Luc Deflo: "Nackte Seelen"
"Was war mit dem Blut im Flur? Hatte er es aufgewischt und den Putzlappen mitgenommen? War das durchtränkte Tuch seine Beute? Saß er jetzt in einem dunklen Winkel und roch oder leckte daran?"
"Nackte
Seelen" führt
den Leser nach Belgien, wo in dem schönen Ort Mechelen eine
grausam
zugerichtete Familie ermordet in ihrem eigenen Haus gefunden wurde.
Aufgrund der
Tatumstände beschließt Inspektor Bosmans, dass er
dringend Hilfe von außerhalb
seiner Dienststelle benötigt.
Der "Held" dieser Geschichte,
Dirk
Deleu, ist eigentlich nicht im
Dienst und wird nun für diesen Fall, der Ende der 1990er Jahre
spielt,
reaktiviert. Eine Tatsache, die ihn beunruhigt und seiner Frau gar
nicht
gefallen will. Aber es geht darum, Menschenleben zu retten, und so will
sie ihm
nicht im Weg stehen, was sie mit der Zeit mehr belasten wird, als sie
zunächst
ahnt.
Deleu fühlt sich relativ schnell belastet, als er an dem
fraglichen ersten
Tatort eintrifft und später auf der Wache auch noch mit
einigen politischen
Altlasten seiner vorhergehenden Karriere konfrontiert wird. Aber eine
weitere
massakrierte Familie lässt ihn darüber nicht
sonderlich lange nachsinnen, was
ihm schließlich auf Umwegen zum Verhängnis werden
soll; zusammen mit einer
sehr großen Dummheit, die er begeht.
In den letzten acht Jahren hat sich
ermittlungstechnisch einiges getan,
zumindest in Kriminalromanen und im Fernsehen, weswegen die Geschichte
insgesamt
ein wenig "altbacken" daherkommt, was die Ermittlungstechnik anbelangt.
Und ein Polizist ohne eigenes Mobiltelefon erscheint einem nachgerade
unwahrscheinlich im Jahr 2007.
Da dem Leser die Figur des Psychopathen schon sehr früh - kurz
nach dem ersten
Drittel des Buches - vorgestellt wird, bleibt die Spannung
insgesamt mäßig
bis nichtexistent. Der Klappentext und das Titelbild erzeugen da
deutlich mehr
Herzklopfen als der Inhalt dieses Romans.
Der Klappentext ("Fieberhaft versucht Polizeipsychologe Dirk
Deleu, sich
in die kranke Gedankenwelt jenes brutalen Killers hineinzuversetzen,
der in
Mechelen ganze Familien auslöscht. So sehr vergräbt
er sich in den Fall, dass
er die Parallelen zwischen seinem eigenen Leben und dem der Opfer
übersieht.
Dabei plant der Täter, den sein hohes Amt vor Entdeckung
schützt, bereits sein
nächstes blutiges Ritual ...") weist
darüber hinaus auf
Handlungsaspekte hin, die in diesem Buch - noch nicht? - vorkommen, und
tatsächlich
scheint die letzte Buchseite einen Hinweis auf eine Fortsetzung zu
liefern ...
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 08/2007)
Luc
Deflo: "Nackte Seelen"
Übersetzerin: Stefanie Schäfer.
Knaur, 2007. 362 Seiten.
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Luc Deflo ist der meistverkaufte Thrillerautor Belgiens und mit seiner Reihe um Untersuchungsrichter Jos Bosmans und Kommissar Dirk Deleu auf die vorderen Plätze der Verkaufsrangliste abonniert. Sein Debütroman "Nackte Seelen" wurde für den renommierten "Hercule-Poirot-Preis" nominiert und verfilmt.
Leseprobe:
Dirk Deleu begrüßte Jos Bosmans mit einem
kräftigen Händedruck, hängte
dessen tropfnassen Mantel an die Garderobe, lud ihn ein, sich zu
setzen, und bot
ihm ein Glas Bier an.
Während Deleu in der Küche verschwand, runzelte
Bosmans die Stirn und starrte
gedankenverloren auf die sanften Wellen des Semois. Nicht einmal der
von Windböen
gepeitschte starke Regen vermochte den spiegelglatten Riesen aus der
Ruhe zu
bringen.
