Christos Tsiolkas: "Nur eine Ohrfeige"


"Was eine Ohrfeige alles auslösen kann ..."

Christos Tsiolkas' Roman, der auch für den "Man Booker Prize" nominiert war, gewinnt seine ganze Energie aus einer Ohrfeige, die ein Erwachsener dem Kind von Bekannten auf einem Grillfest mit Verwandten und Freunden in einem Vorort Melbournes gibt. Die Anwesenden beim Barbecue sind zum Großteil griechische Einwanderer der ersten, zweiten oder dritten Generation, sowie Anglo-Australier und Australier indischer Abstammung.

Acht Stimmen erzählen diesen Roman aus ihren jeweils eigenen Perspektiven, die unterschiedliche Aspekte der Geschichte beleuchten und den Erzählstrang so weiterentwickeln. Auch wenn nicht jede neue Stimme am vorangegangen Schnittpunkt einsetzt, ergibt sich doch eine Kontinuität, die durch eine verfolgbare zeitliche Abfolge unterstützt wird.

Bald wird klar, dass die Ohrfeige nur der Auslöser für die schon lange brodelnden Probleme dieser Gemeinschaft ist. Die Ehe von Hector und Aisha, die nicht so perfekt ist, wie sie aussieht, läuft Gefahr, auseinanderzubrechen, und die Probleme zwischen Hectors griechischen Eltern und ihrer Schwiegertochter werden immer offensichtlicher. Der aus dem fehlenden Verständnis für andere Mentalitäten wachsende Rassismus ist ein weiterer Eckpfeiler dieses spannenden Romans.

Rosie und Gary, die einzigen Anglo-Australier in dieser Gruppe, sind die frustrierten Eltern des geschlagenen Kindes Hugo. Obwohl sie versuchen, alles richtig zu machen, laufen sie einem Hirngespinst nach und erziehen ihr Kind, das mit fast vier Jahren noch immer gestillt wird, komplett falsch. Dass sie zusätzlich noch die einzige Familie ohne Eigenheim sind, macht die Sache nicht besser. Rosie klammert sich in ihrer Verzweiflung an ihr Kind, während Gary seinen Frust mit Alkohol wegzuspülen versucht.

Seitensprünge, häusliche Gewalt, harte Worte, Sex und Drogen, Glamour in Form der mit einem jungen Seifenopernstar an ihrer Seite ausgestatteten und erfolgreichen Drehbuchautorin Anouk, Betrug und die Wichtigkeit der Familiengemeinschaft sind nur einige der Zutaten, die diesen Roman zu einem unkonventionellen, bösen, teilweise misanthropischen und wirklich guten Leseerlebnis werden lassen.

Geflucht wird viel in diesem Roman, eine Art des Fluchens, die möglicherweise auf australischen Barbecues ganz in Ordnung ist. Gestört hat das den Rezensenten nicht. Die nicht allzu raren Sexszenen sind teilweise doch recht unbeholfen und weit von wirklicher Erotik entfernt, was aber andererseits sehr überzeugend wirkt, da das so genau zu diesen Protagonisten passt.

Christos Tsiolkas' Konzept ist mutig und geht voll auf. Seine männlichen Protagonisten sind, teilweise sogar extrem, unsympathisch, alle begehen Handlungen und Fehler, die sie eigentlich menschlich disqualifizieren, auch wenn sie sich im Laufe des Romans weiterentwickeln. Ich glaube, ich habe vor "Nur eine Ohrfeige" noch nie ein Buch gelesen, in dem es nicht wenigstens eine durchgehend gute Figur gegeben hätte. Wenn man sich daran nicht stört, kann man dieses Buch wirklich genießen.

Obwohl sich "Nur eine Ohrfeige" hie und da wie eine literarische Seifenoper liest, ist dieses Buch ein sehr komplexes, perfekt konzipiertes Sitten- und Gesellschaftsbild, spannend zu lesen, ein richtiger Schmöker. Ein Unterhaltungsroman im besten Sinne des Wortes.

