(...) Mit den Stilleben – »stilles Leben«, das trifft auf Morandis Bilder mehr zu als auf die jedes anderen Malers – wird das Rätsel noch undurchdringlicher und das Staunen im gleichen Maße tiefer. Das »Sujet« nämlich ist hier nicht mehr so reizvoll wie bei den Ansichten der natürlichen Welt, Landschaften oder Blumen, und beschränkt sich auf die wenigen fast bedeutungslosen Gegenstände, die jeder kennt.
Manchmal sind die Farben hier ausgesprochen nüchtern, winterlich, Farben von Holz und Schnee, und sie lassen einen abermals das schöne Wort »Geduld« aussprechen, lassen einen an die Geduld der alten Bauern denken und an die des Mönchs in seiner groben Kutte: die gleiche Stille wie unter dem Schnee oder zwischen den gekalkten Mauern einer Zelle. Die Geduld, die bedeutet, daß man gelebt hat, sich abgeplagt, durchgehalten hat: mit Bescheidenheit, Ausdauer, aber ohne Auflehnung, Gleichgültigkeit oder Verzweiflung; als ob man von dieser Geduld doch eine Bereicherung erwartete; man könnte glauben, sie erlaube einem, sich heimlich durchdringen zu lassen von dem einzigen Licht, das zählt.
Lange Zeit hat Morandi so etwas wie Friese von nebeneinanderstehenden Gegenständen gemalt (fünf oder sechs, manchmal sogar mehr); mit den Jahren hat deren Zahl sich verringert, hat die Zusammenstellung sich immer stärker konzentriert, ist immer überzeugender geworden; als wären die ersten Bilder schon allzu bevölkert, als redeten sie zuviel (unvorstellbar!); als gäbe es hier für den Geist noch zuviel Ablenkung. Jetzt dagegen ist es so, als hätte der Reisende, nachdem er lange durch den Sand gewandert ist, den Brunnen erreicht; den Brunnen, der im Alten Testament »Brunnen des Lebendigen, der mich sieht,« genannt wird; und als gäbe es keinen Grund mehr, auch nur den kleinsten Schritt darüber hinaus zu tun.
Man wird einwenden, eine genauso langsam und überlegt erarbeitete Komposition aus bloßen Flecken ohne den geringsten Bezug zur konkreten Wirklichkeit könnte dasselbe Gefühl von Frieden schenken, denselben »Trost des Reisenden«. Das ist nicht undenkbar – bei Rothko zum Beispiel. Aber daß es uns durch Gegenstände zuteil wird, die, wenn auch nur lose, mit unserem täglichen Leben verknüpft sind, trägt dazu bei, uns vor jedem idealistischen Gedankenflug zu bewahren. Als würden wir daran erinnert, daß ein am Boden gesprochenes Gebet wahrer ist als jedes andere, oder sicherer tröstet.
Unter den spätesten Werken diese Teekanne, allein oder fast allein in der Mitte der Leinwand: Man sieht genau, daß Morandi keinen Umgang mit Platon pflegt, daß es nicht das Wesen, die Idee einer Teekanne ist; vielmehr ihre Erscheinung für eine andere Form von Leben; und auf ihr noch das leise Zittern des Lebens.
Ein andermal möchte man sagen, daß diese Gegenstände erleuchtet sind vom Licht eines Gestirns, welches noch oder schon tief über dem Horizont steht; daß sie erleuchtet sind, ich hätte Lust zu sagen: erhöht, entsühnt von diesem Licht aus unendlicher Ferne.
Ein Tischsegen. So übertrieben das wirken mag, die Jünger von Emmaus kamen mir in den Sinn: obwohl hier weder Brot ist noch Menschenhand noch göttliches Antlitz.
