Hwang Sok-yong: "Der ferne Garten"


Nach siebzehn Jahren politischer Gefangenschaft wird Ende der 1990er-Jahre der südkoreanische Oppositionelle Oh Hyunuh aus dem Gefängnis entlassen. Nur mit Mühe kann er sich in der früher vertrauten, jetzt fremden Umgebung orientieren, entdeckt unbekannte technische Geräte, muss seine Familie neu kennen lernen und erfährt im Taumel der Befreiung, dass seine Geliebte, die Künstlerin und Lehrerin Han Yunhi, drei Jahre vor seiner Freilassung gestorben ist.

Um seine Orientierungslosigkeit zu überwinden, reist er durch ein Land, das ihm fremd wurde, und versucht vergeblich, an sein Leben vor der Haft anzuknüpfen. In seinen Gedanken dominieren vorerst Erinnerungen an politische Kämpfe und Utopien und schließlich die langen Jahre der Gefangenschaft. Seine Geliebte, zu der er während der Haft keinen Kontakt haben durfte, hinterließ ihm Skizzen, Gemälde, Briefe und ein Tagebuch, in dem er die verlorene Zeit ihrer Liebe wiederfindet.

In jenem verlassenen Gartenhaus, wo die Liebenden die einzigen idyllischen Monate ihres Lebens verbrachten, vertieft er sich sechs Tage lang in das Tagebuch. Aus Lektüre, Erinnerungen und wenigen Gespräche mit alten Bekannten entsteht das Porträt einer großartigen Künstlerin und Frau, die im Widerstand aktiv war und die Jahre der deutschen Wiedervereinigung im Exil in Berlin erlebte.

"Hast du ihn gefunden, unseren Garten?" fragt ihn Han Yunhi im Traum. Oh Hyunuh entdeckt nicht nur seine Liebe wieder. Die Aufzeichnungen seiner Geliebten lotsen ihn in die Gegenwart und zur gemeinsamen Tochter ...

Dieser Roman hat deutliche autobiografische Züge: Auch der Autor Hwang Sok-yong, geboren 1943, engagierte sich gegen die Militärdiktatur und verbrachte mehrere Jahre in politischer Gefangenschaft, zuletzt von 1993 bis 1998 wegen einer verbotenen Reise nach Nordkorea. Wie die Malerin Han Yunhi erlebte er im Exil in Deutschland den Fall der Berliner Mauer.

"Der ferne Garten" ist eine Geschichte der gestohlenen und geschenkten Zeit und ein Gleichnis für Korea. Die historischen Ereignisse der zwei Jahrzehnte von den Massakern von Gwangju (1980) bis zur Etablierung einer demokratischen Regierung im Jahre 1998 verlor der Protagonist Oh hinter Gefängnismauern; innerhalb nur einer Woche holt er die versäumte Zeit nach, empfängt sie in der Hinterlassenschaft seiner Geliebten als Collage von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Als Liebesgeschichte ist der Roman tragisch ergreifend: die Lebenszeiten der Liebenden klafften auseinander, die Politik eines Landes, in dessen Geschichte Teilung und Trennung ebenso überwiegen wie in dieser Beziehung, raubte ein erträumtes gemeinsames Leben.

(Wolfgang Moser; 08/2005)


Hwang Sok-yong: "Der ferne Garten"
Übersetzt von Kang Seung-hee, Oh Dong-sik und Torsten Zaiak.
dtv, 2005. 520 Seiten.
ISBN 3-423-24460-7.
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Hwang Sok-yong veröffentlichte 1962 seine ersten Erzählungen und erhielt sofort einen Nachwuchspreis. Es folgten zahlreiche weitere Erzählungen, bis er im Jahr 1972 mit seinem ersten Roman "Die Geschichte des Herrn Han" den großen Durchbruch schaffte.
1978 zog er aus Seoul nach Gwangju, wo er 1980 den Aufstand gegen die Militärdiktatur miterlebte, dessen blutiger Ausgang ihn für eine Weile auf die Insel Jeju zwang. 1982 kehrte er nach Gwangju zurück und veröffentlichte zwei Jahre später den zehnbändigen Roman "Dschang Gilsan". 1989 reiste er auf Einladung des Literatur- und Kunstverbandes zum ersten Mal nach Nordkorea, gefolgt von einer weiteren Reise im folgenden Jahr zur Versammlung aller Völker nach Pjöngjang. 1989/90 Aufenthalt als Gastschriftsteller in der Akademie der Künste in Berlin, 1991 bis 1993 Aufenthalt als Gastschriftsteller an der Long Island University in den USA. 1993 kehrte er nach Südkorea zurück und wurde wegen seiner Reisen nach Nordkorea zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt.
1998 wurde er im Rahmen einer Amnestie für politische Gefangene vom neugewählten Präsidenten Südkoreas, Kim Dae-jung, nicht nur freigelassen, sondern danach sogar offiziell als südkoreanischer Kulturvertreter nach Nordkorea geschickt.

