Ken Wiwa: "Im Schatten des Märtyrers.
Mein Leben als Sohn von Ken Saro-Wiwa"

Die neun Todeskandidaten schritten aufrecht zum Galgen. Sie riefen: "Unser Kampf geht weiter!" und sie sangen die Hymne ihres Ogoni-Volkes. Die nigerianische Nachrichtenagentur AM  News schrieb: "Die Männer waren fröhlich bis zum Ende." Das Ende kam am Freitag, dem 10. November 1995, um halb zwölf Uhr vormittags.


Ken Wiwa trat ein schweres Erbe an. Er ist der älteste Sohn des Bürgerrechtlers, Politikers, Geschäftsmannes und Schriftstellers Ken Saro-Wiwa, der am 10. November 1995 gehängt wurde, weil er der nigerianischen Militärdiktatur ein Dorn im Auge gewesen war. Der Prozess gegen den nur 153 Zentimeter großen Kämpfer für die Rechte der Ogoni mit der donnernden Stimme glich einer Farce, die er meist lesend auf seiner Anklagebank verfolgte. Das Todesurteil gegen ihn und acht seiner Mitstreiter ließ sich nicht abwenden, weil es Sündenböcke geben musste, die Schuld hatten am Mord von vier Ogoni. Es versteht sich von selbst, dass Ken Saro-Wiwa ein Mensch war, der den passiven Widerstand zum Prinzip erhoben hatte. Nie und nimmer wäre es ihm eingefallen, mit Waffengewalt die Rechte seines Volkes einzufordern. Die letzten 18 Monate seines Lebens verbrachte er im Gefängnis, wo er unter anderem einen Bericht über den schmutzigen Krieg der Kooperationspartner Militärdiktatur Nigeria und Ölmulti Shell gegen die Ogoni schrieb, der unter dem Titel "Flammen der Hölle" Veröffentlichung fand. Die Erbarmungslosigkeit, mit der Shell auf dem Ogoni-Land agierte, um Öl zu fördern und die entrechtete Bevölkerung der Ogoni in eine Eskalation mit dem Militär zu treiben, der Tausende Menschen zum Opfer fielen, stellt eine Menschenrechtsverletzung dar, die bis heute nicht abgestellt werden konnte. Anlässlich eines Informationsabends der MOSOP (Movement for the Survival of the Ogoni People) in Wien wurde ein Video gezeigt, wo die Folgen der Ölförderung auf Ogoni-Land sichtbar sind. Die Pipelines sind leck und der Gestank verpestet die Luft. Die Menschen leben auf einem  Land, das buchstäblich in den Grundfesten erschüttert ist. Vor Shell war dieses Land sehr fruchtbar gewesen, und die Ogoni konnten ein glückliches Leben führen. Die Militärdiktatur Nigerias jedoch wollte diesen Flecken, auf dem das indigene Volk der Ogoni beheimatet ist, in eine Geldquelle verwandeln und nahm dafür bewusst in Kauf, dass auf diesem Landstrich buchstäblich kein Grashalm mehr wachsen möge. Der Gründer der MOSOP, Ken Saro-Wiwa, hatte jahrelang versucht, für die Rechte der Ogoni einzutreten, und der Erfolg blieb ihm leider bis zu seinem schrecklichen Ende versagt. 

Das Erbe des großen, kleinwüchsigen Ken Saro-Wiwa hatte laut afrikanischer Tradition der älteste Sohn, Ken Wiwa, anzutreten. Er brauchte lange, um die alles beherrschende Person seines Vaters für sich greifbar zu machen und Schritte zu setzen, auf die sein Vater stolz gewesen wäre. Er schildert in seinem ersten Buch einerseits seine Kindheit und Jugend, die er zum größeren Teil in England verbrachte und andererseits seine Suche nach dem Vater, den er lange Zeit als "Unsichtbaren" bezeichnete. Die Kindheit von Ken Wiwa verlief komplikationslos und stand im Zeichen des Wohlstandes. Sein Vater hatte sowohl als Politiker als auch Geschäftsmann sehr gute Erfolge aufzuweisen, und die Regierung hatte ihm ein schönes Haus zur Verfügung gestellt, wo mehrere Bedienstete für die Pflege des Gartens, die Hausarbeit und die Behütung der Kinder eingeteilt waren. Ken hatte vier Geschwister und heckte immer wieder Streiche aus, die ihm manchmal einen "Backenstreich" einbrachten. Schon bald aber sollte er auf eine Eliteschule nach England transferiert werden, um dort eine gute Ausbildung zu bekommen. Seit seinem neunten Lebensjahr lebte er vorwiegend in England, verbrachte aber mehrere Wochen des Jahres in seinem trotz all der widrigen Umstände geliebten Heimatdorf. Er erlebte den Vater als selten anwesend und meist streng. Es sollte sich nie so recht ein halbwegs vernünftiges Verhältnis zwischen Vater und Sohn herausbilden. 