Bosmans blickte nach oben. Bis zum Platzen gefüllte Wolken
hingen so tief, dass
sie die ruhige Wasseroberfläche zu berühren schienen.
Trotz der heftigen
Windstöße regten sie sich nicht. Ein
Kräftemessen. Er schloss die Augen,
wischte sich mit dem Handrücken die Regentropfen von den
dichten Augenbrauen
und bohrte mit dem kleinen Finger in seinem linken Ohr. Der
Wassertropfen, der
sein Trommelfell überspannte, zerplatzte. Kein Sperrfeuer
mehr. Eiskalte
Stille. Die Jäger waren abgezogen.
Wann öffnen die Wolken
ihre Schleusen? Wann gerät der
Fluss aus dem
Gleichgewicht? Wann verliert er seine Würde und verwandelt
sich in einen
rasenden Wassergott, der keinen Unterschied zwischen Gut und
Böse kennt? Wann
und vor allem: warum?
Bosmans blickte hinauf zum Himmel. Eine formlose Masse war dabei, das
Dach zu
verschlingen; die Fernsehantenne bohrte sich ihr in den aschgrauen
Unterleib. Er
hielt den Atem an.
"Trinkst du etwa immer noch im Dienst?", ertönte es
vorwurfsvoll aus der Küche.
"Ja, aber keine Whiskey-Cola mehr, Dirk. Die Zeiten sind vorbei."
"Die Zeit, mein Gott, wo ist sie geblieben. Weißt du noch,
damals im 'Engel'?", fragte Deleu, stellte eine kleine Flasche
Jupiler-Bier vor
Bosmans auf den Wohnzimmertisch und setzte sich ihm gegenüber.
"Nach dem
zehnten Whiskey ist dieser Rechtsradikale vom Vlaams Blok einfach wie
ein Stein
vom Barhocker gekippt", fügte er grinsend hinzu.
"Ja, und die ganze Kneipe rief: Sieg heil!"
"Davon hat keiner der Kollegen je etwas erfahren."
"Stimmt", seufzte Bosmans. "Das waren noch Zeiten. Wir haben einiges
zusammen
mitgemacht."
Die beiden alten Freunde stießen klirrend an und tranken von
ihrem Bier. Sie
betrachteten sich gegenseitig schweigend und voller
Wertschätzung. Jos Bosmans
wandte als Erster den Blick ab und starrte hinaus auf den Wasserfall,
der vor
den Verandafenstern niederrauschte.
Glich er mehr dem Strom, der Wolke oder dem bohrenden Pfriem?
Deleu beobachtete seinen Freund. Er hatte sich verändert. Der
energiegeladene Fünfziger,
ein muskulöser ehemaliger Ringer, war mager geworden, mager
und gebeugt. Die
Hose schlackerte ihm um die Beine, und seine eingefallenen Wangen
erinnerten an
einen Leprakranken.
Deleu hatte die Zeitungen gelesen. Er wusste, weshalb sein alter
Kollege
gekommen war.
"Was weißt du über den Fall?"
"Das, was in den Zeitungen stand und was du mir am Telefon
erzählt hast",
antwortete Dirk. "Es soll ein Raubmord gewesen sein."
"Nein, es war kein Raubmord. Es war ein Gemetzel, eine rituelle
Schlachtung.
Die ganze Familie wurde bestialisch ermordet. Wir haben die Presse
absichtlich
falsch informiert, um Panik in der Bevölkerung zu vermeiden."
Bosmans legte eine Hand auf den Mund, fasste sich an die Nase, warf
einen
gehetzten Blick über die Schulter und murmelte: "So etwas habe
ich noch nie
gesehen, Dirk. Das ist eine Bestie ... In Mechelen treibt eine Bestie
ihr
Unwesen. Vielleicht auch zwei. Wir vermuten ein Mann und eine Frau."
"Warum?"
"Die Stichwunden stammen offenbar von verschiedenen Personen und wurden
den
Opfern zu unterschiedlichen Zeitpunkten zugefügt. Ich darf gar
nicht daran
denken, dass sie wirklich zu zweit sind."
Bosmans schüttelte sein massiges graues Haupt, ballte die
Fäuste und seufzte.
Ein verzweifeltes Seufzen.
