Salman Rushdie: "Quichotte"


Zur Freude seiner großen Leserschaft entpuppt sich Salman Rushdie als einer jener Autoren, die älterwerdend nicht weniger, sondern eher noch fleißiger schreiben, und das, ohne dabei ein beachtliches erzählerisches Niveau zu unterschreiten. Besonders lohnend ist Rushdie-Lektüre dann, wenn er, wie in vorliegendem Roman, Themen, die ihn selbst brennen, aufgreift und verarbeitet, im konkreten Fall die Situation von sogenannten "Braunen", wie man in den USA Menschen mit nicht ganz heller Hautfarbe mitunter nennt, Menschen, die sich, so eine Aussage des Buches, häufig mit rassistischen und sonstigen Vorurteilen, Übergriffen und Repressalien herumschlagen müssen.
Außerdem könnte der mit dem Älterwerden einhergehende wachsende Druck, seinen Frieden mit der Welt, zumindest der privaten, zu machen, in dem Roman seine Spuren hinterlassen haben.

Er spielt auf zwei Erzählebenen, welche diesmal die magisch-fantastischen und die realistischeren Elemente säuberlich getrennt halten. Bei dem titelgebenden Protagonisten handelt es sich um einen älteren, schon lange in den USA lebenden Inder, der eigentlich Smile (ein anglisierter Ismael) heißt und zu Beginn von seinem Chef und ebenfalls das Lächeln im Namen (sogar im Firmennamen) tragenden Cousin, dem Besitzer eines Farmazeutikimperiums, mit großzügiger Abfindung in Pension geschickt wird - für delikate private Einzelfälle möge er sich indessen weiterhin bereithalten.
In dem Frischpensionierten wohnt derweil eine romantische Seele, überdies ist er vom ständigen Fernsehen schon ein wenig wirr im Schädel, sodass er ein schier unmögliches Unterfangen beginnt, sich halsüberkopf in eine berühmte, ebenfalls aus Indien stammende Talkshowmoderatorin verliebt und zu dem Beschluss kommt, unter dem passenden Pseudonym "Quichotte" (französisch wegen Massenet) diese zu erobern und, um zuvor den gravierenden Unterschied des Alters, Reichtums und Bekanntheitsgrads einigermaßen auszugleichen (so verrückt, diese Realitäten auszublenden, ist er nämlich auch wieder nicht), die Erwählte langsam mit stilvollen, wenn auch etwas altmodischen Liebesbriefen auf sein Erscheinen vorzubereiten und sich derweilen auf eine sogenannte Quest zu begeben, eine mystische Pilgerfahrt durch sieben mystische Täler bzw. die halben Vereinigten Staaten zu unternehmen um sich seiner großen Liebe, seiner Salma heißenden Dulcinea, würdig zu erweisen.

Anders als bei Cervantes ist nun ein (altes) Auto das natürliche Fortbewegungsmittel, der Sancho, der diesem Quichotte zugeteilt wird, ist ihm nicht Diener, sondern der Sohn, den er sich leidenschaftlich gewünscht, den er mit heftiger Einbildungskraft und der Hilfe einer prächtigen Sternennacht parthogenetisch, wie es heißt, gezeugt hat. Ganz so treu wie der spanische Sancho ist dieser allerdings nicht, dürstet er doch, sobald er einigermaßen scharfe Konturen (zu Beginn ist er nämlich noch ein wenig blass und durchscheinend) gewonnen, nach Selbstständigkeit und geht bald eigenen Geschäften, insbesondere einer eigenen Liebe nach.
Dennoch, was die beiden auf ihrer Fahrt durch die Staaten und einmal sogar bei einem längeren Aufenthalt in New York an Schikanen und Gehässigkeiten seitens weißer Amerikaner so alles erfahren (z.B. wiederholt die stupide Frage, wo sie denn ihre Bärte und Sprengstoffgürtel versteckt hielten), bringt sie einander näher. Empörung und Entsetzen, Eingeschüchtertheit und Depression seitens der Figuren; nüchtern, ohne dabei allerdings irgendwelche Hintergründe zu beleuchten, wird die weite Verbreitung dieser speziellen Mentalität in den USA festgestellt. Die verzweifelte Frage einer Indischstämmigen, die gerade einen Familienangehörigen durch den rassistisch motivierten Amoklauf eines Betrunkenen verloren hat, ob denn hier kein Platz für sie wäre, steht stellvertretend für die vielen bitteren Gefühle in dem Land.

