Leseprobe aus dem Roman "Aller Nächte Tag" von Ulrich Hassler (Wilhelm Muster)
Kurzgefaßte
Anleitung zum Glücksspiel und Dichten
Übergang zum Schlaf, Geschenk, nie genug ausgekostet,
erlöschende Sinne, taumeliger, ruhiger Genuß,
vernichtet zu werden, bewahrt zu werden, so ist es mit den Liebenden,
sie fliegen beide am Trapez, wirbeln durch die Luft, der Griff des
Fängers erwartet sie.
Ohnmacht, Sturz, der nicht abgefangen wird, von einem Ende der Kuppel
zum anderen geschleudert, greifen sie fehl, wir greifen fehl, das
rettende Netz ist nicht gespannt.
Aber der Rausch, nicht die schwere, lähmende Trunkenheit, die
dem röchelnden Schlaf, die der Ohnmacht gleicht, sondern das
Spiel mit den tausend Möglichkeiten, aber der Rausch, Tanz,
und der Tänzer bewegt sich nicht, Schlaf, Höhle, in
die keiner mehr eintritt, Rausch.
Liebe, der Schrei ist gestattet, die Visionen drängen, meist
sind es Landschaften, nicht Menschen. Schlaf und Traum, der fetzenhafte
und oft höchst lächerliche Dialog ist erlaubt, die
Landschaft wenig ausgeprägt, aber prall das Ereignis, ein
stoßender Ball. Der Rausch packt Landschaften, Menschen,
Ereignisse, so wird der Dialog murmelnd hingewischt, so bietet sich der
Partner an, fragt, antwortet, Spiegel des Berauschten, Bewohner einer
anderen Welt.
Der Betrunkene findet sich, fand sich zuerst überhaupt nicht
zurecht.
Er purzelte in Tiefen, ein grünlich phosphoreszierendes Licht
schimmerte in ihnen, und wurde dann wieder hochgeschleudert, krampfhaft
hielt er Decken und Polster fest, ich bin schön besoffen,
schön besoffen bin ich, hähä!
Als er nach dem Zipfel der Bettdecke tastete, stieß die Hand
an ein Fell, er öffnete Augen und Mund, da lag eine Gestalt
neben ihm, er versuchte zu begreifen, wer es war, als sie beide in den
Raum geschleudert wurden, dann erst konnte er sie erkennen: es war ein
Tier-Engel, der Leib einem Katzenkörper nicht
unähnlich, das Gesicht das eines jungen Mädchens.
Menschenskind, stammelte Friedrich, das ist mir aber, ist mir eine
schöne Überraschung, oder vielleicht nicht? Was, wie
kommst du denn her?
Der Engel trug ihn durch die Luft, berührte ihn nicht.
Ich komm aus deinem Rausch, und das mit heller Stimme und leicht
wienerisch gefärbt.
Aus meinem ...? Du, dann muß ich, muß ich
öfters, nicht wahr, ein Besäufnis veranstalten. Du
bist ja doch zu hübsch!
Sie flogen in der klassischen Pose der Engel dahin, man sieht sie immer
wieder auf alten Bildern, allerdings trug der Engel kein Gewand,
sondern ein Fell, es ließ aber Hals, Unterarme und Beine bis
zu den Kniescheiben frei. Friedrich stürmte manchmal Seite an
Seite mit dem englischen Geschöpf dahin, bewegte sich dann
etwas vor ihm. Der Engel hatte den rechten Arm ausgebreitet, als
könne er so den Menschen tragen. Sie flogen aber immer im
gleichen seitlichen Abstand.
Du, murmelte Friedrich, komm näher, komm her!
Wozu, fragte der Engel schnippisch.
Ich will dich streicheln!
Engel streichelt man nicht, erwiderte der Vogel abweisend und drosch
gewaltig mit den Flügeln, und es sauste wie eine Warnung durch
die Lüfte, aber der Herr Leutnant war zu besoffen, er
mißachtete die Warnung,
warum streichelt man nicht, bitte sehr, einen Engel? Wo steht das
geschrieben?
Buchstabengläubiger! rief der Engel scharf verweisend, gibt es
denn nicht noch eine Tradition; mußt du alles schwarz auf
weiß sehen?
