(...) Erst morgens
wachte Yao Chin auf, blickte sich um und bemerkte, dass jemand neben ihr lag.
"Wer sind Sie?" fragte sie.
"Mein Name ist Chin."
"Ich war in der letzten Nacht sehr
betrunken, nicht wahr?"
Sie hatte nur eine vage Erinnerung an die Geschehnisse dieser Nacht.
"Nicht besonderes", log er.
"Habe ich mich erbrochen?"
"Nein."
"Dann war es doch nicht so schlimm."
Nach kurzer Überlegung sagte sie jedoch:
"Nein, ich erinnere mich, dass ich gebrochen und dann etwas Tee getrunken
habe. Ich kann das doch nicht geträumt haben."
"Na ja", gab Chin zu, "es stimmt schon. Als ich sah, dass Sie
zu viel getrunken hatten, hielt ich für Sie eine Kanne heißen Tee bereit. Nachdem
Sie sich erbrochen hatten, baten Sie um Tee, und ich habe Ihnen zwei Tassen
eingegossen."
"Habe ich im Bett gebrochen?" fragte Yao Chin verstört. "Wie
widerlich!"
"Ich hatte Angst, dass Ihr Bettzeug schmutzig werden könnte und hielt daher
meinen Ärmel unter Ihren Kopf."
"Wo ist Ihr Gewand jetzt?"
"Da drüben."
"Oh, ich schäme mich so, dass ich Ihre Kleidung beschmutzt habe!"
"Meine Kleidung ist glücklich, dass sie Ihnen dienlich sein konnte."
"Was für ein netter, rücksichtsvoller Mann", dachte Yao Chin und Chin
gefiel ihr immer mehr.
Es war bereits hell, und das Mädchen verließ das Bett. Plötzlich erkannte sie
den Ölverkäufer.
"Sagen Sie mir jetzt die Wahrheit", verlangte sie, "wer sind
Sie und was hat Sie letzte Nacht hierher gebracht?"
"Die Blumenkönigin vermag ich nicht zu belügen", war die Antwort.
"Ich bin Chin Chung, der an Ihrer Tür Öl verkauft."
Er erzählte ihr, wie er sie zum ersten Mal gesehen, als sie einen Gast zum Tor
begleitet hatte. Er sagte ihr auch, wie sehr er sie bewundere und wie er das
Geld für eine Nacht mit ihr zusammengespart hatte.
"Ich halte mich für den glücklichsten aller Menschen", schloss er,
"da ich die letzte Nacht neben Ihnen schlafen konnte. Ich bin vollauf zufrieden."
Yao Chin war sehr gerührt.
"Letzte Nacht war ich viel zu betrunken, um mit Ihnen schlafen zu können,
und so haben Sie Ihr Geld für rein gar nichts ausgegeben", sagte sie. "Tragen
Sie mir das nach?"
"Sie sind meine Göttin"; erwiderte Chin. "Ich fürchte, ich habe
gar nicht gut genug auf Sie aufgepasst und bin sehr glücklich, dass Sie auf
mich nicht böse sind. Worauf soll ich noch hoffen?"
"Sie sind ein Geschäftsmann", sagte sie. "Wenn Sie das Geld verdienen,
warum verwenden Sie es nicht darauf, Ihre Familie
zu unterhalten? Sie sollten sich nicht in einem Haus
wie dem unsrigen zeigen."
"Ich habe weder Frau noch Kinder", war seine Antwort. "Ich bin
ganz allein."
"Werden Sie wiederkommen?" fragte sie nach einer kleinen Überlegung.
(...)
(aus "Der
Ölverkäufer und das Freudenmädchen"; anonym; späte Ming-Dynastie)