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Er hatte sehr lange
keinen Branntwein
genossen und so spürte er denn jetzt sofort die Wirkung,
wiewohl er nur ein Glas getrunken hatte. Die Beine wurden ihm auf
einmal schwer, und er empfand ein starkes Bedürfnis nach
Schlaf. Er machte sich auf den Heimweg; aber als er schon bis zur
Petrowskij-Insel gekommen war, blieb er vollständig
erschöpft stehen, bog vom Wege seitwärts
ab, ging in ein Gebüsch, ließ sich auf das Gras
sinken und schlief in demselben Augenblicke ein.
Bei krankhaften Zuständen zeichnen sich
die Träume oft durch ungemeine Lebhaftigkeit, Klarheit und
außerordentliche Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit
aus. Der eigentliche Gegenstand des Traumes ist dabei manchmal ganz
ungeheuerlich, die näheren Umstände aber und die
ganze Art, wie sich der Hergang abspielt, so wahrscheinlich und mit so
feinen, überraschenden, aber künstlerisch zu dem
Gesamtbilde durchaus passenden Einzelheiten ausgestattet, daß
der Träumende im wachen Zustande, und wenn er ein Dichter wie
Puschkin
oder
Turgenjew wäre, sie nicht ersinnen
könnte. Solche krankhaften Träume haften immer lange
im Gedächtnis und wirken stark auf den gestörten und
schon erregten Organismus des Menschen.
Raskolnikow hatte einen furchtbaren Traum. Er
träumte von seiner Kindheit,
wo er noch in seinem
Heimatstädtchen lebte. Er ist sieben Jahre alt und geht an
einem Feiertage gegen Abend mit seinem Vater vor der Stadt spazieren.
Es ist trübes Wetter, ein schwüler Tag; die
Örtlichkeit ist genau dieselbe, wie sie sich in seinem
Gedächtnisse erhalten hat; sie ist sogar in seinem
Gedächtnisse lange nicht so scharf umrissen, wie sie ihm jetzt
im Traume erscheint. Das Städtchen steht deutlich vor ihm da,
zum Greifen nahe; ringsum auch nicht ein Weidenbaum; irgendwo, in sehr
weiter Ferne, ganz am Horizonte, sieht man die dunkle Silhouette eines
Wäldchens. Einige Schritte von dem letzten zur Stadt
gehörigen Gemüsegarten entfernt steht eine Schenke,
eine große Schenke, die auf ihn stets einen unangenehmen
Eindruck gemacht, ja, ihm sogar Furcht eingeflößt
hatte, wenn er mit seinem Vater auf dem Spaziergange daran
vorbeigekommen war. Dort war immer ein großer Haufen von
Menschen, die so entsetzlich schrien, lachten, schimpften, so
unanständig und heiser sangen und sich so oft
prügelten; in der Umgebung dieser Kneipe trieben
sich immer betrunkene Kerle mit greulichen Gesichtern umher. Wenn sie
ihnen begegneten, drückte er sich dicht an den Vater und
zitterte am ganzen Leibe. Bei der Schenke führt ein Fahrweg
vorbei, die Verbindungsstraße zum nächsten Dorf, die
immer staubig ist, und der Staub auf dieser Straße ist immer
ganz schwarz. Der Weg zieht sich in mehrfachen Windungen weiter und
biegt nach ungefähr dreihundert Schritten rechts um den
städtischen Kirchhof herum. Mitten auf dem Kirchhofe steht
eine steinerne Kirche mit grüner Kuppel; in diese Kirche ging
er ein paarmal im Jahre mit seinem Vater und seiner Mutter zum Hochamt,
wenn für seine Großmutter, die schon vor sehr langer
Zeit gestorben war, so daß er sie nicht mehr gekannt hatte,
die Totenmesse gehalten wurde. Dann nahmen sie jedesmal
Kutja auf einer
weißen Schüssel, in einer Serviette, mit; die Kutja
war aus Reis, mit Zucker und Rosinen, und die Rosinen waren oben in den
Reis in Form eines Kreuzes hineingedrückt. Er hatte diese
Kirche gern und auch die alten Heiligenbilder darin, die
größtenteils keine Einfassung hatten, und auch den
alten Geistlichen, der immer so mit dem Kopfe wackelte. Neben dem