Zwei weitere Bücher des Autors:

"Die Geschichte des Herrn Han"

Hwang Sok-yong erzählt die Geschichte eines nordkoreanischen Arztes, die beispielhaft für die Tragödie Koreas im 20. Jahrhundert ist:
Herr Han, ein nordkoreanischer Arzt, gerät während des Koreakriegs in seiner Heimat in Konflikt mit der Partei, wird zum Tode verurteilt und kann gerade noch in den Süden fliehen. Doch dort wird er als Spitzel denunziert und vom südkoreanischen Geheimdienst ins Visier genommen. Nach Jahren im Gefängnis lässt man ihn endlich frei, sein Leben aber ist zerstört.
Die französische Erstausgabe löste 2002 ein überwältigendes Presseecho aus. (dtv) zur Rezension ...
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"Der Gast" zur Rezension ...

Leseprobe:

Die Schritte kamen immer näher.
Sie waren selbstsicher und fest und klangen so, als würde nicht mit Schuhen auf den Boden getreten, sondern geschlagen.
Es war der Wachleiter, der seinen letzten Tagesrundgang machte.
»Keine besonderen Vorkommnisse!« riefen die Posten in der Außenwachstube.
Er mußte durch zwei Eisentore, um zu unserem Gebäude zu gelangen. Ich schlug meine wattierte Decke zurück und setzte mich auf. Sobald ich das Bett verlassen hatte, stieg mir die stechende Kälte des Tagesanbruchs in die Knochen. Ich zog die Hüttenschuhe aus, die ich über die dicken Wollsocken gezogen hatte, nahm meine Mütze ab, die ich aus einer Socke gefertigt hatte, und zog den Häftlingsdrillich über. Auf der Jacke standen in Brusthöhe Zellennummer des Gefängnisses und meine eigene Nummer. 1444, das war seit langem mein Name. Meinen richtigen Namen hatte ich fast vergessen. Wann hatte ich diese Nummer bekommen? Ich wurde immer nur mit dieser Nummer gerufen, sei es beim Morgenappell, beim Austeilen der Post, bei der Arbeit, beim Empfang von Besuchern, bei Beleidigungen durch die Wärter oder bei Strafübungen. Nur als diese Nummer existierte ich hier.
Ich stieg auf den kurzbeinigen Tisch und zog das Papier herunter, das ich an der Tag und Nacht eingeschalteten Neonleuchte angebracht hatte. Um die Häftlinge jederzeit beobachten zu können, war es Vorschrift, daß die Lampen vierundzwanzig Stunden eingeschaltet blieben.
Ich faltete meine Bettdecke zusammen und legte sie mit dem anderen Bettzeug in die Ecke. Die braune Schaumgummimatratze klappte ich zu einem Sitzkissen zusammen. Eine kalte Dusche wollte ich heute nicht nehmen. Gestern nach dem Abendappell hatte ich in zwei Kulturbeutel jene Dinge eingepackt, die ich behalten wollte.
Ich stand auf, streckte die Arme und richtete die Handflächen nach der linken und rechten Wand meiner Zelle aus. Dort hatte sich durch den Frost Eis gebildet. Auch an der Zellendecke hingen Tropfen, die sich über Nacht durch meinen Atem gebildet hatten. Neben meiner Matratze waren gerade mal zwei Handbreit Platz. Vor dem Klo stand ein Wasserbehälter, direkt darüber hatte man ein dreiteiliges Kunststoffregal für Geschirr oder andere Dinge angebracht.
Das Wasser im Behälter war leicht gefroren. Heute goß ich dreimal soviel Wasser wie sonst in das Waschbecken, um mir Wangen, Kinn und Hals zu waschen. Kein einziges Haar konnte man an ihnen entdecken. Gestern hatte ich die Erlaubnis erhalten, den Waschraum zu benutzen. Ich hatte mir einen Eimer mit heißem Wasser geben lassen und mich danach mit lauwarmem gewaschen.
