Lutz Seiler: "Kruso"
Ein
außergewöhnliches Romandebüt
Der 1963 in Gera/Thüringen geborene Lutz Seiler, der vor
einigen Jahren mit einem erstaunlich faszinierenden Erzählungsband
auch diejenigen Leser auf sich aufmerksam gemacht hat, die ihn nicht
bereits längst als Lyriker geschätzt hatten, hat nun,
mit einundfünfzig Jahren, seinen Debütroman
vorgelegt. Dieser Debütroman heißt "Kruso" und hat,
nicht ganz unerwartet, auch den "Deutschen Buchpreis" gewonnen.
"Kruso" ist definitiv ein außergewöhnliches
Debüt, ein Koloss von einem Roman, der sich unter Anderem auch
den auf der Flucht nach Dänemark vor Hiddensee ertrunkenen
DDR-Bürgern widmet. Er ist zusätzlich ein Abgesang
auf die DDR, ganz ohne Ost-Romantik, ohne Ost-Nostalgie, ganz ohne
Ost-Gefühlsduselei.
"Ja, er hatte Zweifel. Das alles war zu phantastisch,
halbseiden, und er war viel zu nervös. Er konnte die Insel,
weiß Gott, auch wieder verlassen. Oder? Die Terrasse auf dem
Hochufer verschmolz zu einer Art Oberdeck. Langsam löste sich
das Schiff aus der Küste, langsam fuhr es hinaus, die Reise
begann ... Es gab vier Frauen und zwei Männer an ihrem Tisch.
Ed wurde angeschaut. Schön. Er schaute zurück. Die
Frau mit den kurzen Haaren und den ungeschützten Oberarmen,
die Frau mit den schmalen, feingliedrigen Händen flach auf dem
Tisch (als wolle sie ihn streicheln oder beruhigen), dann die Frau
gegenüber, mit dem Fuß - zwischen seinen Beinen?
Nein, unmöglich, dann der Mann mit dem Jesusgesicht und dem
überlangen Haar ..."
Nachdem Edgar Bendlers (ob hier eine Anspielung auf den
berühmten Ostap Bender von Ilf & Petrow angedacht
war?) Freundin von der Straßenbahn überfahren wird (Bulgakow
lässt grüßen?), schmeißt der
Germanistik-Student alles hin und steigt aus. Es ist der letzte Sommer
der DDR. Er fährt nach Hiddensee, um dort Saisonkraft zu
werden. Dort angekommen, stellt er fest, dass er sich unter ziemlich
schrägen Typen befindet. Vor allem auch der
äußerst geheimnisvolle Deutschrusse Kruso, der die
Rolle eines Inselgurus eingenommen hat, um den sich alle hier
Gestrandeten in Scharen sammeln. Man isst gemeinsam, man trinkt
gemeinsam, alles ist Ritual, sogar das Abwaschen im Restaurant, wo der
auswendig Trakl
rezitierende Edgar mittlerweile Tellerwäscher geworden ist.
Tellerwäscher und Krusos Freitag, wenn man so will. Hier, auf
Hiddensee, gibt man sich in der Bruderschaft der intellektuellen
Freundschaft hin. Was zu Beginn recht interessant und spannend beginnt,
verkommt jedoch mit der zunehmenden Seitenanzahl immer stärker
zu Hippie-Aussteiger-Prosa, gewürzt mit Sozial-Realistischem
Beigeschmack.
Lutz Seilers Prosa ist im Großen und Ganzen
überdurchschnittlich schön, man spürt, und
das ist sicherlich nicht negativ gemeint, in fast jedem Satz den
Lyriker. Durchzogen ist der Roman auch von unzähligen
Anspielungen, intellektuell-konstruierten Spielchen, die für
den einen oder anderen weniger DDR- oder Kommunismus-Erprobten
wahrscheinlich nicht immer nachvollziehbar sein werden.