Ken Wiwa erzählt nicht nur von den zahlreichen Kämpfen, die sein Vater bestritt, um für die Rechte seines Volkes einzutreten. Er betreibt keineswegs eine Huldigung der Vaterfigur, die sich stets als "unangreifbar" erwiesen hatte. Es geht ihm darum, die Privatperson Ken Saro-Wiwa gegen jene der politischen, geschäftlichen und schriftstellerischen  Person Ken Saro-Wiwa aufzuwiegen. Der Vater war ständig unterwegs in dieser oder jener Sache; für die MOSOP, als Schriftsteller, als Geschäftsmann, als Politiker. Dafür stellte er das Wohl der Familie hinten an. Er musste für seinen Kampf, der den nachfolgenden Generation zu Gute kommen sollte, ein gut funktionierendes Familienleben opfern, worunter sowohl seine Kinder als auch seine Frau litten. Sein ältester Sohn sieht hierin einen erstaunlichen Widerspruch: Auf der einen Seite kämpft der Vater für die Rechte der folgenden Generationen; auf der anderen Seite setzt er sich kaum mit seiner eigenen Familie auseinander; insbesondere mit seinen Kindern, die ihn schließlich irgendwann beerben mögen. Er betrügt seine Frau nach Strich und Faden mit allerlei Mätressen und sieht dies als selbstverständlich an. Dass seine Frau schrecklich darunter leidet, will er gar nicht mitbekommen. Die Privatperson des Vaters war also kaum greifbar, und somit war der Sohn dazu gezwungen, den Vater aus seinen Büchern, Briefen und zahlreichen sonstigen Aufzeichnungen herauszulesen. Es dauerte lange, bis Ken überhaupt die Kraft fand, sich mit seinem Vater auseinander zu setzen. Er wollte und konnte nicht begreifen, warum der Vater so kaltschnäuzig mit der eigenen Familie umging. Ein Erlebnis empfand er als besonders schmerzlich: Ken hatte einen kleinen, fußballbegeisterten Bruder, den  er über alles liebte. Es war eine wunderbare Sache für den "Nachzügler", mit dem großen Bruder sein erstes Fußballspiel live zu erleben. Der Schock  für Ken war grenzenlos, als ihm per Telefon mitgeteilt wurde, dass sein kleiner Bruder nach einem Fußballspiel über Übelkeit geklagt habe und nur wenig später starb. Er war gerade mal 14 Jahre alt gewesen. Ein Grund für Ken, sich mit dem Tod und wie die Afrikaner damit umgehen auseinander zu setzen.  Er sah seinen Bruder als "Geisterkind" an, das viele Male wiedergeboren wird und zwischen der Realwelt und der Geisterwelt hin und her wechselt.

Der kleine Bruder Tedum war gestorben, und bald wurde er begraben. Sein Vater machte beim Begräbnis keinen allzu geknickten Eindruck; er war mit den Gedanken wohl schon wieder bei seinem nächsten Termin. Ken konnte das nicht verstehen. Irgendwann aber musste der älteste Sohn die Spuren seines Vaters finden, und er fand sie tatsächlich in einem seiner Bücher. Ken Saro-Wiwas Roman "Lemonas Geschichte" schildert eine zum Tode verurteilte Frau, die einer Besucherin ihre Vergangenheit anvertraut. Ken konnte viel von seinem Vater in dieser Geschichte finden. Er erkannte, dass sein Vater für ein hohes Ideal gestorben war, und in all seinem Streben nach Gerechtigkeit für sein Volk mit kleinen Zeichen seine Kinder zu erreichen versuchte. Im Alter von 14 Jahren hatte sein Vater ihm ein Foto unter die Nase gehalten, das Ken Saro-Wiwa in jungen Jahren zeigte. Ken würdigte es kaum eines Blickes. Der große Kämpfer für Gerechtigkeit wollte damit andeuten, dass er bereit sei, dem Sohn seine Vergangenheit anzuvertrauen. Er konnte es nur nicht in Worte fassen. Als Ken schließlich selbst Vater wurde, spielte sich eine ganz ähnliche Situation mit verkehrten Vorzeichen ab. Sein kleiner Sohn ging unangemeldet in sein Arbeitszimmer, und er blickte kaum von seiner Arbeit auf. Er hatte ein schlechtes Gewissen; er wollte ein guter, stolzer Vater sein. Als dann sein Sohn ein weiteres Mal das Arbeitszimmer betrat, breitete Ken seine Arme aus, und sein Sohn lief ihm glücklich "Deeedeeee" rufend in die Arme. Es sind immer kleine Dinge, die das Verhältnis zwischen Vater und Sohn bestimmen. Und es kann sehr lange dauern, bis dieses Verhältnis Früchte in Form von gegenseitigem Verständnis und Respekt trägt. 