Der Friseur war schon über vierzig, ein alter Schwerverbrecher, aber, wie man hier sagte, man wird ein sanftes Schaf, wenn man länger als zehn Jahre im Gefängnis sitzt. Irgend jemand hatte mir erzählt, er sei wegen eines Zugüberfalls verurteilt worden. Ob das stimmte, wußte ich nicht, denn es war ein Tabu, danach zu fragen, warum jemand hier gelandet war. Vor kurzem, so hatte ich erfahren, war er zusammen mit einem Wärter draußen gewesen. »Gesellschaftsbesichtigung« nannte man diese Art von Ausgang. Er war wie ich Langzeithäftling und schnitt mir über all die Jahre die Haare. Seine Technik war so gut, daß er beim nationalen Häftlingswettbewerb eine Goldmedaille gewonnen hatte. In diesem Salon wußte jeder, daß ich ein Politischer war. Staatsverbrecher durften nicht wie die anderen Häftlinge Kurzhaarschnitte tragen. So waren sie von den anderen leicht zu unterscheiden. Gestern hatte er mich nicht wie üblich gefragt, wie ich meinen Schnitt haben wollte. Er sagte: »Heute schneide ich Ihnen nur ein wenig die Spitzen.« Ich setzte mich auf den Stuhl und schwieg, während er mit seiner scharfen Schere begann, vorsichtig hinter meinem Ohr zu schneiden. Dann senkte er den Kopf und fragte leise: »Morgen ist es soweit?«
»Ja, sieht so aus«, antwortete ich.
Nachdem er mit dem Rasieren fertig war, trug er mir reichlich von dem parfümierten Rasierwasser auf, das er irgendwo aufgetrieben haben mußte. Danach rieb er mir, so wie es auch bei Friseuren draußen üblich ist, mit einem Tuch Hals und Ohren trocken. Als er damit fertig war, sagte er: »Das war’s.«
»Danke«, sagte ich und wollte aufstehen. Er aber drückte mich sanft mit beiden Händen zurück in den Stuhl und sagte ebenso leise wie vorher: »Herr Oh, darf ich kurz beten?«
Einen Moment lang war ich irritiert. Weder war ich ein »Evabukatholik« noch hatte ich jemals in meinem Leben gebetet. »Evabukatholiken« nannte man scherzhaft diejenigen, die jedesmal ihre Religion wechselten, um an allen Veranstaltungen teilzunehmen, die von evangelischen, buddhistischen oder katholischen Gruppen ausgerichtet wurden und stets mit einem reichhaltigen Essen verbunden waren. Ich dachte einen Moment über unsere lange Einsamkeit nach. In meinen Gedanken würde er mich nach draußen begleiten; ich würde mich an sein Gebet erinnern.
»Würden Sie so freundlich sein?«
Er hielt sanft meine Hände: »Lieber Gott, nun geht ein Bruder nach abgesessener Strafe in die Welt zurück. Laß ihn all das, was hier geschehen ist, in seinem Herzen vergraben und erfülle die Zukunft von Herrn Oh mit Hoffnung und Freude. Laß ihn gesund bleiben und bescheiden, auf daß er auch für die kleinen Dinge des Lebens danke. Vor allem aber laß ihn uns nicht vergessen, die wir noch hierbleiben müssen. Im Namen des Herrn Jesus Christus. Amen.«