Solches mitansehen müssend und darüberhinaus mit manch eigenen wiederauftauchenden Erinnerungen konfrontiert, kurvt Quichotte mit seinem großen Ziel vor Augen durch die sieben Täler. Der Kontakt mit Salma wird dann allerdings beinahe allzu irdisch dadurch bewirkt, dass die medikamentenabhängige Fernsehkönigin sehr an dem neuesten Produkt aus dem Imperium des Dr. Smile, einem sublingual zu verabreichenden, "eigentlich" nur für von unerträglichen Schmerzen geplagte Sterbende ersonnenen Fetanylhammer interessiert ist. Es sei nur noch verraten, dass dieser Haupterzählstrang (ebenso wie der sich separierende von Sancho übrigens) recht unerwartet endet.
Drei weitere für diese Geschichte wichtige Personen: eine Halbschwester Quichottes, genannt das menschliche Trampolin, welche Mikrokreditvergaben an arme indische Frauen organisiert und dem unverhofft aufgetauchten Neffen ohne sichtbaren Erfolg einen Vortrag über die Lümmelhaftigkeit südasiatischer (wozu offenbar auch Mumbai zählt) Männer hält, außerdem ein dem Trampolin von früher bekanntes Astrofysikgenie namens Evel Cent, das sich insbesondere mit der Suche nach Paralleluniversen bereits einen Namen gemacht hat (und ein Vermögen, was derzeit anscheinend unbedingt erwähnt werden muss, Dr. Smile etwa hat gerade eben die erste Milliarde geschafft), und schließlich eine dem Junior diverse Hilfeleistungen zukommen lassende italienische Grille namens Grillo; e perché no? - schließlich hat Rushdies Sancho (übrigens der Einzige, den der Autor Selbstgespräche in der ersten Person führen lässt) auch was von Pinocchio.

Annähernd die Hälfte des Buches wird einer Geschichte auf Metaebene eingeräumt, der Geschichte des an "Quichotte" schreibenden, aus dem alten Bombay stammenden Schriftstellers namens "Bruder", bisher Autor eher mittelmäßiger Agententhriller, doch nun, mit zunehmendem Alter und bei zweifelhafter Gesundheit von dem Wunsch beseelt, auch einmal etwas Gehaltvolleres, stärker seine Lebenserfahrungen Berührendes zu schreiben. Damit wird er unvermeidlich zu einer realistischeren Spiegelung seines fernsehversehrten Helden (und umgekehrt), mit welchem er außerdem die zerrütteten Familienverhältnisse, die er sehr gerne wieder bereinigt hätte, gemeinsam hat. Einst hat er seiner "Schwester" genannten Schwester, Londoner Spitzenanwältin, großes Unrecht zugefügt, und seinen Sohn, nach dem er sich sehnt, hat er zwar auf die korrekte Art gezeugt, danach aber vernachlässigt und so verloren - Aufenthaltsort und Tätigkeit des Juniors ("Sohn" genannt) zunächst unbekannt, erst geheimdienstliche Verwicklungen werden mehr Licht in die Sache bringen.

Vielleicht ging es dem Schriftsteller bei der Einführung dieser Metaebene auch um die richtige Einstellung, um über die eigene Welt schreiben zu können, ohne es gänzlich autobiografisch anzugehen, vielleicht wollte er ein paar Einblicke in den kreativen schriftstellerischen Arbeitsprozess gestatten, jedenfalls dient ihm dieses wechselseitige Einanderspiegeln von Realität und Fiktion als Anlass, sich verschiedenste Gedanken über die Wirklichkeit zu machen. Und wenn der Schriftsteller und sein Sohn auf den Spuren Quichottes und Sanchos eine Fahrt durch die ländlichen USA unternehmen und dabei in sehr ähnlichen Situationen höchst unterschiedlich agieren, kann so recht deutlich auf Tugenden wie Zivilcourage und ein aufmerksames Bewusstsein, welches sich den Raum für Alternativen zu geben überhaupt imstande ist, hingewiesen werden.

Ein wichtiges Nebenthema ist die Rolle der Farmaindustrie, allerdings nicht deren skrupellose Vorgehensweisen bei Patentierungen (das wäre möglicherweise zu unamerikanisch). Der Missbrauch von Medikamenten war für den Autor, der selbst eine Schwester in jungen Jahren solcherart verloren hat, Gegenstand genauer, in den Roman einfließender Recherchen, über die Methoden, mit denen die Firmen Ärzte für ihre profitgierigen Zwecke einspannen, ebenso wie über die sehr weite Verbreitung von Medikamentenmissbrauch in der us-amerikanischen crème. Beispiele von Schauspielern, Sängern und anderen Prominenten gibt es ja zuhauf, und Rushdie ist nicht säumig, neben den liberalen auch die popkulturellen Geschmäcker seiner amerikanischen Leser zu bedienen; regelrecht hollywoodpatriotismustauglich liest sich indes der Ausgang der Agentengeschichte.

Wie der Autor an einer Stelle selber meint, habe er mit "Quichotte" einen pikaresken Roman, einen Schelmenroman, in dem die unterschiedlichsten Elemente ihr Auslangen miteinander finden könnten, geschrieben. Recht europäisch und jedenfalls ein besonderes literarisches Gustostückerl darin ist eine eindringliche, kompakte Prosa-Variation zu Eugène Ionescos Nashörnern (freilich sind es andere Bestien, die hier die verbliebenen Menschen einer Kleinstadt bedrohen). Und einmal mehr wird auch bei dieser Gelegenheit das zugrundeliegende metafysische Thema des Buches, die Frage nach dem Gehalt, den Kriterien, dem Wesen von Wirklichkeit, angeschlagen.

(fritz; 12/2019)


Salman Rushdie: "Quichotte"
(Originaltitel "Quichotte")
Aus dem Englischen von Sabine Herting.
C. Bertelsmann, 2019. 464 Seiten.
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