(...)
Doch aus dem Nebenzimmer trat ihnen
der Professor Mosch Terpin entgegen, ein kleines, sehr seltsames Männlein an
der Hand führend und laut rufend: »Hier, meine Damen und Herren, stelle ich
Ihnen einen mit den seltensten Eigenschaften hochbegabten Jüngling vor, dem
es nicht schwer fallen wird, sich Ihr Wohlwollen, Ihre Achtung zu erwerben.
Es ist der junge Herr Zinnober, der erst gestern auf unsere Universität gekommen
und die Rechte zu studieren gedenkt!« - Fabian und Balthasar erkannten auf den
ersten Blick den kleinen wunderlichen Knirps, der vor dem Tore ihnen entgegengesprengt
und vom Pferde gestürzt war.
»Soll ich,« sprach Fabian leise zu Balthasar, »soll ich denn noch das
Alräunchen
herausfordern auf
Blasrohr
oder Schusterpfriem? Anderer Waffen kann ich mich doch nicht bedienen wider
diesen furchtbaren Gegner.«
»Schäme dich,« erwiderte Balthasar, »schäme dich, daß du den verwahrlosten Mann
verspottest, der, wie du hörst, die seltensten Eigenschaften besitzt und so
durch geistigen Wert das ersetzt, was die Natur ihm an körperlichen Vorzügen
versagte.« Dann wandte er sich zum Kleinen und sprach: »Ich hoffe nicht, bester
Herr Zinnober, daß Ihr gestriger Fall vom Pferde etwa schlimme Folgen gehabt
haben wird?« Zinnober hob sich aber, indem er einen kleinen Stock, den er in
der Hand trug, hinten unterstemmte, auf den Fußspitzen in die Höhe, so daß er
dem Balthasar beinahe bis an den Gürtel reichte, warf den Kopf in den Nacken,
schaute mit wildfunkelnden Augen herauf und sprach in seltsam schnurrendem Baßton:
»Ich weiß nicht, was Sie wollen, wovon Sie sprechen, mein Herr! Vom Pferde gefallen?
- ich vom Pferde gefallen? - Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß ich der beste
Reiter bin, den es geben kann, daß ich niemals vom Pferde falle, daß ich als
Freiwilliger unter den Kürassieren den Feldzug mitgemacht und Offizieren und
Gemeinen Unterricht gab im Reiten auf der Manège! - hm hm - vom Pferde fallen
- ich vom Pferde fallen!« - Damit wollte er sich rasch umwenden, der Stock,
auf den er sich gestützt, glitt aber aus, und der Kleine torkelte um und um,
dem Balthasar vor die Füße. Balthasar griff herab nach dem Kleinen, ihm aufzuhelfen,
und berührte dabei unversehens sein Haupt. Da stieß der Kleine einen gellenden
Schrei aus, daß es im ganzen Saal widerhallte und die Gäste erschrocken auffuhren
von ihren Sitzen. Man umringte den Balthasar und fragte durcheinander, warum
er denn um des Himmels willen so entsetzlich geschrieen. »Nehmen Sie es nicht
übel, bester Herr Balthasar,« sprach der Professor Mosch Terpin, »aber das war
ein etwas wunderlicher Spaß. Denn wahrscheinlich wollten Sie uns doch glauben
machen, es trete hier jemand einer Katze auf den Schwanz!« »Katze Katze - weg
mit der Katze!« rief eine nervenschwache Dame und fiel sofort in Ohnmacht, und
mit dem Geschrei: »Katze - Katze« - rannten ein paar alte Herren, die an derselben
Idiosynkrasie litten, zur Türe hinaus.
Candida, die ihr ganzes Riechfläschchen auf die ohnmächtige Dame ausgegossen,
sprach leise zu Balthasar: »Aber was richten Sie auch für Unheil an mit Ihrem
häßlichen gellenden Miau, lieber Herr Balthasar!«
Dieser wußte gar nicht, wie ihm geschah. Glutrot im ganzen Gesicht vor Unwillen
und Scham, vermochte er kein Wort herauszubringen, nicht zu sagen, daß es ja
der kleine Herr Zinnober und nicht er gewesen, der so entsetzlich gemauzt.