Deleu fragte sich, ob das zu seiner Taktik gehörte.
"Wer leitet die Ermittlungen?"
"Verstappen."
"Ist der jetzt schon bei der Kripo?", fragte Deleu gereizt.
Bosmans nickte gelassen.
"Er hat es inzwischen zum zukünftigen Schwiegersohn von
Staatsanwalt
Verspaille gebracht."
"Schritt für Schritt die Leiter rauf", bemerkte Deleu trocken,
zündete eine
Belga an, inhalierte tief und blies eine Rauchwolke hinauf zur Decke.
"Diese Krebsstengel bringen dich noch mal ins Grab."
"Ja, Papa."
Als sich ihre Blicke trafen, zupfte Bosmans unsicher an seiner
geblümten
Krawatte. Ein drückendes Schweigen trat ein.
"Wie weit seid ihr denn mit euren Ermittlungen?", fragte Deleu
schließlich.
"Wir haben noch gar nichts."
"Die Opfer, was für Leute waren das?" Bosmans zog einen
braunen Umschlag aus
der Innentasche seines Jacketts und öffnete ihn
zögernd.
"Ganz normale Leute. Auf den ersten Blick eine glückliche
Familie." Er räusperte
sich und überreichte Deleu einen Stapel Fotos. Das oberste war
ein gewöhnlicher
Ferienschnappschuss: Eine langbeinige Blondine zog ein lachendes
Mädchen in
einem Gummiboot durch die flachen Wellen am Meeresstrand. Auf dem
zweiten Foto
posierten zwei Erwachsene und ein Kind in Skiausrüstung neben
einem Lift. Alle
drei so vermummt, dass man sie nicht erkennen konnte. Anhand der
blonden Locken,
die unter der Mütze des Kindes hervorschauten, vermutete
Deleu, dass es sich um
dasselbe Mädchen wie in dem Gummiboot handelte.
Er schob das zweite Foto achtlos unter den Stapel. Dann stockte ihm der
Atem,
und der Magen drehte sich ihm heftig um. Diesmal lag die blonde Frau im
Bett.
Nackt, die Hände auf der Brust gefaltet, die Finger krampfhaft
ineinander
verschränkt. Ihre geöffneten Augen drückten
abgrundtiefes Entsetzen aus, und
ihr Körper, der mehrere Stichwunden aufwies, war mit
geronnenem Blut bedeckt.
Im Unterleib klaffte ein großes Loch. Die Wand hinter ihr war
über und über
mit bräunlichen Flecken bedeckt. Blutspritzer, zweifellos. Das
Foto glitt Deleu
aus den Fingern und flatterte zu Boden.
"Wir haben sie erst zwei Tage später gefunden", stammelte
Bosmans und zuckte
mit den Schultern, als wolle er sich dafür entschuldigen.
Seine Oberlippe
zitterte. "Die Gebärmutter ist entfernt worden." Deleu raffte
die Fotos
zusammen und warf sie Bosmans in den Schoß.
"Bist du verrückt? Barbara kann jeden Moment reinkommen, und
Rob muss hier
auch irgendwo in der Nähe sein."
Bosmans steckte die Fotos schweigend in den Umschlag und verbarg diesen
wieder
in der Innentasche seines Jacketts.
Die Stille war zum Schneiden. Bosmans mied Deleus Blick und blickte auf
seine
schlammbespritzten Schuhspitzen. Er hatte keine Wahl. Er musste Deleus
Panzer
durchbrechen. Die heftige Reaktion seines Freundes weckte zumindest
Hoffnungen.
Das Foto hatte seine Wirkung nicht verfehlt.
Bosmans hatte den Moment seines Erscheinens sorgfältig
gewählt. Geduldig hatte
er im Wagen gewartet und erst an der Tür geklingelt, nachdem
Barbara um die
Ecke gebogen war. Rob war schon vorher weggefahren, ein
Mädchen hinten auf dem
Gepäckträger seines Fahrrads, vermutlich seine
Freundin. Wusste Deleu, dass
sein Sohn eine Freundin hatte? Wahrscheinlich schon. Deleu
besaß einen sechsten
Sinn für solche Dinge. Von allen Ermittlern, die Bosmans
kannte, verfügte er
über die ausgeprägteste Intuition. Sein
Einfühlungsvermögen war phänomenal.