Eigentlich schon! und Friedrich kam sich bei dieser Antwort ungeheuer
schlau vor.
Das steht geschrieben im Buche der Lebendigen, und jetzt halte deinen
Mund.
Friedrich hatte nie etwas von diesem Buche gehört, er sah nun
aufmerksam den Begleiter an.
Das himmlische Geschöpf hatte sich offenbar den Katzenbalg
nicht nur als Kleidungsstück übergezogen, das Fell
war vielmehr mit dem Körper verwachsen, überall dort
war das am besten zu beobachten, wo das Pelzchen in die frische
menschliche Haut fugen- und haarlos überging.
Der Engel, unruhig:
Was schaust du mich so an?
Ihre Blicke begegneten sich. Der Engel schielte ganz leicht, kaum
angedeutet, aber der Blick wurde dadurch starr, hilflos, daß
Friedrich ganz entzückt ausrief:
Du bist doch das hübscheste Fräulein, mit dem ich je
geflogen bin!
Ich bin kein Fräulein, erwiderte das Geschöpf
himmlisch hell.
Ja, bist du denn nicht eine Dame?
Verächtlich die Antwort:
Raphael, Gabriel, Michael, sind das vielleicht die Namen von
Frauenspersonen?
Aber Raphaela, und Gabriele, hähä! Du, setz dich
nicht in die Brennesseln!
Im Himmel kennt man keine Gabriele! Weiberwirtschaft, das wäre
mir was!
Sie flogen nun über eine Landschaft hin, der Offizier meinte
sie wiederzuerkennen. Zu linker Hand versinkt der Montblanc, unten
krümmt sich die Rhone in ihrem Bett,
größere Salzflächen kündigten die
Mündung an. Friedrich hätte gerne die Natur des
Engels enträtselt, da lag tief unter ihnen das Meer.
Aber du, der große Klimperer, die gewaltige Kriegsgurgel
bohrte weiter, zeig mir den Mann, der so süße Augen
hat, so wunderschönes dichtes Haar! Bis auf die Schultern
fällt es dir! Kann denn ein Mann so
ebenmäßige Brauen haben, so sanfte Wimpern?
Der Engel schwieg, wandte den Kopf leicht ab.
Und deine Arme erst, so weit sie überhaupt zu sehen sind, fuhr
der Versucher fort, so rund und weich und voll, und diese englischen
Finger! Ah, welch eine wunderfeine, seidene Haut, so
pfirsichblütenfrisch, so weiß, küssen
müßte man diese Haut,
zwar hielt das englische Wesen den Kopf weiterhin abgewandt, aber die
reine Haut des Halses wurde von roten Schatten überlaufen, in
der Nähe des Ohres sprang und hüpfte eine Ader,
ich will dir schon noch einheizen, dachte der Mann, du sollst mir,
sollst mir Farbe bekennen, rote Farbe bekennen,
eia, und deine Beine, oh, und hielt die zehn Finger gebündelt
vor den Mund, um den Kuß anzudeuten,
da wandte der Engel ihm das Gesicht zu, dunkelrot, nur die Nasenspitze
etwas bläßlicher, sehr possierlich sah es aus,
bitte, keine Komplimente, bitte! mit schwankender Stimme.
Es klang so flehentlich, daß Friedrich nicht an sich halten
konnte:
Aber du bist ja zum Verlieben!
Sie taumelten nun etwas, das Meer näherte sich, endlich hatte
der Engel die Verwirrung überwunden, sie stiegen wieder hinauf
in einen blauen, wolkenlosen Ansichtskartenhimmel, der Katzenvogel
trieb den Gefährten so schnell vor sich her, der konnte sich
nicht umdrehen, und so ging es eine Zeitlang schweigend in
großer Höhe dahin. Erst als die Luft nicht mehr
dröhnend an Friedrichs Ohren vorbeistürzte, den
Redeatem nicht mehr vom Munde riß, da konnte er stammeln:
Auf den Kopf, da sage ich's dir zu, du bist ja doch eine Frau!
Die Engel haben alle einen verklärten Leib, sagte das
englische Tier, da gibt es nicht Weib und nicht Mann.