Grabhügel seiner Großmutter, auf dem ein
Leichenstein lag, war auch das kleine Grab seines jüngeren
Bruders, der im Alter von sechs Monaten gestorben war; auch diesen
hatte er eigentlich nicht gekannt und konnte sich seiner nicht
erinnern. Aber es war ihm gesagt worden, daß er einen kleinen
Bruder gehabt habe, und jedesmal, wenn er den Kirchhof besuchte,
bekreuzigte er sich fromm und ehrfürchtig über dem
kleinen Grabe, verneigte sich gegen dasselbe und
küßte es. Und nun träumt ihm: er geht mit
dem Vater auf der Landstraße nach dem Kirchhofe, und sie
kommen bei der Schenke vorbei; er hat den Vater an der Hand
gefaßt und blickt angstvoll nach der Schenke hin. Ein
besonderer Umstand fesselt seine
Aufmerksamkeit: heute scheint hier ein Volksvergnügen
stattzufinden; da drängt sich ein dichter Menschenhaufe, aus
geputzten Bürger- und Bauersfrauen, ihren Männern und
allerlei Gesindel bestehend. Alle sind betrunken, alle singen Lieder,
und vor der Tür der Schenke steht ein Wagen, aber ein
seltsamer Wagen. Es ist einer jener großen Wagen, vor die man
große Lastpferde spannt und auf denen man Waren und
Branntweinfässer transportiert. Er hatte immer gern diese
riesigen Lastpferde betrachtet, mit den langen Mähnen und den
dicken Beinen, wie sie ruhig und gemessen einherschritten und einen
ganzen Berg hinter sich herzogen, ohne besondere Anstrengung, ja, als
wäre es ihnen mit der beladenen Fuhre leichter zu gehen als
ohne diese. Aber jetzt ist wunderlicherweise an einen solchen
großen Frachtwagen eine kleine, magere, falbe Bauernkracke
gespannt, von der Art, wie sie sich (er hatte das oft gesehen) vielfach
mit einer hochgepackten Fuhre Holz oder Heu abquälen,
namentlich wenn der Wagen im Schmutze oder in tiefen Geleisen stecken
bleibt; und dabei hauen dann die Bauern immer so roh, so roh mit der
Peitsche auf sie los, manchmal gerade auf das Maul und in die Augen.
Und es hatte ihm immer so leid, so leid getan, das mitanzusehen,
daß er beinahe geweint hatte; die Mama hatte ihn dann immer
vom Fenster weggeführt. Aber plötzlich erhebt sich
ein großer Lärm: aus der Schenke kommen unter
Schreien und Singen, mit Balalaiken in den Händen, stierartig
betrunkene Bauern heraus, große Kerle in roten und blauen
Hemden, die Röcke nur lose übergeworfen.
»Setzt euch rauf, setzt euch alle
rauf!« schreit einer, ein junger Kerl mit dickem Halse und
fleischigem, rotem Gesichte. »Ich fahre euch alle, setzt euch
nur rauf!«
Gelächter antwortet auf diese
Aufforderung, und es wird geschrien:
»So eine Kracke! Die wird uns auch
gerade ziehen können!«
»Du bist wohl nicht
gescheit, Mikolka? So eine kleine Stute vor so einen Wagen zu
spannen!«
»Die kleine Falbe ist gewiß
schon ihre zwanzig Jahre alt, Brüder!«
»Setzt euch nur rauf; ich fahre euch
alle!« schreit Mikolka wieder, springt als erster auf den
Wagen, faßt die Zügel und stellt sich in seiner
ganzen Größe auf das Vorderteil. »Der
Braune ist schon lange mit Matwej davon«, schreit er vom
Wagen herunter. »Aber diese Stute tut weiter nichts als mich
ärgern, Brüder; ich möchte sie am liebsten
totschlagen; sie frißt ihr Futter umsonst! Hört ihr
wohl: setzt euch rauf! Ich will sie Galopp laufen lassen! Galopp soll
sie laufen!«
Er nimmt die Peitsche in die Hand und bereitet
sich mit einer wahren Wonne darauf vor, das Pferd zu schlagen.
»Na, setzt euch doch rauf! Immer
zu!« wird unter Lachen in der Menge gerufen.
»Hört ihr wohl? Sie soll Galopp laufen!«
»Die ist wohl schon seit zehn Jahren
nicht mehr Galopp gelaufen.«
»Das wird ein schöner Galopp
werden!«
»Nur keine Schonung, Brüder!
