Patrice Bollon: "Cioran, der Ketzer"


Die Geburt des inneren Optimismus aus dem äußeren Pessimismus

"Nur der Schriftsteller ohne Leser kann sich den Luxus leisten, aufrichtig zu sein. Er wendet sich an niemanden, höchstens an sich selbst" - so äußert sich der gebürtige Rumäne und Wahlfranzose Emile Michel Cioran (1911-1995) in seinem Buch "Die verfehlte Schöpfung". Während solch ein Gedanke noch vergleichsweise harmlos-kokettierend klingt, wird Cioran in seiner "Gedankendämmerung" schon deutlicher: "Das ganze Geheimnis des Lebens läuft darauf hinaus, dass es keinerlei Sinn hat; dass aber jeder von uns dennoch einen ausfindig macht." Dieser Mann, welcher der Irrationalität und der Irrealität nachgrübelte, war misstrauisch gegen jegliche Lehre: "Im Grunde sind alle Ideen falsch und absurd. Es bleiben nur die Menschen, so wie sie sind ... ich bin von jeder Ideologie geheilt" (vgl. "Lehre vom Zerfall"). Dieser radikale Skeptiker wird oft als Nihilist abgestempelt - aber er liebte eben die einfachen Menschen mehr als die komplizierten Denkgebäude.

Patrice Bollon kannte Cioran noch persönlich und versucht hier eine Art Ehrenrettung dieses häufig zu düster interpretierten Aphoristikers und Essayisten. Immerhin schöpfte er seine Kraft zum Weiterleben aus der Gewissheit, sich jederzeit das Leben nehmen zu können. Ob das damit zusammenhängt, dass in seiner rumänischen Kindheitsheimat der Totengräber den Jungs hin und wieder Totenschädel überließ, mit denen sie Fußball spielten?! Seit seiner frühen Jugend liest Cioran, um - wie er sagt - sich selbst zu vergessen. Als er sich im Jahr 1947 entscheidet, nur noch französisch zu schreiben, bedeutet das auch einen Identitätswechsel. Aber die Grundintention bleibt: durch Schreiben wird das Leben erträglich. Ciorans erstes Buch, das ihn 1953 im französischen Sprachraum bekannt machte, wurde von Paul Celan unter dem Titel "Lehre vom Zerfall" ins Deutsche übersetzt.

Von Anfang an übernimmt Bollon die Rolle, ja die Funktion des Verteidigers für Cioran - braucht er denn diese Hilfeleistung? Für Bollon war Cioran "begnadet" und "feinfühlig" - keineswegs der suizidgefährdete Nihilist, als den ihn viele - auch seine Anhänger - sehen wollten. Er war mit Beckett bekannt, mit Celan, mit Ionesco - und entwickelte seine Vorliebe für die Außenseiter und Gescheiterten. Er war neugierig auf Entwicklungen und sah doch die Nichtigkeit der Dinge. Cioran lebte bescheiden, war wie Nietzsche "besessen von gesunder Ernährung" und interessierte sich bei Philosophen und Schriftstellern mehr für den Menschen als dessen Werk.

Mit 20 Jahren hatte Cioran an Hitler geglaubt - er brauchte Jahre, um wieder davon abzurücken. Bollon vermutet, dass sein ganzes weiteres Schreiben ein Loslösen von dieser "Verfehlung" war, ein "unauflösbarer Kommentar jenes Fehltritts." Bollon möchte die "Jugendirrtümer" nicht entschuldigen, aber mit seinem Buch zu einer "gerechteren, ausgewogeneren, nuancierteren und zugleich vollständigeren Auffassung Ciorans" gelangen. Die Kapitel schildern chronologisch Ciorans Lebenslauf - seine glückliche Kindheit, den Beginn des Studiums der Literatur und Philosophie mit siebzehneinhalb, seine bevorzugte Lektüre Schopenhauer und Nietzsche, v.a. aber seine Begeisterung für Georg Simmels "Metaphysik des Lebens" bis zu seinem Tod.

