Dr. Manfred Stange (Hrsg.): "Die Edda"
Literarisches Zeitfenster in die Welt der alten Germanen
Die
Edda (dt. "Urgroßmutter") ist eine Sammlung altnordischer
Erzählungen mythologischen Inhalts. Im Jahr 1851 wurde das
Werk erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt
veröffentlicht. Als Autor zeichnete Karl Simrock, Germanist
und Dichter. 2004 gibt Manfred Stange im Marixverlag eine
überarbeitete Ausgabe von Simrocks 8. Auflage heraus.
Literaturgeschichtlich wird das Mythenkompendium in die Ältere
und Jüngere Edda unterteilt.
Die Ältere Edda entstand aus ursprünglich oral
tradierten Liedern, Versen und Geschichten aus der Zeit zwischen 800
und 1200. Ihre Sprache ist das Altnordische, wie es norwegische
Eroberer in Island, Grönland oder in Exklaven auf den
britischen Inseln verwendeten. Um 1270 schrieb ein unbekannter
Verfasser die Ältere Edda auf 45 Pergamentbögen
nieder. Erster verbürgter Besitzer dieses so genannten Codex
Regius war Bischof Sveinsson im Jahre 1643. Seit 1971 liegt das
kostbare mittelalterliche Werk im Isländischen
Handschrifteninstitut von Reykjavik.
Stilistisch kommt in der Älteren Edda eine sehr poetische
Ausdrucksweise zum Tragen, die in Bildern, Vergleichen und
Umschreibungen (= Kenningar) schwelgt. Einige
Beispiele für Kenningar: "Speergewitter"
für Kampf, "Wundenflamme" oder "Blutschlange" statt Schwert
bzw. anstelle von Gold "Sifs Haar" (nach den strahlend blonden Locken
gleichnamiger Göttin). Es herrscht ein ausgeprägtes
Versmaß mit vielen Endreimen. Überraschender Weise
breiten sich die Geschichten nicht episch aus, sondern sind kurz,
pointiert und oft in Dialogform. Stellenweise erinnern die
Götter- und Heldenlieder an moderne Interviews, etwa dann wenn
einer der gar nicht so wissenden Asen Ratschlag bei einer weisen Riesin
einholt. Philosophisch gibt die Ältere Edda das Weltbild des
germanischen Heidentums wieder, in dem Blutsfehden,
Götterintrigen und das allübergeordnete Schicksal das
Leben bestimmen.
Anders die Jüngere Edda, die Snorri Gurluson 1220 auf
Altisländisch festhielt. Snorri war bereits
überzeugter Christ und stand der alten Welt des germanischen
Pantheon gelassen bis heiter gegenüber. Die allzu menschlich
agierenden Göttinnen und Götter sind nur das
Tüpfelchen am "i" im märchenhaften Kosmos des Snorri,
der von Zwergen, Alben, Drachen und riesigen Wölfen
bevölkert wird. Snorri Gurluson legte ebenfalls
großen Wert auf Kenningar. Er wollte
angehenden Skalden
(sangesgewandten Dichtern, ähnlich den keltischen Barden oder
mittelalterlichen Minnesängern) Beispiele in der Reimkunst
geben, eine Art Handbuch für poetische Umschreibung und
Versmaß abliefern.
In der Edda treffen wir all jene Gestalten wieder, mit denen wir von
Kindheit an aus Sagen bestens vertraut sind. Da
stößt der Leser zum einen auf Sigurd (Siegfried),
der den Drachen Fafnir tötet, wie auf Högni (Hagen),
Gunnar (Gunther) oder Atli (Etzel), alles Figuren des
Nibelungenliedes.
Zum anderen trifft er die rivalisierenden Göttergeschlechter
der kriegerisch geprägten Asen und der eher
bäuerlichen Wanen, die sich später hin
versöhnen und verheiraten; eine poetische Symbiose
für den historischen Übergang von der Nomadenkultur
zur Sesshaftigkeit. Oberster Gott der Asen ist Odin. Er ist mit
zahlreichen Attributen ausgestattet, wie dem Speer Gungnir, der nie
sein Ziel verfehlt, Sleipnir, dem sechsbeinigen Pferd, seinen
Wölfen Geri und Freki oder den Raben Hugin ("Gedanke") und
Munin ("Erinnerung"), die allmorgendlich ausfliegen, um am Abend ihrem
Herren über die Geschehnisse in der Welt Bericht zu erstatten.