Jeder muß eine Peitsche nehmen; macht euch fertig!«
»Jawohl, jawohl! Die soll's
kriegen!«
Alle klettern unter Gelächter und
Witzworten auf Mikolkas Wagen. Sechs Mann sind hinaufgestiegen, und es
können noch mehr sitzen. Sie nehmen noch ein dickes Weib mit
gesunder, roter Gesichtsfarbe mit hinauf. Sie trägt ein rotes
baumwollnes Kleid, einen Kopfputz aus Glasperlen, an den
Füßen plumpe Schuhe; sie knackt Nüsse und
lacht. Ringsum in der Menge wird gleichfalls gelacht; und wirklich:
warum sollten sie auch nicht lachen? So eine jämmerliche
Mähre, und soll eine solche Last im Galopp ziehen! Zwei
Burschen auf dem Wagen nehmen sofort jeder eine Peitsche, um Mikolka zu
helfen. »Hüh!« ruft dieser, und die
Mähre zieht aus Leibeskräften, kann aber nicht
einmal im
Schritt damit zurechtkommen, geschweige denn im Galopp; sie trippelt
nur mit den Beinen herum, ächzt und knickt ein unter den
Hieben der drei Peitschen, die hageldicht auf sie niedersausen. Das
Gelächter auf dem Wagen und in der Menge verdoppelt sich; aber
Mikolka wird ärgerlich und peitscht in seiner Wut immer wieder
auf die Stute los, als ob er wirklich dächte, sie
würde noch galoppieren.
»Laßt mich auch mitmachen,
Brüder!« schreit ein Bursche aus der Menge, der
gleichfalls Lust bekommen hat.
»Steig nur rauf! Steigt nur alle
rauf!« ruft Mikolka. »Sie muß alle
ziehen. Ich peitsche sie zu Tode!«
Und er peitscht und peitscht und blickt sich um,
womit er sie wohl sonst noch in seiner Raserei schlagen könnte.
»Papa, Papa!« ruft das Kind
seinem Vater zu. »Papa, was tun sie da? Papa, sie schlagen
das arme Pferd!«
»Komm weg, komm weg!«
antwortet der Vater. »Es sind Betrunkene; sie treiben
Tollheiten, die Narren. Komm weg; sieh nicht hin.« Und er
will ihn wegführen; doch das Kind reißt sich von
seiner Hand los und läuft, seiner selbst nicht
mächtig, zu dem Pferde. Aber mit dem armen Tiere steht es
schon schlecht. Es verliert den Atem, bleibt stehen, zieht wieder an
und fällt beinahe hin.
»Peitscht sie tot!« schreit
Mikolka. »Jetzt geht's los! Ich peitsche sie zu
Tode!«
»Bist du denn kein Christenmensch, du
Satan?" ruft ein alter Mann aus dem Haufen.
»Hat man denn so etwas schon gesehen,
daß so eine Kracke so eine Fuhre ziehen soll!«
fügt ein andrer hinzu.
»Du wirst sie noch zu Tode
quälen!« ruft ein Dritter.
»Das geht dich nichts an! Sie ist mein
Eigentum. Ich kann mit ihr tun, was ich will. Steigt auch ihr noch
rauf! Steigt alle noch rauf! Sie muß noch Galopp
laufen!«
Plötzlich bricht ein allgemeines
Gelächter los und übertönt alles: die Stute
hat die unaufhörlichen Hiebe nicht mehr aushalten
können und in ihrer Not angefangen auszuschlagen.
Selbst der alte Mann kann sich des Lächelns nicht erwehren;
wahrhaftig komisch: so ein jämmerliches Tier, und
schlägt noch aus!
Zwei Burschen aus der Menge holen sich jeder eine
Peitsche und laufen zu der Stute hin, um sie von den Seiten zu hauen.
Jeder haut von seiner Seite.
»Aufs Maul! Haut sie in die Augen, in
die Augen!« schreit Mikolka.
»Ein Lied, Brüder!«
ruft einer auf dem Wagen, und alle, die darauf sind, fallen mit ein.
Ein Gassenhauer ertönt; ein Tambourin rasselt; im Refrain wird
gepfiffen. Das Weib knackt Nüsse
und lacht.
Der Knabe läuft von hinten an das Pferd
heran, läuft nach vorn; er sieht, wie es in die Augen
geschlagen wird, gerade in die Augen! Er weint; das Herz will ihm
brechen; die Tränen laufen ihm über die Wangen. Ein
Peitschenhieb streift ihm das Gesicht, er fühlt es nicht; er
ringt die Hände, er schreit, er stürzt zu dem
grauköpfigen, graubärtigen Manne hin, der den Kopf
schüttelt und dieses ganze Treiben mißbilligt. Eine
Frau faßt ihn an der Hand und will ihn fortführen;
aber er reißt sich los und läuft wieder zu dem
Pferde hin. Das Tier ist schon beinahe mit seiner Kraft zu Ende; aber
es beginnt noch einmal auszuschlagen.
»Hol dich der Satan!«
schreit
Mikolka
wütend. Er wirft die Peitsche hin, bückt sich
und zieht vom Boden des Wagens eine lange, dicke Deichselstange hervor,
faßt sie mit beiden Händen am einen Ende und holt
mit starker Anstrengung über der Falben aus.
»Er macht sie kaputt!«
schreien die Umstehenden.