Der Professor Mosch Terpin
sah des Jünglings schlimme Verlegenheit. Er nahte sich ihm freundlich und sprach:
»Nun, nun, lieber Herr Balthasar, sein Sie doch nur ruhig. Ich habe wohl alles
bemerkt. Sich zur Erde bückend, auf allen Vieren hüpfend, ahmten Sie den gemißhandelten
grimmigen Kater herrlich nach. Ich liebe sonst sehr dergleichen naturhistorische
Spiele, doch hier im literarischen Tee« - »Aber,« platzte Balthasar heraus,
»aber, vortrefflichster Herr Professor, ich war es ja nicht.« - »Schon gut -
schon gut,« fiel ihm der Professor in die Rede. Candida trat zu ihnen. »Tröste
mir,« sprach der Professor zu dieser, »tröste mir
doch den guten Balthasar, der ganz betreten ist über alles Unheil, was geschehen.«
Der gutmütigen Candida tat der arme Balthasar, der ganz verwirrt mit niedergesenktem
Blick vor ihr stand, herzlich leid. Sie reichte ihm die Hand und lispelte mit
anmutigem Lächeln: »Es sind aber auch recht komische Leute, die sich so entsetzlich
vor Katzen fürchten.«
Balthasar drückte Candidas Hand mit Inbrunst an die Lippen. Candida ließ den
seelenvollen Blick ihrer Himmelsaugen auf ihm ruhen. Er war verzückt in den
höchsten Himmel und dachte nicht mehr an Zinnober und Katzengeschrei. - Der
Tumult war vorüber, die Ruhe wieder hergestellt. Am Teetisch saß die nervenschwache
Dame und genoß mehreren Zwieback, den sie in Rum tunkte, versichernd, an dergleichen
erlabe sich das von feindlicher Macht bedrohte Gemüt, und dem jähen Schreck
folge sehnsüchtig Hoffen! -
Auch die beiden alten Herren, denen draußen wirklich ein flüchtiger
Kater
zwischen die Beine gelaufen, kehrten beruhigt zurück und suchten, wie mehrere
andere, den Spieltisch.
Balthasar, Fabian, der Professor der Ästhetik, mehrere junge Leute setzten sich
zu den Frauen. Herr Zinnober hatte sich indessen eine Fußbank herangerückt und
war mittelst derselben auf das Sofa gestiegen, wo er nun in der Mitte zwischen
zwei Frauen saß und stolze funkelnde Blicke um sich warf.
Balthasar glaubte, daß der rechte Augenblick gekommen, mit seinem Gedicht von
der Liebe der
Nachtigall
zur Purpurrose hervorzurücken. Er äußerte daher mit der gehörigen
Verschämtheit, wie sie bei jungen Dichtern im Brauch ist, daß er, dürfe er nicht
fürchten, Überdruß und Langeweile zu erregen, dürfe er auf gütige Nachsicht
der geehrten Versammlung hoffen, es wagen wolle, ein Gedicht, das jüngste Erzeugnis
seiner Muse, vorzulesen.
Da die Frauen schon hinlänglich über alles verhandelt, was sich Neues in der
Stadt zugetragen, die Mädchen den letzten Ball bei dem Präsidenten gehörig durchgesprochen
und sogar über die Normalform der neuesten Hüte einig worden, da die Männer
unter zwei Stunden nicht auf weitere Speis- und Tränkung rechnen durften, so
wurde Balthasar einstimmig aufgefordert, der Gesellschaft ja den herrlichen
Genuß nicht vorzuenthalten.
Balthasar zog das sauber geschriebene Manuskript hervor und las.
Sein eignes Werk, das in der Tat aus wahrhaftem Dichtergemüt mit voller Kraft,
mit regem Leben hervorgeströmt, begeisterte ihn mehr und mehr. Sein Vortrag,
immer leidenschaftlicher steigend, verriet die innere Glut des liebenden Herzens.
Er bebte vor Entzücken, als leise Seufzer - manches leise Ach - der Frauen,
mancher Ausruf der Männer: »Herrlich - vortrefflich - göttlich!« ihn überzeugten,
daß sein Gedicht alle hinriß.