Er brauchte Deleu.
"Tut mir leid, Jos, ich kann dir nicht helfen. Die Zeiten sind vorbei."
Deleu
verzog keine Miene, obwohl ihm das Blut in den Schläfen
pochte. "Seit wir mit
dem 'Witte Mars' gegen die Schlampereien bei der
Dutroux-Affäre
demonstriert haben, habe ich mich nicht mehr so mies gefühlt",
fauchte er.
"Das ist ja schon mal ein Anfang", stellte Bosmans mit der
Hartnäckigkeit
eines Bluthunds fest. Obwohl er Deleu liebte wie einen Sohn, war er
nicht
bereit, seine Beute entkommen zu lassen.
"Noch ein Bier?"
"Wenn du auch noch eins mittrinkst."
Während Deleu steifbeinig in die Küche ging,
betrachtete Bosmans das Innere
des Chalets. Es strahlte Ruhe aus. Neben dem knisternden Kamin stand
ein
dekorativer Weidenkorb mit Holzscheiten, und in einem verbeulten
Kupferkessel
gluckste Wasser. Die Einrichtung wirkte schlicht, aber solide. Solide
und
langweilig. Nach seinem vorübergehenden Abschied von der Kripo
- er hatte
Laufbahnunterbrechung beantragt - hatte Dirk Deleu sein Haus in
Mechelen
verkauft und sich mit seiner Familie an diesem ruhigen, friedlichen Ort
niedergelassen.
Bosmans fragte sich, womit Deleu in dieser gottverlassenen Gegend
eigentlich
seinen Lebensunterhalt verdiente. Ein Ermittler der Kriminalpolizei im
Exil.
Ein ausgebrannter Beamter. Obwohl, als studierter Psychologe und
Kriminologe
hatte er wahrscheinlich schnell eine Stelle gefunden.
Deleu knallte die Flaschen auf den Wohnzimmertisch und ließ
sich tief in die
weichen Sofakissen sinken.
"Womit verdienst du zurzeit dein
Geld?"
"Mit meinem Nebenberuf. Als Betriebspsychologe. Aber jetzt mal raus mit
der
Sprache: Wie weit seid ihr denn nun wirklich mit euren Ermittlungen?"
"Wie ich bereits sagte, nicht viel weiter als das, was du in den
Zeitungen
gelesen hast", seufzte Bosmans. "Der Täter hat große
Füße, trägt
vermutlich Schuhgröße 45, kann ein Schloss
öffnen, ohne Spuren zu
hinterlassen, und er kann mit Messern um gehen."
"Fingerabdrücke?"
Bosmans lächelte. Diese Verbissenheit, er besaß sie
noch immer.
"Jede Menge, auch Speichel. Außerdem muss er verletzt worden
sein, denn in den
Kehlen von Mijnheer und Mevrouw Poulders wurde Blut
von einer anderen
Person
festgestellt."
"Was sagt die Analyse?"
"Nicht viel Aufschlussreiches. Männlich, in keiner unserer
Datenbanken
registriert. Kein einziges stichhaltiges Indiz."
Deleu räusperte sich, trank einen großen Schluck,
starrte an die Decke, zündete
sich erneut eine Zigarette an und schloss die Augen. Bosmans setzte
noch einen
drauf: "Er genießt es, Dirk."
Deleu blieb stumm.
"Er hat schmale Lippen und kurze Wimpern, ist
höchstwahrscheinlich rothaarig.
Und er fährt einen aschgrauen Renault, wahrscheinlich einen
..."
"Wie bitte?", unterbrach ihn Bosmans. "Was? Warum glaubst du
..."
Deleu machte ein ernstes Gesicht und verengte die Augen zu Schlitzen.
Bosmans
war zu sehr in Gedanken, um das schalkhafte Funkeln zu bemerken.
"Bist du ... glaubst du wirklich, dass er ... woher weißt du
...?", stammelte
er.
"Sein rechter Fußabdruck ist tiefer als sein linker", fuhr
Deleu mit
stoischer Ruhe fort.
"Was? Hast du schon auf eigene Faust ermittelt? Wie kommst du darauf?",
fragte
Bosmans aufgeregt. (...)