(Roland Freisitzer; 03/2012)


Christos Tsiolkas: "Nur eine Ohrfeige"
(Originaltitel "The Slap")
Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner.
Klett-Cotta, 2012. 510 Seiten.
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Christos Tsiolkas, geboren 1965 im australischen Melbourne als Sohn griechischer Immigranten, arbeitet u.A. für das Theater und Fernsehen. Mit "Nur eine Ohrfeige" legte er sein bislang erfolgreichstes Buch vor, das auch über Australien hinaus für Furore sorgte und mit dem "Commonwealth Writers' Prize" bedacht wurde sowie für den "Man Booker Prize" nominiert war. Tsiolkas lebt in Melbourne.

Leseprobe:

HECTOR


Hector hatte die Augen noch geschlossen, als er aus einem Traum erwachte, an den er sich schon nicht mehr erinnern konnte. Müde streckte er die Hand aus. Ah, gut. Aisha war schon auf. Er ließ genüsslich einen fahren und vergrub das Gesicht im Kissen, um nicht den modrigen Gestank einatmen zu müssen. Ich habe keine Lust, in einer Männerumkleide zu schlafen, beschwerte Aisha sich jedes Mal, wenn er sich versehentlich in ihrer Gegenwart vergaß. Was allerdings nur selten vorkam. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, sich nur noch gehenzulassen, wenn er allein war. Dann furzte und pinkelte er unter der Dusche, rülpste im Auto und genoss es, wenn sie auf einer Tagung war, sich das ganze Wochenende lang weder zu waschen noch die Zähne zu putzen. Nicht dass seine Frau besonders prüde war, sie ertrug nur offenbar die Ausdünstungen des männlichen Körpers nicht. Er selbst hätte kein Problem damit, in einer Mädchenumkleide einzuschlafen, umgeben vom feuchten, berauschenden Duft süßer junger Mösen. Noch im Halbschlaf drehte er sich auf den Rücken und schob das Laken beiseite. Süße junge Mösen. Er hatte es laut ausgesprochen.

