Nikki Tibbles, Martyn Thompson: "wild at heart"
Junge floristische Ideen aus London
Blumen sind für Nikki Tibbles etwas ganz Besonderes, und sie versucht ihnen den Stellenwert zu geben, wie ihn Mode, Design und Architektur bei uns besitzen. Sie begann damit, dass sie 1993 ihren ersten Blumenladen in Notting Hill eröffnete und ihn vielversprechend "Wild at Heart" taufte. Neben einem zweiten Blumenladen gelang es ihr nun, diesen herrlichen Bildband zu veröffentlichen. Gemeinsam mit dem Lifestylefotografen Martyn Thompson schuf sie ein Werk üppigster Farbenpracht. Es gelingt ihr, Blumen als wesentlichen Bestandteil eines Raumes oder Anlasses ins Bild zu bringen und sie in enger Harmonie mit ihrer Umgebung verschmelzen zu lassen, wobei sie die Schlichtheit betont, indem sie mit großen Mengen einer einzigen Blumensorte, einem einzelnen Blütenstängel, unterschiedlichen Größen und Proportionen und verschiedenen Farbabstufungen experimentiert. Tibbles gliedert das Buch den fünf nachfolgend näher erläuterten Schwerpunkten entsprechend: rein, weiblich, sinnlich, geheimnisvoll und chaotisch.
Reinheit
- eine Beschränkung auf das Wesentliche. Ihre Farbe ist das
Weiß, was nicht mit dem Farblosen zu verwechseln ist. Ein
Raum, ganz in Weiß gehalten, bekommt seinen Impuls durch das
Wesen der Blume in ihm. Wir sehen einen weiß gestrichenen
Raum und durch eine Öffnung weitere ebenso weiße
Räume. Auf einem weißen Tisch stehen hohe
weiße Vasen. Eine enthält crèmefarbigen
Rittersporn, wodurch der Raum weich und natürlich wirkt. Die
nächste Seite zeigt uns dieselbe Architektur, jedoch wirkt der
Raum strenger durch die Muschelblumen, die in einer hohen schwarzen
Vase stecken. Dieselbe Kameraeinstellung, dieselben weißen
Räume. Diesmal sehen wir aber einen bunten Farbtupfer. Rote Rosen,
eng gebunden, stecken in einer hohen weißen Vase. Ein und
dieselben Räumlichkeiten verändern leicht ihren
Charakter durch die starke Ausdruckskraft der Blumen. Der Abschluss der
Reinheit ist ein nackter Frauentorso, der in unentschlossener Hand eine
weiße Tulpe
mit grünem Stil und grünen Blättern vor
seinem Bauch hält.
Die
Weiblichkeit
ist violett und üppig, nahezu barock. Das Schlafzimmer lockt.
Ein Bett, davor eine mit grauem Satin bezogene Couch und ein
purpurroter Flokati. Pantöffelchen weisen auf die Gegenwart
einer Frau hin, die man noch ganz nahe vermutet. Neben der Couch steht
ein Tischchen, darauf eine Vase mit Schachbrettblumen. In einer anderen
Wohnung, aber wieder neben dem Bett, liegen Kleider wie achtlos
hingeworfen. Ein Kranz Flieder scheint die Farben der Kleider zu
spiegeln. In einer weiteren Wohnung versuchte die Frau, den Raum in ein
besonderes Licht zu tauchen, indem sie eine weiße und eine
blaue Glühbirne verwenden wollte. Nur die blaue brennt nicht.
So fällt schwaches Licht auf einen gerahmten Akt und auf
dichte Büsche violetten, voll erblühten Flieders.
Fast zufällig fällt noch ein pinkfarbenes,
hauchdünnes Dessous auf, welches über die
Rückenlehne eines Stuhls gelegt wurde. Dann zeigt ein Bild das
Heiligtum des Schlafzimmers, das Bett. Die schlanken Beine einer auf
dem Bauch liegenden Frau sind zu sehen, und auf hellblauer
Seidenwäsche liegen pinkfarbene Rosen wild verstreut.