Ich griff nach dem dicken chinesischen Wörterbuch, schlug es auf und nahm mein verstecktes Eigentum – einen handgroßen Spiegel – heraus. Um Selbstmorde zu verhindern, waren Glas, Stricke oder scharfe Metallgegenstände in den Zellen verboten. Den Spiegel hatte ich mir im Untersuchungsgefängnis besorgt. Ich wußte nicht mehr, ob ich Nudeln oder einen Kuchen dafür gegeben hatte. Zwischen den Blättern meiner Bücher steckten noch weitere solcher Schätze. In der Bibel war ein fingergroßes Messer versteckt. Ich hatte es mir an der Zellenwand zurechtgeschliffen, Obst damit geschält oder Kimchi geschnitten. Ich hob das Gesicht in Richtung der Neonleuchte und blickte in den Spiegel. Ich sah einen Mann von über fünfzig Jahren. Hinter den Ohren waren meine Haare grau geworden, die Falten um Mund und Augen tiefer. Was lag jenseits der Dunkelheit hinter dem Gesicht im Spiegel? Gab es da draußen überhaupt noch eine Welt? Ich kämmte mir die schlaffen Haarsträhnen hinter die Ohren. Sie glänzten im Licht der Neonleuchte.
Ich hörte das entsetzliche Geräusch, das beim Aufschließen der Eisentüren entsteht, und dann wieder die Schritte, die sich durch den unteren Gang näherten. Schnell steckte ich Buch, Spiegel und Kamm zurück und setzte mich artig auf die Matratze. Die Gittertür wurde geöffnet. Krachend stieß sie an eine Eisensäule. Die Wärter meldeten die Anzahl der einsitzenden Häftlinge; dann verhallten die Schritte des Wachleiters.
Wahrscheinlich lief er jetzt auf der langen Matte mitten im Gang und näherte sich leise meiner Zelle. Dann tauchte sein Gesicht am Gitter der Beobachtungsklappe auf. Da man davor eine Plastikfolie angebracht hatte, konnte ich nur die Umrisse seines Gesichts erkennen.
»Nummer 1444, Sie werden heute entlassen?«
»Ja.«
Er neigte den Kopf mit der Mütze so weit nach vorn, daß ich nur den Schirm seiner Mütze sehen konnte, und sagte: »Es ist jetzt nach vier Uhr … Ich schließe auf.«
Dann hörte ich wie jeden Tag vor der morgendlichen Sportstunde das Geräusch des Metalls, wenn die Tür aufgeschlossen und geöffnet wurde.
»Bitte nehmen Sie Ihre Sachen und kommen Sie heraus.«
»Wie bitte?« fragte ich.
»Wollen Sie nicht nach Hause?«
»Nach Hause? Ach, ja …«
Ich nahm die beiden Taschen, die ich bereits an die Tür gestellt hatte, dann vom Regal über der Tür die weißen, frisch gewaschenen Gummischuhe, trat aus der Zelle und blieb stehen.
Meine Zelle war die vorletzte auf dem Gang. In jeder zweiten saßen politische Gefangene wie ich. Ich wußte, daß sie bereits wach waren und auf mich warteten. Als ich auf die andere Seite des Gangs gehen wollte, sagte der Wachleiter hinter meinem Rücken: »Hier entlang!«
Ich wollte mich schon umdrehen, doch unwillkürlich begann ich laut zu rufen: »Ich, Oh Hyunuh, werde heute entlassen. Bleibt alle gesund!«
Mein Abschiedsgruß wurde über den gesamten Gang vielstimmig erwidert:
»Auf Wiedersehen, Herr Oh!«
»Herr Oh, jetzt ist es endlich vorbei!«
»Bruder Oh, grüß bitte die Leute, wenn du draußen bist.«
»Alles Gute draußen!«
»Hab ich’s doch gewußt. Los, gehen Sie!« sagte der Wachleiter verärgert und schob mich an der Schulter vorwärts. Ich wandte mich der gegenüberliegenden Treppe zu. Der Wärter, der dort stand, nahm meine Hand und drückte sie: »Herr Oh, kommen Sie gut nach Hause – und niemals wieder hierher zurück.«
»Ich habe Ihnen viel zu verdanken«, erwiderte ich.
Ich kehrte dem Gefängnisgebäude den Rücken wie einer verlorenen Zeit.

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