Connie.
Bei dem Gedanken an sie war er endgültig wach. Aisha würde ihn für pervers halten. Doch das war er nicht. Er liebte Frauen ganz einfach. Egal ob jung oder alt, ob sie gerade erst erblühten oder schon anfingen zu verwelken. Er kam sich dabei so eitel vor, dass es ihm schon fast peinlich war, aber er wusste nun mal, dass die Frauen auch ihn liebten. Frauen liebten ihn.
Aufstehen, Hector, sagte er sich. Zeit, den Tag zu beginnen.
Der Tag begann mit einer Reihe von Übungen, die er jeden Morgen absolvierte. Das Ganze dauerte nicht länger als zwanzig Minuten. Manchmal, wenn er mit Kopfschmerzen oder einem Kater aufwachte, oder beidem zusammen, oder einer Unlust, die offenbar tief aus seinem Inneren kam, war er schon nach zehn Minuten fertig. Es ging ihm nicht so sehr um das strenge Einhalten eines Ablaufs, sondern eigentlich nur darum, überhaupt zu trainieren - selbst wenn er krank war, zwang er sich dazu. Er stand auf, schnappte sich eine Jogginghose, schlüpfte in das T-Shirt, das er am Tag zuvor getragen hatte, und fing mit neun verschiedenen Dehnübungen an, bei denen er jeweils bis dreißig zählte. Dann legte er sich auf den Teppich und machte hundertfünfzig Sit-ups und fünfzig Liegestütze. Am Ende dann nochmal drei Dehnübungen. Danach ging er in die Küche, stellte die Kaffeemaschine an, lief zu dem kleinen Laden am Ende der Straße und kaufte die Zeitung und eine Schachtel Zigaretten. Zurück zu Hause goss er sich einen Kaffee ein, ging nach draußen auf die Veranda, zündete sich eine Zigarette an, schlug den Sportteil auf und begann zu lesen. In diesem Moment, die Zeitung vor sich aufgeschlagen, mit dem bitteren Kaffeegeruch in der Nase und dem ersten Zug von der Zigarette, waren ihm alle Nöte, die blöden Nichtigkeiten, der Stress und die Sorgen des vorigen oder kommenden Tages egal. In diesen Momenten, vielleicht sogar nur dann, war er glücklich.
Hector hatte schon als Kind festgestellt, dass die einzige Methode, gegen das erdrückend wohlige Gefühl des Schlafes anzukommen, darin bestand, mit Vollgas hindurchzupreschen, die Augen aufzureißen und aus dem Bett zu springen. Aber diesmal blieb er liegen und ließ sich sanft von den Geräuschen seiner Familie wecken. Aisha hatte in der Küche einen Klassiksender eingestellt, und Beethovens Neunte drang durchs ganze Haus. Aus dem Wohnzimmer hörte er das elektronische Piepen und blecherne Nachhallen eines Computerspiels. Einen Augenblick lang lag er regungslos da, warf dann das Laken zurück und blickte auf seinen nackten Körper. Er hob das rechte Bein und ließ es zurück aufs Bett fallen. Heute ist es so weit, Hector, sagte er sich, heute ist es so weit. Er sprang hoch, zog sich einen roten Sportslip und ein Unterhemd an, ging ins Bad, pinkelte lange und laut und stürmte in die Küche. Es roch nach Kaffee. Aisha schlug gerade ein paar Eier in die Pfanne. Er küsste ihren Nacken. Mitten im Crescendo schaltete er das Radio aus.
"He, ich wollte das hören."
Hector ging einen Stapel CDs durch, die neben dem CD-Player lagen. Er nahm eine von ihnen aus der Hülle, legte sie ein und spielte einen Titel nach dem anderen an, bis er das richtige Stück gefunden hatte. Als die ersten Töne aus Louis Armstrongs Trompete erklangen, lächelte er. Er küsste seine Frau noch einmal in den Nacken.
"Heute muss ich Satchmo hören", flüsterte er ihr zu. "Und zwar den 'West End Blues'."
Er führte seine Übungen langsam aus, atmete dabei gleichmäßig und zählte bis dreißig. Nach jedem Durchgang lauschte er der Musik, der sich langsam steigernden Sinnlichkeit. Bei den Sit-ups konzentrierte er sich auf die Spannung der Bauchmuskeln, und während der Liegestütze auf das Ziehen in seinen Trizepsen und Brustmuskeln. Er wollte seinen Körper spüren, wollte sich lebendig, stark und sicher fühlen.
Als er fertig war, wischte er sich den Schweiß von den Brauen, hob das Hemd, das er am Abend zuvor einfach hingeworfen hatte, vom Boden auf und schlüpfte in seine Sandalen.
"Willst du was vom Laden?"
Aisha lachte. "Du siehst aus wie ein Penner."
Sie ging nie ohne Make-up und ordentliche Kleidung aus dem Haus. Nicht dass sie sich auffällig schminkte, das hatte sie nicht nötig - es war einer der Punkte, der ihn von vornherein an ihr angezogen hatte. Für Mädchen, die viel Make-up, Puder und Lippenstift trugen, hatte er nie etwas übriggehabt. Er fand das nuttig, und obwohl er wusste, wie lächerlich seine konservative Einstellung war, konnte er sich doch nicht dazu durchringen, eine stark geschminkte Frau gut zu finden. Egal, wie schön sie in Wirklichkeit war. Aisha brauchte kein Make-up. Ihre dunkle Haut war makellos und geschmeidig, und die großen, tief liegenden, schräg abfallenden Augen leuchteten in ihrem schmalen, perfekt geformten Gesicht.
Hector sah auf seine Latschen runter und lächelte. "Und, darf der Penner dir etwas mitbringen?"
Sie schüttelte den Kopf. "Nee. Aber du wolltest noch einkaufen fahren, oder?"
"Hatte ich wahrscheinlich gesagt."
Sie sah auf die Küchenuhr. "Dann solltest du dich beeilen." Er antwortete nicht. Ihr Kommentar ärgerte ihn, er wollte sich an diesem Morgen nicht beeilen. Er wollte ihn ganz ruhig angehen lassen. (...)

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