Die
Sinnlichkeit
beginnt mit hellem Rot. Ist Sinnlichkeit auch derb und
zügellos, so wird sie doch wieder durch die Form und grauen
Farben gestutzt. Ein Vorgang der im kühlen England
möglich ist, im heißen Süden Europas nie
stattfinden könnte: Zwei violette Anemonen liegen
groß und flächendeckend auf gerade strukturiertem
Stoff. Wieder kommt die Zügellosigkeit ins Spiel. Ein bunter
Raum, viel Glas und viele Spiegel. Zur Linken und im Hintergrund ein
schwarzes Ledersofa, zur Rechten ein Glastisch mit Rahmen und
Füßen aus blankem Metall. Darauf zwei
weiße Tassen mit Zebrastreifen, eine schwarze Kaffeekanne und
violetter Flieder dahinter. In der Mitte die Zügellosigkeit.
Sie steht mit Strümpfen in Riemchenschuhen leicht
dämlich da, ein schwarzer Rock mit buntem Blumenmuster reicht
bis zu die Knien, der Bauch ist frei, die Brüste von einem
Spitzenbra verborgen, und in der Hand hält sie die
Sünde der Frau:
Schokolade.
Sie hat noch nicht davon gegessen. Hat sie es vor? Bevor frau jedoch
der Kontrolle verlustig wird, wird sie von zwei hohen, grauen Vasen
zurückgehalten, die jede eine dunkelrote Calla enthalten.
Das
Geheimnisvolle
beginnt mit einer dunkelroten Rose, die im schwarzen Raum über
einem roten Tisch schwebt. Ein wenig weiter liegt sie neben schwarzen
Essstäbchen auf eben diesem. Zwei, drei Wassertropfen geben
das Gefühl der Lebendigkeit. Und so zieht sich die rote Farbe
durch das Geheimnisvolle. Auf einem roten Tisch in grauer Umgebung
stehen drei würfelförmige, graue Vasen. Sie enthalten
dichte Sträuße roter Nelken,
deren Grün in den Tiefen der Vasen verschwindet. Einige wenige
blaue und weiße
Hortensien
brechen hie und da das Rot. Und ein Blick über das dunkle
London lässt das Geheimnisvolle enden.
Das
Chaos
ist bunt und wild. Das Chaos ist jung. Ein gestricktes Top auf
purpurnem Stoff, behangen mit Seidenblumen, echten Rosen und Mohn. Eine
rote Vase vor blauer Wand, gefüllt mit purpurnem und blauem
Mohn. Rote Wände, roter Ledersessel, rote Vase mit Veilchen.
Ein Puppenaffe vor einer Vase mit
Mohn,
Kleidchen und Handtäschchen. Langsam denken wir an ein
Kinderzimmer. Dann aber wieder rote, orangefarbene und gelbe Ranunkeln
in einer weiten, blaugrünen Glasvase positioniert auf violett
gefärbtem Lammfell. Wir vermuten doch eher eine Filmdiva.
Rechts schwarz lackierte Bretter, auf denen gelbe und rote
Rosenblätter verteilt sind, und links ein Kind mit
großen Augen, in der Hand das "Tagebuch eines Genies.
Salvador Dalí".
Wahrlich, in diesem Kapitel werden wir hin und her geschleudert mit
unseren Gefühlen, und uns droht manchmal der Boden unter den
Füßen zu entgleiten.
Abgeschlossen wird das Buch von einem Pflanzenglossar, das in wenigen Worten wertvolle Tipps enthält, wie man die einzelnen Blumen lange am Leben erhält und zu welchen Jahreszeiten man mit ihnen rechnen kann, sowie einer Adressenliste. Letztere enthält viele Geschäfte in London, einige in Deutschland und in der Schweiz. Wien dürfte über Geschäfte dieses Niveaus nicht verfügen oder vergessen worden sein. Das Buch ist gelungen in seinen hervorragenden Aufnahmen und seinem auf das Wesentliche reduzierten Text. Es stellt eine Anregung der eigenen Fantasie und Kreativität dar. Ein Buch von Künstlern gemacht und selbst ein Kunstwerk. Nur schade, dass hie und da Abreibungen der Fotos und Verschwimmen der Druckerschwärze etwas ablenken und so den Gesamteindruck leicht mindern.
(Pierre de Carois; 03/2003)
Nikki
Tibbles, Martyn Thompson: "wild at heart"
Gerstenberg, 2001. 144 Seiten.
ISBN
3-8067-2883-6.
ca. EUR 49,90.
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