Hähä, schrie der Betrunkene, so siehst du aus! Ist
das vielleicht ein verklärter Leib? Das ist ein Katzenfell,
mein Fräulein!
Und? der Engel zornig, sind denn die Katzen vielleicht nicht im Himmel?
Darauf schwieg Friedrich längere Zeit.
Möglich, brummte er dann, obwohl wir es in der Schule anders
gelernt haben, was bist du aber dann: ein Engel, eine Katze, ein Vogel,
oder alles zusammen? Du schweigst, gibst keine Antwort? Na, wir werden
es gleich sehen, und er streckte die Hände aus.
Rühr mich nicht an, schrie der Engel da gewaltig, und die
Stimme schlug fast um, sein Atem hob den großen Helden wie
ein Stück Papier hoch, oder ich werde dich ins Meer!
Ich, ich will dich ja nur streicheln, ich tu dir nichts, stotterte
Friedrich.
Wie oft muß ich es dir noch sagen: Engel streichelt man nicht!
Bist du sehr böse, der Mann nach einiger Zeit, sei wieder gut!
Und als der Engel die Brauen weiterhin finster runzelte, fügte
er rasch hinzu:
Sei doch nicht so! Denk doch nur, wo soll ich denn die Erfahrung
herhaben im Umgang mit Engeln, ich bin erst einem einzigen begegnet,
dem Engel meiner Mutter, er verwandelte sich später gern,
zuerst war es ein kleines Mädchen, eine impertinente Person,
sie mußte mich partout fragen: Sind Sie auch aus Wien, du
hast übrigens die gleiche Stimme, nur ein bißchen
erwachsener und englischer.
Der Engel schwieg.
Und das Mädchen heute abend, nein, nicht die Irenena, die
andere, die hat auch dieses Timbre, was soll ich denn davon halten?
Der Engel übte sich im Schweigen.
Nein, nein, sie ist es nicht, kann es nicht sein, sie ist zu jung.
Warum fragst du mich, wenn du es weißt? der Engel war wieder
ganz Freundlichkeit.
Sag mir wenigstens, wer war der Mann, der mir die Irenena gestohlen hat?
Ich kann dir seinen Namen nicht nennen.
Kurios, ich hab geglaubt, Engel wissen alles?
Ja, alles, was euch Menschen angeht.
Ist er denn kein Mensch?
Er ist ein Engel wie ich.
Wie?! Ich hielt ihn für einen Tommy!
Die Küste Afrikas kam nun in Sicht.
Über Tobruk hätte er mich beinahe abgeschossen, es
langte gerade noch für eine Notlandung, und das soll ein Engel
gewesen sein?
Nein, das Flügelwesen ärgerte sich, der
Tänzer war ein Engel, der Flieger ein Mensch, halte sie doch
auseinander!
Tobruk! Ich erkenne es genau, und warum kannst du mir den Namen des
Engels nicht sagen?
Wir alle kennen uns unter anderem Namen. Seinen eigenen Namen kennt nur
jeder allein.
Warum?
Der Namen gibt uns in eure Gewalt, nur die Erzengel können den
Namen ohne Gefahr preisgeben.
Ah, so bist du also kein Erzengel, und der mir die Irenena weggenommen
hat, wie heißt der unter euch?
Der Tänzer.
Richtig! Ein guter Decknamen ... Der Kerl tanzt wirklich famos! Aber
wie ist es denn möglich, daß er moderne
Tänze beherrscht, darunter solche, wie man sie vielleicht erst
in zwanzig, dreißig Jahren kennen wird, und daß er
die Irenena so gut führt?
Er ist eben ein Engel, und der Katzenvogel war voller Stolz und
Standesbewußtsein.
Sie flogen die Küste nach Osten entlang.
Er nimmt sie mir also weg, murmelte der Leutnant, du, habt ihr denn
Umgang mit Menschen?
Das siehst du doch, ich muß ja mit dir umgehen, ob ich will
oder nicht!
So meine ich das nicht, ich sehe schon, Gedanken erraten kannst du
nicht, ich meine: vermischt ihr euch mit Menschen?
