Juri Rytchëu: "Gold der Tundra"
Was
sollen Menschen empfinden, denen man das irdische Glück, eine
lichte Zukunft versprochen, denen man eingeredet hatte, sie lebten in
der allergerechtesten Gesellschaft, in einer freundlichen Welt, die man
dann aber dem Schicksal preisgegeben hatte? Die man zuerst ihrer
Vergangenheit losgerissen und danach ihrer Zukunft beraubt hatte?
(Seite 169)
Eine Reise in eine geografisch und literarisch unbekannte
Region
Juri Rytchëus Roman von der Tschuktschenhalbinsel, dem
äußersten Nordosten Sibiriens, ist schnell
nacherzählt: Susan Canishero und Robert Carpenter, ein
Geschwisterpaar aus Alaska, besuchen Anfang der Neunzigerjahre das Land
auf der anderen, der sowjetischen Seite der Bering-Straße.
Dort lebte ihr Großvater als geachteter Händler, bis
ihn die Kommunisten als Kapitalisten vertrieben. Susan deutet eine der
Zeichnungen aus seinem Nachlass als Hinweis auf einen Goldschatz, den
er bei seiner fluchtartigen Abreise zurücklassen musste.
Humanitäre und ökologische Programme der
amerikanischen Regierung, die Sanierung einer schimmelpilzverseuchten
Bäckerei und die Beobachtung der großen
Meeressäuger
in der Bering-Straße sind Anlass
für Reisen, um die verblassten Spuren ihres Vorfahren zu
erforschen.
Doch ob Susan und Robert den Goldschatz finden oder nicht, wird bald
zur Nebensache. Der Roman zeigt keinen einheitlichen
Erzählstrang, in den Vordergrund treten Schilderungen des
Lebens der Tschuktschen, Eskimos, versprengter Inguschen aus dem
Kaukasus und jener Russen, die hofften, im Polargebiet schneller zu
Reichtum und Macht zu kommen als in den westlichen und
südlichen Gebieten des riesigen Landes. Im Laufe der vierzehn
Kapitel lernt der Leser dann eine fast unüberschaubare Zahl an
Personen dieser Region kennen, erfährt vom Problem des
Alkoholismus und der Korruption, die das Leben der Zugewanderten und
Einheimischen gleichermaßen lähmen, liest von
historischen und ökologischen Fehlentscheidungen der
Zentralmacht und den Reaktionen auf den Augustputsches von 1991 im
14000 km entfernten Moskau.
Der Reiz des Buches liegt nicht in der Geschichte der eher blassen
Charaktere Susan und Robert, auch nicht in der tragischen Liebe Roberts
zu einer einheimischen Krankenschwester, sondern in den lebendigen und
eindrucksvollen Einsichten, die sich dem Leser ins frühere und
aktuelle Leben der indigenen Völker Nordostsibiriens bieten.
Der Autor Juri Sergejewitsch Rytchëu wurde 1930 als Sohn eines
Jägers in Tschukotka geboren. Seit 1953
veröffentlicht er in tschuktschischer und russischer Sprache
zahlreiche Romane und Erzählungen über das Leben der
Bevölkerung des russischen Fernen Ostens. Dabei wandelte er
sich in den Achtzigerjahren von einem regimetreuen Vertreter des
sozialistischen Realismus, der die Überwindung der
Rückständigkeit indigener Völker durch die
Sowjetmacht pries, zu einem fortschrittskritischen Verfechter
einheimischer Traditionen. Er ist der heute einzige Literat der
indigenen Völker des russischen Nordens, der auch
international bekannt ist.
Die deutschsprachige Leserschaft in eine geografisch und literarisch
fast völlig unbekannte Region zu führen,
unterstützt auch ein umfangreiches Glossar am Ende des Buches.
Dach beim Versuch, die Geschehnisse des Buches auch mit dem Finger auf
einer Landkarte nachzuvollziehen, findet man diese Gegend meist nur an
den äußersten Rändern
herkömmlicher Atlanten; so erwacht auch der Wunsch nach einer
Landkarte, auf der man die enormen Entfernungen einschätzen
und die kleinen Siedlungen der Region situieren kann. Da das Buch
ohnehin mehr einer guten Reportage gleicht als einem Roman,
wären auch Fotos und als Vorwort eine sachliche
Einführung in die Kultur der Tschuktschen und Eskimos, die
in
Sibirien nicht Inuit genannt werden, von großem Vorteil.
(Wolfgang Moser; 09/2006)
Juri
Rytchëu: "Gold der Tundra"
(Originaltitel "Čukotskij Anekdot")
Aus dem Russischen von Kristiane Lichtenfeld.
Unionsverlag, 2006. 266 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Ein weiteres Buch des Autors:
"Polarfeuer"
Der Kanadier John MacLennan hat sich für ein Leben bei den Tschuktschen
entschieden. Eine Schamanin hat ihm nach einem Unfall das Leben gerettet,
seither hat er diese uralte Kultur kennen- und lieben gelernt. Aber die "Zivilisation",
die er hinter sich gelassen hat, um eine erfüllte Zukunft bei den Tschuktschen
zu finden, holt in ganz unerwartet wieder ein: Der äußerste Osten Sibiriens
wird von den Umwälzungen der Russischen Revolution erfasst. John McLennan gerät
in den Strudel der Weltgeschichte, sein Lebensglück steht auf dem Spiel.
In der Sowjetunion konnte "Polarfeuer" nur zensiert erscheinen. Für
die deutsche Übersetzung hat Juri Rytchëu nun die ursprüngliche Fassung
wieder hergestellt. (Unionsverlag)
Buch bei amazon.de bestellen