Aber wegen dieses von links einfallenden Lichts mußte ich auch an Gemälde von Vermeer denken, mit ihren jungen Frauen am Fenster, und sogar an die Madonna von Senigallia in Urbino (dazu kommen noch die Blau- und Gelbtöne, die den drei Malern gemeinsam sind). Man möchte glauben, daß Morandi einer Vase, einer Schale, einem Glöckchen aus Zelluloid, die zu einer höchst seltsamen »Sacra conversazione« versammelt sind, die Gnade übertragen hätte, jenes übernatürliche Licht auf sich zu ziehen, das einige Jahrhunderte früher dem Kleid einer jungen Frau, eines Engels oder der Mutter Gottes vorbehalten war. (Morandi als erster hätte das alles zurückgewiesen. Trotzdem: Ich will es nicht aus meinem Kopf verbannen, ich bin nicht völlig grundlos darauf gekommen.)
Je weiter Morandis Kunst fortschreitet in der Entblößung, in der Konzentration, desto stärker bekommen die Gegenstände seiner Stilleben, auf einem Hintergrund von Staub, Asche oder Sand, das Aussehen und die Würde von Denkmälern.
(In einer nicht lang zurückliegenden Nacht habe ich mich an einen kurzen Aufenthalt in Marokko, in Ouarzazate, erinnert: rosa Sand und gelber Sand, Windböen voll Sand in der Ferne, Fahnen gleich, und jene Festungen, die im Übermaß an Licht flimmerten, ohne Trugbilder zu sein, doch kaum zu unterscheiden von dem Boden, auf dem sie errichtet waren, eine kurze Erscheinung in der Frühe, woher der tiefe Eindruck? Ich befand mich an einem Ort dieser Welt, an den mich kein leidenschaftlicher Wunsch geführt hatte und mit dem sich kein persönliches Abenteuer verband (denn natürlich, wenn es in einem dieser Paläste oder Festungen – wie im Kino! – eine Frau gegeben hätte, gefangen oder nicht, die ich aufgesucht – befreit! – hätte, wäre meine Erregung selbstverständlich gewesen und niemand hätte sich darüber gewundert –, es sei denn, über die Tatsache, daß ich der Held war! aber nein). Und was mir so in einiger Entfernung erschien, war nicht einmal eine durch die Gegenwart oder Abwesenheit von Göttern geprägte Stätte, wie Ägypten oder Griechenland sie mir bei anderen Gelegenheiten geboten hatten. Also doch ein bloßes Trugbild? Wohl eher ein »Trug der Schwelle«: denn hier begann die Wüste, die Vorstellung von etwas, das sich grenzenlos vor uns öffnet – und meinem Geschmack weniger fremd als der Ozean –, die Trunkenheit, die daraus folgt, dieser Sockel für das Licht, ganz eingestaubt von Feuer, dieser Sand, geschaffen für die nackten Füße der Seher; den Zugang bewachend – wie die heutzutage unbewohnten Festungen, die manche Engpässe in Grenztälern des Gebirges beherrschen –, diese Art Schloß, aus demselben Stoff wie der Sand und unsere Kinderträume, die sich von Büchern nährten … Irgend etwas, da vorne, obwohl wir nicht weitergehen würden, weder an diesem Tag noch später, war aus der Tiefe aufgestiegen in mir, etwas, das mich mit fast allen Menschen seit den Anfängen ihrer Geschichte verband – und das einen erschüttern mußte wie bei einer Rückkehr aus dem Exil.) (...)
aus Phillippe Jaccottet
"Der Pilger und seine Schale. Giorgio Morandi". Aus dem Französischen von Elisabeth
Edl und Wolfgang Matz
Der Italiener Giorgio Morandi (1890-1964) zählt heute zu den berühmtesten Malern
der klassischen Moderne. Seine Stilleben, in denen er jahrzehntelang nur ein
einziges Sujet variierte, blieben jedoch für viele ein Rätsel. Philippe Jaccottet
verfolgt Morandis Weg von den frühen Landschaftsbildern bis zu den späten asketischen
Stilleben und zeichnet ihn nach in einer tiefen Wahlverwandtschaft. Eine poetische
Meditation über das Verständnis von Kunst und ihr Verhältnis zu Sprache und
Poesie. (Hanser)
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