Der Engel sah ihn verständnislos an.
Herrgott, verstehst du aber schwer! Ich meine: können Engel
und Menschen miteinander, na, verstehst du endlich?
Der Engel schüttelte die Locken.
Du liebe Zeit, Kinder haben miteinander, wie in aller Welt?
Der Engel, wieder vom Blut übergossen,
nein, erwiderte er böse, Engel und Menschen, so
drüber und drunter und durcheinander vielleicht, wie der
Mensch und das liebe Vieh, was?
Er spreizte die Flügel, auf jeder Feder ein Auge, es starrte
böse.
Und der Tänzer?
hartnäckig der andere, warum ist er
mit ihr ausgerissen, he?
Sie steht noch im Buch, du nicht mehr.
Ist das wieder dieses famose Buch, das Buch der Lebendigen?
Ja.
Wer steht im Buch?
Der Lebendige.
Wer ist lebendig?
Der Brennende.
Friedrich tastete sich ab.
Dann bin ich also erloschen. Ist das meine Schuld?
Das Tiermädchen schwieg.
Es ist also nicht meine Schuld allein, der Betrunkene, das sagt mir
dein Schweigen. Bin ich der einzige?
Millionen Erloschener gehen auf dieser Erde, reden, lachen, arbeiten,
reisen, trotzdem leben sie nicht mehr, sie sind wie ein kleines Glas,
das gefüllt ist, sie nehmen nichts mehr auf, sie sind tot.
Dann bin ich also in bester Gesellschaft, in bester Gesellschaft zu
sein, das habe ich mir immer gewünscht.
Der Engel sah ihn rührend, schielend an.
Und wie heißt du unter euch?
Die Katze.
Du, höre, was soll das heißen? Katzerl, meine Katz,
das sagt man allenfalls zu seiner Geliebten, ich bitte dich, die
streichelt man, mit der geht man ins Bett, und das ist nur menschlich,
so gar nicht englisch,
der Vogel sträubte den Pelz,
ist ja schon gut, er suchte den himmlischen Begleiter zu beruhigen, du
bist selber schuld, wenn ich so etwas daherrede, du bist kein Mannderl,
ein Weiberl willst du erst recht nicht sein, was bleibt dann noch,
verehrte Katz?
Jetzt sag mir doch endlich, wie du wirklich
heißt!
Und du, der Engel, was machst du dann mit mir? Ich bin dann wehrlos!
Das könnte dir so passen!
Sie überflogen gebirgiges Land.
Wer ist Jeremija?
Einer in den Bergen.
Und Andrej?
Der Engel konnte nicht mehr antworten, der Wüstenwind
erreichte sie, trieb sie hoch, rotbrauner Sand wirbelte in der Ferne
wie eine lebendige Mauer, sie standen einen Augenblick
größter Erregung still,
jetzt, dachte der Mann, schrie: Du! und warf sich auf den Engel,
das Katzenmädchen, ungleich schneller, wirbelte herum, fing
ihn ab, packte ihn an den Handgelenken und schleuderte ihn
überquer in die Tiefe.
Er stürzte lange Zeit, geriet zwischen Sand, es rauschte und
knirschte, es blitzte rötlichblau, das Meer
näherte
sich rasend, die Wasserfläche spaltete sich, er sank nun immer
langsamer, grünliches Licht, Schwärme von
Nesselquallen flossen und pumpten sich an ihm vorbei, da schwebte er
zwischen Felsen und Algenwälder nieder, es wurde dunkler,
Fische schwänzelten auf ihn zu, er näherte sich
sandigem Boden, ein Polyp walzte rasch über den Grund, aber
das Wasser bremste immer mehr, endlich hatte sich ungeheurer Druck
unter ihm angesammelt, er versuchte noch, mit der Spitze des
großen Zehens den Sand zu erreichen, und wurde
hochkatapultiert, so schoß er aus dem Wasser,
nicht sehr hoch über der Oberfläche, nicht sehr weit
von ihm kreiste der Engel, er fragte:
Hast du jetzt genug?
Laß mich gefälligst in Ruhe, schrie Friedrich
zornig, was nimmst du alles gleich so ernst? (...)