Odin ist zudem einäugig, da er dem Riesen Mimir eines seiner
Augen als Pfand für einen Schluck aus dessen Brunnen der
Allwissenheit verpfändete. Die Herrin der Wanen ist die
schöne Freya, eine Vegetationsgöttin, deren Wagen von
Katzen (einem Fruchtbarkeitssymbol) gezogen wird. Herausragend ist auch
die Figur des Loki,
eines undurchschaubaren Ränkeschmieds, der einmal abgrundtief
verschlagen das Ende der Asen herbeisehnt, dann wieder den verhassten
Verwandten hilft.
Der Altnordische Kosmos - wie er in der Edda beschrieben steht - ist
ein einfaches Modell. Am Anfang war nur der Raum Ginnungagap. In seinem
Norden entwickelte sich Niflheim, eine stürmische Eiswelt, im
Süden das feurige Muspelheim. Wo die beiden Extrema sich
berührten, entstand der Urriese Ymir, aus dessen
Körper die ersten Götter die Erde schufen. Auf dieser
dreht sich alles Wesentliche um die Weltenesche Yggdrasil,
über deren Blätterdach sich Asgard, das Reich der
Götter, mit Walhalla, der prächtigen Halle gefallener
Krieger, befindet. Midgard (mal um den Baumstamm, ein andermal unter
einer seiner drei Hauptwurzeln liegend) ist der Wohnort der Menschen.
Unter dem Baum liegt
Hel,
das Land der Toten. Als Götterbote
läuft das quirlige Eichhörnchen Ratatoskr den Baum
auf und ab, während unterm Wurzelwerk der Drache
Nidhöggr die Yggdrasil zum Einsturz bringen will, um die
Götterdämmerung, das Weltenende Ragnarök
einzuläuten.
Viele Worte der altnordischen Religion leben bis dato fort, so die
Namen der Götter Odin und Thor, die im
südgermanischen Raum (dem heutigen Deutschland und England)
Wotan bzw. Donar genannt wurden. Der englische Name für
Mittwoch, Wednesday, heißt übersetzt "Wotanstag".
Donnerstag wiederum war ursprünglich dem Donar geweiht, jenem
Asen, der seinen Blitze sprühenden Hammer Mjölnir
schwingt. Und der Freitag hat nichts mit arbeitsfrei, sondern mit
Göttin Freya zu tun. Auch das Wort Hölle hat seine
Wurzel im nordischen Totenreich Hel.
J.R.R. Tolkien, Vater des
Fantasy-Genres, ließ die Edda in Namensgebung und Motiven im
"Herr der Ringe" ebenso kräftig Niederschlag finden.
-) Aus den Alben ("Lichtgestalten") der Edda wurden Elben.
-) Mimirs Brunnen ist das Pendant zum Spiegel der Galadriel.
-) Der Name des Tolkienschen Zwergenkriegers Gimli erinnert stark an
Gimili, eine vor Feuer schützende Höhle.
-) Shadowfax, der Hengst des Magiers Gandalf, endet auf "fax(i)", das
altnordische Wort für Pferd.
-) Sauron, der Feind alles Guten auf Tolkiens Mittelerde, hausend im
vulkanischen Land Mordor, ist nichts anderes als ein Abbild des
Feuerriesen Surtur, der Midgard mit Vernichtung überzieht.
-) Last but not least sei Andwaranaut erwähnt, ein verfluchter
Ring, der samt dem Schatz der Niflungen auf den Grund eines Flusses
fiel. Auch bei Tolkien wird "der eine Ring, der alle zu knechten
trachtet", am Grund eines Flusses gefunden.
Summa summarum macht die Edda wohl neben Ilias, Odyssee und dem
Artus-Sagenkreis die wichtigsten Anfänge europäischer
Literatur aus, deren weitverzweigtes Netzwerk an Mythen bis in die
Gegenwart hineinreicht.
(lostlobo; 03/2004)
Dr. Manfred Stange (Hrsg.): "Die Edda"
Marixverlag,
2004.
ca. 448 Seiten.
ISBN 3-937715-14-2.
ca. EUR 7,95.
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