Fast alles ist schön konstruiert und doch sehr sperrig, so
sehr manchmal, dass einfache Gedanken zu mühevollen
Satzkonstruktionen verkommen, deren Aussage man erst nach dem dritten
Anlauf stirnrunzelnd verstanden hat. So kommt in diesem fast 500 Seiten
starken Roman fast nie ein wirklicher Lesefluss zustande, was dem wie
auch immer gearteten Genuss, und ein solcher soll die Lektüre
eines Romans ja am Ende doch irgendwie sein, eigentlich nicht hilfreich
entgegenkommt. Kaum kommt ein kleiner Wind auf, zieht Seiler das Segel
ein, ja keine Fahrt voraus, scheint die Devise gewesen zu sein.
Wirklich grandios ist der Roman in den Momenten, in denen Lutz Seiler
die herbe Inselwelt Hiddensees beschreibt, da kann man sich als Leser
sinnlich verlieren, das ist gekonnt und überzeugend. Immer
wieder jedoch verliert sich der Autor in den Runden der Bruderschaft,
sodass man sich bald fragt, ob das, was hier debattiert,
erzählt, in den Raum gestellt wird, tatsächlich einen
fast fünfhundert Seiten langen Roman tragen kann.
"Ed marschierte. Er spürte es auf den Armen, der
Brust, überall auf der Haut - etwas wollte explodieren. Die
Begierde war jetzt außen, und er marschierte geradewegs durch
ihren wund leuchtenden Raum, so wund und empfindlich, dass alles
schmerzte, was er berührte und alles, was er nicht
berührte. Das Unterholz schlug ihm ins Gesicht.
Geäst, das unter seinen Füßen zerbrach, der
Wald roch faulig."
Eingeschoben immer wieder Saufgelage, die man fast als intellektuell
stilisiert pubertär bezeichnen könnte, langweilige
und für den Verlauf des Romans unwesentliche
Rückblenden, in der Struktur des Romans absolut nicht
notwendige Wiederholungen, sowie Stilfettnäpfchen und
Absurditäten, die in der Schublade mit der Aufschrift "nicht
verwenden" hätten bleiben sollen. Wie z.B. eine Szene, in der
der Protagonist einem Fuchs ein ihm besonders in Erinnerung gebliebenes
Fellatio-Erlebnis schildert. Dass er den Fuchs dann auch noch "alter
Racker" nennt, ist dann auch schon fast egal.
Nichtsdestotrotz, zwischen Fettnäpfchen und Langeweile blitzen
immer wieder faszinierende Momente auf, die einen kurz vergessen
lassen, dass man sich soeben noch maßlos geärgert
hat. Die immer lauernde angedeutete und vermeintlich im Hintergrund
lauernde Spannung, die in vielen Ansätzen wirklich
durchschimmert, bricht leider nie in den Sturm aus, den diese
literarische Inseldichtung möglicherweise gebraucht
hätte, um den willigen Leser auf eine tatsächlich
unvergessliche Reise mitzunehmen. DDR, hin oder her, die Insel ist es,
die im Mittelpunkt steht, die Figuren rundherum sind ebenso blass
bleibendes Beiwerk wie die letzten Tage der DDR.
"Kruso" ist ein Roman, den der Rezensent äußerst
gerne mit uneingeschränktem Beifall bedacht hätte,
ein Roman, dessen Grundidee und Kulisse prinzipiell wunderbar
sympathisch wären, und ein Roman, dessen Prosa in den besten
Momenten sicherlich in der ersten Reihe der deutschsprachigen
Gegenwartsliteratur steht. Allerdings stimmen Ambition, Können
und Resultat in der notwendigen Konstellation nicht überein.
Zumindest nach Meinung des Rezensenten.
Fazit:
Lutz Seiler ist ein wirklich beachtlicher und
äußerst interessanter Schriftsteller. "Kruso" leider
kein wirklich gelungener Roman.
(Roland Freisitzer; 10/2014)
Lutz
Seiler: "Kruso"
Suhrkamp, 2014. 483 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen