Tahmîne

Nun will ich eine Geschichte erzählen, so wie sie mir ein Dehqn überliefert hat aus den Berichten unserer Vorfahren:
Eines Tages, schon am frühen Morgen, wurde Rostam unruhig, und es trieb ihn zur Jagd. Also machte er sich bereit und füllte seinen Köcher mit Pfeilen. Als er nun in die Nähe der turanischen Grenze gelangt war, sah er, dass die große, weite Steppe voller Wildesel war, und da blühte das Antlitz Rostams, des Kronenverteilers, auf wie eine Rose. Freudig trieb er Rax an und erlegte mit Pfeil und Bogen und Keule und Lasso so manches Wild in der Steppe. Dann aber machte er sich aus Gras und Dornbüschen und den Zweigen von Bäumen ein großes Feuer. Nachdem dieses kräftig brannte, suchte er sich einen Baum, den er als Bratspieß benutzen konnte, und steckte dann einen großen Wildesel auf den Stamm, der in seinen Händen nicht so viel wog wie eine Vogelfeder. Als der Wildesel durchgebraten war, riss Rostam ihn in Stücke und aß ihn auf. Selbst aus den Knochen holte er noch das Mark heraus. Dann legte er sich zum Schlafen und ruhte sich aus von den Mühen des Tages, während Rax in der Steppe weidete.
Da erschienen plötzlich sieben oder acht türkische Reiter in diesem Jagdrevier. Sie bemerkten die Spuren des Pferdes in der Steppe und wendeten sich zum Flussufer hin, wo sie es zu finden hofften. Dann sahen sie Rax in der Steppe und ritten mit großer Eile hinter ihm her, um ihn zu einzuholen. Schließlich konnten sie ihn fangen und brachten ihn schnell in die Stadt, wo jeder von ihnen seinen Anspruch an Rax geltend machte.
Aus süßem Schlaf erwacht, wollte Rostam sein treues Pferd wieder besteigen. Er wurde wütend, als er es nicht fand, und verzweifelt machte er sich eilig auf den Weg nach Samangn und sprach bei sich: "Wie kann ich hier jetzt nur so zu Fuß laufen, voller Kummer über diese Schande? Köcher und Keule um den Leib gebunden, mit Helm und Schwert und Babr­e Bayn! Was werden nur die Ritter sagen? Sie werden fragen: 'Wer hat ihm sein Pferd weggenommen? Ist Rostam irgendwo eingeschlafen? Oder ist er gestorben?' Jetzt soll ich hier hilflos zu Fuß laufen und mein Herz ganz dem Kummer überlassen! Ich muss nun meine Waffen anlegen und mich rüsten. Vielleicht komme ich zu einem Ort, wo ich eine Spur von Rax finde."
Als er sich der Stadt Samangn näherte, gelangte zum König und seinen Edlen die Kunde, dass der Kronenverteiler, der Held Rostam, zu Fuß angekommen und Rax ihm im Jagdrevier fortgelaufen sei. Der König und alle Edlen gingen ihm zur Begrüßung entgegen. Und jeder von ihnen fragte sich: "Ist dies Rostam? Oder ist das etwa die aufgehende Sonne?" Der König von Samangn sprach zu ihm: "Was ist geschehen? Wer hat es gewagt, mit dir einen Kampf zu versuchen? In dieser Stadt hier sind wir deine Freunde, und dein Wunsch und Wille ist uns Befehl. Wir stehen dir mit Leib und Seele zur Verfügung, denn Kopf und Herz der Edlen gehören dir." Als Rostam seine Worte vernahm, dachte er nichts Böses mehr und sprach zu ihm: "Rax ist mir in der Steppe ohne Zaumzeug und Halfter entlaufen. Von der Stelle am Ufer beim Schilf führt seine Spur jetzt nach Samangn. Wenn du ihn wiederfindest, gebührt dir meine Dankbarkeit. Lohn und Vergeltung findet der, welcher das Gute kennt und tut. Wenn ich aber mein Pferd nicht wiedersehen sollte, dann wird man vielen Edlen den Kopf abschlagen." Darauf sagte der König zu ihm: "O du stolzer Mann. Niemand wird so gegen dich handeln. Sei du mein Gast und reg dich nicht auf. Die ganze Angelegenheit wird sich nach deinem Wunsche klären. Lasst uns heute Nacht mit Wein froh sein und das Herz frei von Sorgen halten. Das Pferd ist so berühmt in der Welt, dass Rax` Spur niemals verborgen bleibt."
Rostam wurde froh durch die Worte des Königs und seine Seele frei von allen Sorgen. So hielt er es für angebracht, des Königs Einladung zu folgen und sich in dessen Palast zu begeben. Der König versorgte seinen Gast aufs Beste und ließ ihm im Palast schöne Räume anweisen. Ja, er blieb vor ihm stehen, um seine Wünsche zu erfahren und zu erfüllen. Er ließ die berühmtesten Persönlichkeiten der Stadt und die Führer seines Heeres herbeirufen und setzte seinen Gast in würdiger Form neben sich. Es kamen Weinschenken und Musikanten, schwarzäugige schöne Mädchen aus Tarz. Sie saßen mit den Musikanten zusammen, und alle Sorgen vergingen. Als Rostam vom Wein berauscht war und es Zeit wurde, schlafen zu gehen, begann er ungeduldig zu werden und wollte nicht länger beim Festmahl sitzen. Da ließ der König die Räume für Ruhe und Schlaf würdig herrichten und dort Moschus und Rosenwasser zerstäuben.
Ein Teil der dunklen Nacht war schon vergangen, und der Morgenstern wandelte über das Himmelsgewölbe: da wurde leise und heimlich gesprochen, und die Tür zu Rostams Schlafgemach ging vorsichtig auf. Eine Dienerin erschien auf Zehenspitzen und ging zum Bett des noch trunkenen Helden. Dabei hatte sie ein Licht in der Hand, das mit Ambra parfümiert war. Hinter der Dienerin aber kam eine mondgesichtige Schöne, die wie die Sonne erstrahlte und wie eine Rose voller Farbe und Duft war. Ihre Augenbrauen waren wie Bögen, ihre Lockenpracht wie ein Fangseil und ihre Gestalt schön wie eine große Zypresse. Sie hatte einen klugen Verstand, und ihr Körper war schön wie eine reine Seele, so als hätte sie keinen Anteil am Irdischen. Rostam mit dem Löwenherzen erstaunte sehr, als er sie sah, und rief, entzückt über sie, den Namen Gottes aus. Er sprach sie an und fragte sie: "Wie heißt du? Was sucht du hier in dunkler Nacht? Was willst du?"
Und sie antwortete ihm: "Ich bin Tahmîne. Mir geht es so, als sei ich vor Kummer zerrissen. Ich bin die einzige Tochter des Königs von Samangn. In der Welt ist keiner der Edlen mir ebenbürtig, und es gibt unter dem weiten Himmel nur wenige Frauen wie mich. Kein Mann hat mich je außerhalb meiner Gemächer gesehen, und niemals hat je ein Mann meine Stimme vernommen. Ich habe viele Geschichten über dich gehört, die wie märchenhafte Erzählungen klangen. Und daher weiß ich: Du fürchtest dich nicht vor Dîven und Löwen und Panthern und Krokodilen und hast eine starke Hand mit scharfen Krallen. In dunkler Nacht bist du allein nach Turan gekommen, an diese Grenze hier, mutig und ohne zu ermüden. Ganz allein röstest du dir einen Wildesel, und mit deinem scharfen Schwert bringst du die Luft zum Weinen. Wenn sie die Keule in deiner Hand sehen, zerreißt den Löwen das Herz und den Pantern das Fell. Wenn der Adler dein blankes Schwert erblickt, wagt er nicht mehr, das Wild zu jagen. Der Löwe trägt die Spuren deines Lassos, und die Wolke regnet Blut aus Angst vor deiner Lanze. Als ich solche Berichte über dich hörte, erstaunte ich über dich und war voller Bewunderung. Ich sehnte mich nach deinem Körper, deinen Armen und Schultern, und nun hat Gott dich Aufenthalt nehmen lassen in dieser Stadt. Wenn du mich willst, gehöre ich jetzt dir. Sonst aber wird niemand mich je wiedersehen, auch die Vögel nicht und nicht die Fische. Ich bin wegen dir ganz außer mir, und aus Liebe zu dir habe ich meinen Verstand abgetötet. Vielleicht legt mir dann auch Gott einen Sohn von dir in den Schoß, so mutig und kräftig, wie du es bist, und so, dass der Himmel ihn an den Eigenschaften der Sonne und des Saturns teilhaben lässt. Und außerdem bringe ich dir dein Pferd wieder, selbst wenn ich dafür ganz Samangn unterwerfen müsste."
Rostam schaute die Schöne mit dem Feengesicht an und vernahm ihre Worte, und er begriff, dass sie reich war an Wissen und Klugheit. Und da sie ihm auch noch von Rax Kunde gebracht hatte, sah er, dass das Ende dessen, was mit ihm geschah, nur glanzvoll und ruhmreich sein konnte. Darum war er sehr einverstanden mit allem, was sie sagte, und gab gern seine Zustimmung, und mit Freude schloss er das Bündnis mit ihr. So wurde sie seine Geliebte, und er blieb diese dunkle und lange Nacht bei ihr. Als dann die strahlende Sonne vom hohen Himmelsbogen ihre leuchtenden Fangschnüre werfen wollte, gab Rostam ihr sein kostbares Geschmeide, das auf der ganzen Welt bekannt war. Dieses schenkte er ihr und sprach: "Behalte es. Wenn dir das Schicksal eine Tochter bringt, dann nimm es, um es in ihre Locken zu flechten. Es soll für sie ein guter Stern und ein glückliches Omen sein. Wenn dir aber von Gott ein Sohn gegeben wird, binde ihm das Geschmeide um den Arm, so wie es sein Vater getragen hat. Unser Sohn wird Sms Gestalt haben und die Eigenschaften der Hochherzigen besitzen. Er wird den stolzen Adler aus den Wolken herunterholen, und die Sonne wird nicht unfreundlich auf ihn scheinen." So verbrachte er die Nacht mit der Schönen mit dem mondgleichen Antlitz und sprach mit ihr über dieses und jenes.
Als nun die strahlende Sonne am Himmel erschien und das Antlitz der Erde mit Liebe schmückte, kam der edle König zu Rostam und erkundigte sich, ob er gut geschlafen und geruht habe. Als dieses besprochen war, gab er ihm gute Kunde über Rax, und das Herz des Kronenverteilers wurde dadurch froh. Er ging zu seinem Pferd und streichelte und sattelte es. Und dabei strahlte er vor Glück über Rax und war froh über den König. Schnell ritt er zurück in das Land Iran, wobei er immer an seine Erlebnisse denken musste.


(Aus "Rostam. Die Legenden aus dem Sahname" von Abu'l-Qasem Ferdausi)