Viele Jahre nach dem Tod des Vaters fällt es Ken wie Schuppen von den Augen: Er will das Erbe seines Vaters antreten. Schmerzlich ist ihm in Erinnerung, dass er die Briefe seines Vaters aus dessen schrecklicher Haft oft unbeantwortet gelassen hatte; dabei war Ken Saro-Wiwa immer bemüht, zu seinem Sohn durchzudringen und wünschte ihm das Beste. Ken liest diese Briefe aus dem Gefängnis, und er beginnt seinen Vater zu verstehen. "Lemonas Geschichte" und die Briefe aus der Haft sind wichtige Puzzleteile, um diesen stolzen Mann für ihn greifbar zu machen. Ken setzte sich zu Lebzeiten seines Vaters, als das Todesurteil wie ein Damoklesschwert über diesem schwebte, für das Leben des Mannes ein, in dessen Fußstapfen er später treten würde. Aber nichts hilft: Das Todesurteil wird vollstreckt, und der Faden zum Vater reißt für längere Zeit.

Eine wichtige Episode im Leben des Sohnes Ken ist die Begegnung mit dem Sohn des 1977 zu Tode gefolterten Steve Biko. Ken sucht ihn auf, um über schwierige Vater-Sohn-Verhältnisse zu sprechen, die über den Tod des Vaters hinaus Wellen in der Erinnerung des Sohnes schlagen. Nathi Biko hatte soeben einen Film fertiggestellt, der sich mit seinem Vater auseinander setzte (Beacon of hope). Er rekonstruiert im Gespräch mit Steves Freunden und Verwandten dessen Leben. Die Rede kommt natürlich auch auf das Buchprojekt von Ken, und es werden im Laufe des Gesprächs Parallelen sichtbar, die Nathi und Ken zu Seelenverwandten machen. Als Zeichen dieser Verbindung umarmen sie sich, und ballen die Black-Power-Faust. Sie haben sehr leicht zerreißbare Fäden zu ihren Vätern gelegt, um eine Verbindung zu erlangen. Bei Nathi war dies noch schwerer, weil er noch sehr klein war, als sein Vater im Alter von nur 31 Jahren zu Tode gefoltert wurde. Dennoch gilt es, den Spuren der Väter zu folgen, und sie zu verstehen zu suchen. Sowohl Ken als auch Nathi möge dies gelingen.

Sein Vater ermutigt ihn mehrfach in seinen Briefen aus dem Gefängnis, dass er alles geben solle, was in seiner Macht stünde, um ihn zu beerben. Ken begreift seinen Vater immer mehr als Menschen, der alles versucht hat, um seinem Leben einen besonderen Sinn zu geben. Er hat im Glauben an die Kraft seines Volkes alles getan, was möglich war. Die Ogoni sind nur ein kleines indigenes Volk von vielen in Nigeria. Sie haben keinen leichten Stand innerhalb des bevölkerungsreichsten Landes Afrikas. Es geht darum, für seine Rechte einzutreten, wenn diese beschnitten werden. Ken hat sich nunmehr entschlossen, seinem Vater nachzufolgen und sein Bestes zu geben, um ein würdiges Erbe anzutreten. Viele Jahre nach dem Tod von Ken Saro-Wiwa wurden dessen sterbliche Überreste dem Ogoni-Boden übergeben. Ken erfüllte damit diese wichtige, letzte Bitte seines Vaters.  

Ken Wiwa, der 1968 als ältester Sohn des Ken Saro-Wiwa geboren wurde, hat mit diesem Buch über seinen Vater und dessen Verhältnis zu ihm, ein äußerst wichtiges Kapitel Literatur geschrieben. Sein Vater war davon überzeugt, dass Ken schriftstellerisches Talent habe, welches er nur mal einsetzen müsse. Er ist sicher stolz auf seinen Sohn, wo auch immer er sich jetzt befinden mag.  

(Jürgen Heimlich; 11/2002)


Ken Wiwa: "Im Schatten des Märtyrers.
Mein Leben als Sohn von Ken Saro-Wiwa
"
Aus dem Englischen von Chris Hirte.
Claassen
, 2002. 240 Seiten. 
ISBN 3-5460-0179-6.
ca. EUR 23,-.
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