»Er schlägt sie tot!«
»Sie ist mein Eigentum!«
schreit Mikolka und läßt mit aller Wucht die
Deichselstange niederschmettern. Man hört einen schweren,
dumpfen Schlag.
»Haut sie doch mit der Peitsche, haut
sie! Was steht ihr!« rufen Stimmen aus dem Haufen.
Mikolka aber holt zum zweiten Male
aus, und ein zweiter Schlag fällt mit aller Wucht auf den
Rücken der unglücklichen Mähre. Sie knickt
mit dem ganzen Hinterteil ein, springt aber auf und zieht und zieht mit
dem Aufgebot der letzten Kräfte nach dieser und jener Seite,
um den Wagen in Bewegung zu bringen; aber von allen Seiten schlagen
sechs Peitschen auf sie ein, und die Deichselstange erhebt sich von
neuem und fällt zum dritten und vierten Male im Takt wuchtig
nieder. Mikolka ist ganz rasend, daß er die Stute nicht mit
einem Schlage tot bekommt.
»Die ist zählebig!«
rufen die Umstehenden.
»Jetzt wird sie bestimmt gleich fallen,
Brüder; dann ist's mit ihr aus!« ruft aus dem Haufen
ein interessierter Zuschauer.
»Du solltest ein Beil nehmen und ihr
flink den Garaus machen!« ruft ein Dritter.
»Ach was, hol dich der Kuckuck! Macht
mal Platz da!« schreit Mikolka grimmig, wirft die
Deichselstange von sich, bückt sich noch einmal zum Wagen
hinunter und zieht eine eiserne Brechstange hervor.
»Vorgesehen!« ruft er und holt mit aller Kraft nach
seinem armen Pferdchen aus. Der Schlag schmettert nieder; die Stute
schwankt, sinkt zusammen, macht einen Versuch anzuziehen; aber die
Brechstange trifft sie von neuem mit voller Wucht in den
Rücken, und das Tier fällt auf die Erde, als
wären ihm alle vier Beine mit einem Male abgehauen.
»Nun gebt ihr den Rest!«
schreit Mikolka und springt wie ein Besessener vom Wagen herunter.
Einige Burschen, gleichfalls betrunken und mit geröteten
Gesichtern, ergreifen, was ihnen in die Hände kommt,
Peitschen, Stöcke, die Deichselstange, und laufen zu der
verendenden Stute hin. Mikolka stellt sich auf der einen Seite neben
das Tier und fängt an, es mit der Brechstange auf den
Rücken zu schlagen, wohin er gerade trifft. Die Mähre
streckt das Maul vor, holt noch einmal schwer Atem und stirbt.
»Na, nun hast du ihr das
Lebenslicht ausgeblasen!« ruft jemand in dein Haufen.
»Warum wollte sie auch nicht Galopp
laufen!«
»Sie ist mein Eigentum!«
schreit Mikolka, die Brechstange in den Händen, mit
blutunterlaufenen Augen. Er steht da, als bedauerte er, daß
nichts mehr da ist, was er schlagen könnte.
»Aber du bist wirklich ein rechter
Unchrist!" rufen jetzt viele Stimmen aus der Menge.
Der arme Knabe ist ganz fassungslos. Laut
aufschreiend drängt er sich durch den Schwarm hindurch zu der
Falben hin, umfaßt ihren toten, blutigen Kopf und
küßt ihn; er küßt sie auf die
Augen, auf die Lefzen. Dann springt er plötzlich auf und
stürzt in heller Wut, die kleinen Fäuste ballend, auf
Mikolka los. In diesem Augenblicke bekommt der Vater, der schon lange
hinter ihm her ist, ihn endlich zu fassen und trägt ihn aus
dem Gedränge hinaus.
»Komm weg, komm weg!« sagt er
zu ihm. »Wir wollen nach Hause gehen!«
»Papa! Warum haben sie… das
arme Pferd… totgeschlagen?" schluchzt er; aber er bekommt
keine Luft, und die Worte ringen sich wie einzelne Schreie aus der
gepreßten Brust.
»Sie sind betrunken,… sie
treiben Unfug,… es geht uns nichts an,… komm
weg!« sagt der Vater. Der Knabe schlingt beide Arme um den
Vater; aber die Brust ist ihm so beengt, so furchtbar beengt. Er
möchte Luft holen, aufschreien, und – er erwacht.
Er erwachte, ganz in Schweiß gebadet,
mit feuchtem Haar, keuchend, und stand angstvoll auf.
»Gott sei Dank«, sagte er,
»es war nur ein Traum.« Er setzte sich unter einen
Baum und holte tief Atem. »Aber wie kommt das?
Kündigt sich ein hitziges Fieber bei mir an? So ein
grauenhafter Traum!« (...)
(aus "Schuld und Sühne" von
Fjodor
Dostojewski)
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