls keines der Gedichte beigebracht. Es gab nur
eine einzige Erklärung.
"Ich weiß nicht, wie ich es zustande gebracht habe", murmelte Nektarios, "aber
ich habe etwas viel Besseres als einen Übersetzer aus ihm gemacht - einen Dichter!"
In den folgenden Tagen fand er heraus, dass der Papagei noch viel mehr
Kindergedichte
verfasst hatte.
"Er muss in seiner Freizeit an ihnen gearbeitet haben", versuchte Nektarios
sich an einer Erklärung.
Er geriet in Ekstase. Nach Jahren der Fehlschläge waren seine Träume endlich
wahr geworden. Endlich war es ihm gelungen, ein Tier so zu dressieren, dass
es mehr bewerkstelligen konnte als bloß ein hübsches Kunststück. Seine Gedanken
drehten sich nun um die Früchte seiner Mühen, und so manche Nacht schlief er
lächelnd am Küchentisch ein, nachdem er wieder einmal überschlagen hatte, was
es bringen würde, die Menschen auf einer Tournee durchs Land mit den Darbietungen
des Papageis zu ergötzen.
An dem Tag, als er im Rathaus kündigen wollte, wachte Nektarios morgens auf
und musste feststellen, dass der Papagei sterbenskrank geworden war. Der Vogel
versuchte sich auf seiner Schaukel zu halten, doch waren seine Beine so schwach,
dass er ein ums andere Mal kopfüber auf den dungübersäten Boden seines Käfigs
fiel.
"Filho daputa!" krächzte er und versuchte es erneut.
Kalter Schweiß perlte über Nektarios' Stirn. In der Hoffnung, dass es sich nur
um ein Papageienfieber handelte, eilte er mit dem Vogel zum Tierarzt. Der Doktor
senkte den Stirnspiegel über sein Auge. Homer sah ihn mit glasigen Augen an
und schenkte ihm das, was einem Lächeln mit Schnabel wohl am nächsten kam, ehe
er ihm ein Gedicht vorsang.
"Der Vogel ist bekifft", diagnostizierte der Arzt alsbald.
Die Hanfsamen waren schuld; dass Homer zum Dichter geworden war, lag schlicht
daran, dass er einer Überdosis an Halluzinogenen und Klassikern ausgesetzt worden
war, dachte Nektarios. Der Tierarzt kratzte sich am Kopf und blickte Nektarios
ungläubig an.
"Dichter? Das sind doch bloß Kinderreime."
Der Papagei sagte das nächste Gedicht auf.
"Ja, natürlich", sagte der Tierarzt. "Meine Tochter ist völlig verrückt nach
diesen Reimen."
Nektarios errötete, und mit einem Mal fiel die Augenbinde seiner unkontrollierten
Einbildungen von ihm ab.
"Der Fernseher!" rief er aus.
Die bittere Wahrheit fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Er sah alles deutlich
vor sich, seine Nichte, wie sie vor dem Fernseher saß und all die Kindersendungen
verfolgte, den Papagei, der seinen Blick ebenfalls auf den Bildschirm richtete,
derweil er gleichzeitig unermüdlich die griechischen Dichter rezitierte, und
sich selbst, Nektarios, den Dresseur, die Tüte mit den Vogelsamen in der einen
und die Odyssee in der anderen Hand, ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht.
Nektarios war gerade ein paar Häuserblocks von der Tierklinik entfernt, als
er stehenblieb und den Vogelbauer auf dem Bürgersteig abstellte. Im Käfig wurde
der Papagei langsam wieder nüchtern. Nektarios öffnete die kleine Drahttür,
erhob sich wieder und machte sich postwendend von dannen. Er ging schnell; der
Zug zum Dorf fuhr bald ab.
(Aus "Kleine Gemeinheiten" von Panos
Karnezis.
Übersetzt von Sky Nonhoff.)
"Verdammt!" brachte Pater Gerasimo
hervor. "Der Jüngste Tag ist gekommen." Als das kleine namenlose griechische
Dorf, in dem diese neunzehn miteinander verknüpften Geschichten spielen, von
einem Erdbeben heimgesucht wird, ist dies für den verzweifelten Pater der
unwiderlegbare Beweis für den himmlischen Zorn, der angesichts der vielen
kleinen und großen
Sünden seiner gottlosen Schäfchen nun auf sie alle
herabkommt.
Das Leben auf dem Land aber ist hart, für Mensch und Tier, und
vom Bahnwärter über den Bürgermeister bis hin zum Barbier oder zur Hure: keiner
bleibt von den Katastrophen der verschiedensten Art verschont. Da bleibt die ein
oder andere Schandtat nicht aus, ob nun aus Habgier oder Liebe begangen. Von
Zeit zu Zeit kommen auch Besucher in das dem Untergang geweihte Dorf am Ende der
Welt: ein König im Exil, ein Bischof, der vorgibt, Wunder bewirken zu können,
ein Zigeunerzirkus mit einem Zentaur, eine exotische Vogelhändlerin, Sänger,
Gewichtheber und handelsreisende Gauner.
Und am Ende ist es nicht der
göttliche Zorn, der die Zerstörung bringt, sondern, wie so häufig, der Mensch
höchstselbst ... (dtv)
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