Endlich hatte er geendet. Da riefen alle: »Welch ein Gedicht! - welche Gedanken
- welche Fantasie - was für schöne Verse - welcher Wohlklang - Dank - Dank Ihnen,
bester Herr Zinnober, für den göttlichen Genuß« -
»Was? wie?« rief Balthasar; aber niemand achtete auf ihn, sondern stürzte auf
Zinnober zu, der sich auf dem Sofa blähte wie ein kleiner Puter und mit widriger
Stimme schnarchte: »Bitte recht sehr - bitte recht sehr - müssen so vorlieb
nehmen! - ist eine Kleinigkeit, die ich erst vorige Nacht aufschrieb in aller
Eil'!« - Aber der Professor der Ästhetik schrie: »Vortrefflicher - göttlicher
Zinnober! Herzensfreund, außer mir bist du der erste Dichter, den es jetzt gibt
auf Erden! - Komm an meine Brust, schöne Seele!« - Damit riß er den Kleinen
vom Sofa auf in die Höhe und herzte und küßte ihn. Zinnober betrug sich dabei
sehr ungebärdig. Er arbeitete mit den kleinen Beinchen auf des Professors dickem
Bauch herum und quäkte: »Laß mich los - laß mich los - es tut mir weh - weh
- weh ich kratz' dir die Augen aus - ich beiß' dir die Nase entzwei!« - Nein,«
rief der Professor, indem er den Kleinen niedersetzte auf den Sofa, »nein, holder
Freund, keine zu weit getriebene Bescheidenheit!« - Mosch Terpin war nun auch
vom Spieltisch herangetreten, der nahm Zinnobers Händchen, drückte es und sprach
sehr ernst: »Vortrefflich, junger Mann! - nicht zuviel, nein, nicht genug sprach
man mir von dem hohen Genius, der Sie beseelt.« »Wer ist's,« rief nun wieder
der Professor der Ästhetik in voller Begeisterung aus, »wer ist's von euch Jungfrauen,
der dem herrlichen Zinnober sein Gedicht, das das innigste Gefühl der reinsten
Liebe ausspricht, lohnt durch einen
Kuß?«
Da stand Candida auf, nahete sich, volle Glut auf den Wangen, dem Kleinen, kniete
nieder und küßte ihn auf den garstigen Mund mit blauen Lippen. »Ja,« schrie
nun Balthasar, wie vom Wahnsinn plötzlich erfaßt, »ja, Zinnober - göttlicher
Zinnober, du hast das tiefsinnige Gedicht gemacht von der Nachtigall und der
Purpurrose, dir gebührt der herrliche Lohn, den du erhalten!« -
Und damit riß er den Fabian ins Nebenzimmer hinein und sprach: »Tu mir den Gefallen
und schaue mich recht fest an und dann sage mir offen und ehrlich, ob ich der
Student Balthasar bin oder nicht, ob du wirklich Fabian bist, ob wir in Mosch
Terpins Hause sind, ob wir im Traume liegen - ob wir närrisch sind - zupfe mich
an der Nase oder rüttle mich zusammen, damit ich nur erwache aus diesem verfluchten
Spuk!« -
»Wie magst,« erwiderte Fabian, »wie magst du dich denn nur so toll gebärden
aus purer heller Eifersucht, weil Candida den Kleinen küßte. Gestehen mußt du
doch selbst, daß das Gedicht, welches der Kleine vorlas, in der Tat vortrefflich
war.« - »Fabian,« rief Balthasar mit dem Ausdruck des tiefsten Erstaunens, »was
sprichst du denn?« »Nun ja,« fuhr Fabian fort, »nun ja, das Gedicht des Kleinen
war vortrefflich, und gegönnt hab' ich ihm Candidas Kuß. - Überhaupt scheint
hinter dem seltsamen Männlein allerlei zu stecken, das mehr wert ist als eine
schöne Gestalt. Aber was auch selbst seine Figur betrifft, so kommt er mir jetzt
nichts weniger als so abscheulich vor wie anfangs. Beim Ablesen des Gedichts
verschönerte die innere Begeisterung seine Gesichtszüge, so daß er mir oft ein
anmutiger wohlgewachsener Jüngling zu sein schien, ungeachtet er doch kaum über
den Tisch hervorragte. Gib deine unnütze Eifersucht auf, befreunde dich als
Dichter mit dem Dichter!«
»Was,« schrie Balthasar voll Zorn, »was? - noch befreunden mit dem verfluchten
Wechselbalge, den ich erwürgen möchte mit diesen Fäusten?«
»So,« sprach Fabian, »so verschließest du dich denn aller Vernunft. Doch laß
uns in den Saal zurückkehren, wo sich etwas Neues begeben muß, da ich laute
Beifallsrufe vernehme.«
Mechanisch folgte Balthasar dem Freunde in den Saal.
(...)
(aus "Klein Zaches genannte Zinnober" von E. T. A. Hoffmann)