Bollon beschreibt immer wieder recht eingängig die rumänische Zeitgeschichte und räumt ein, dass Anfang der 30er Jahre "beinahe die ganze junge Intelligenz Rumäniens ... zur äußersten Rechten ... schwenkte." Von September 1933 bis Juli 1935 lernt Cioran in Deutschland die Praxis der von ihm verherrlichten "Utopie" kennen. Zurück in Rumänien schwärmt er weiter vom "Willen zur Größe" - er ist ganz einfach zutiefst enttäuscht vom Versagen der Demokratie. Im Jahr 1937 gelangt er nach Frankreich, wo er allmählich (womöglich auch unter dem Einfluss einer hier nicht näher identifizierten Anglistikstudentin) von seinen "heroischen" Träumen abrückt. Hier verfährt Bollon allerdings etwas verhuscht-großzügig. Es gibt keine klare Motivierung für die Veränderung im Denken Ciorans. (Was ja vielleicht auch interessant wäre zu erfahren im Hinblick auf immer wieder aktuelle Fragestellungen: Wie lässt sich rechtsradikales und/oder antisemitisches Denken und Empfinden umpolen?!).

Die französische Sprache und Literatur verstärken Ciorans Skeptizismus - das Jahr 1947 markiert die große Wende in seinem Denken - 1949 wendet er sich von der traditionellen Philosophie ab, weil er bei Kant und anderen Philosophen keine Schwäche und keine Trauer entdeckt: "Das Leben fast aller Philosophen ist gut ausgegangen: darin liegt das stärkste Argument gegen die Philosophie." Und er nimmt sich vor, konsequent "wider sich selbst zu denken." Für Cioran zählt das "Erleben", er lehnt jegliches "System" ab, seine "Wahrheiten" sind subjektiv und widersprüchlich. Es erweist sich dementsprechend, dass der Aphorismus die Cioran wesensgemäße Artikulationsform ist: gleichzeitig behauptend und fragend, allgemeingültig und subjektiv.

Abgesehen davon, dass Bollon (auf den Seiten 152-156) recht kluge Anmerkungen zum allgemeinen Wesen des Aphorismus abliefert ("Er veranschaulicht die Tatsache, dass sich jeder auf die Suche nach seiner eigenen Wahrheit begeben muss"), erweist es sich, dass Cioran das Fragment als Manifestation seines Nachdenkens und Empfindens favorisiert. Philosophie ist Bewegung, ist Experiment. Und so muss man begreifen, dass Cioran nicht ein Denker des Nichts ist, sondern ebenso wie Nietzsche und Wittgenstein ein "Denker eines Jenseits der Philosophie" ist, der die "Kunst der Betrachtung jenseits der falschen Gewissheiten" praktizierte. Die Erkenntnis, dass die Philosophie "keinerlei Beistand zu gewähren vermag", treibt Cioran in die "metaphysische Leidenschaft" der Musik - wobei er gewissermaßen "der Musik der Welt mit Worten näherzukommen" versucht.

Mit radikalem historischem Pessimismus bestritt Cioran jeglichen Sinn der Geschichte, welche nur eine "Raserei der Horden und der Einsamen" sei. So vertraut er weder der Politik noch der Religion: "Ich glaube nicht an Gott, ich glaube an gar nichts." Während er allerdings die Bezeichnung "Nihilist" auf sich bezogen zurückweist, sieht er sein Denken als immer neu zu beginnende "Übung der Entzauberung" - in diesem Sinne ist er Ketzer gegenüber allem Vorgegebenen und Fixen - sein Denken bleibt offen. Und er möchte am Leben bleiben, um weiterhin über selbiges zu spotten. Ziel des Lebens sei die Weisheit, die man aber nicht erlangen könne - denn dieser Punkt wäre gleichzeitig das Ende, der Tod. Die Wahrheit der Welt kann durch Vernunft nicht erfasst und durch Worte nicht ausgedrückt werden - wir können uns immer nur "annähern"! Allein die Ästhetik lässt uns eine möglichst tiefe Erkenntnis der Welt erlangen.

Bollon sieht Ciorans Position folgendermaßen: er sei "dazu verurteilt, sich ungesichert inmitten eines unbeständigen, weil von allem religiösen, politischen oder moralischen Glauben entleerten Kosmos zu bewegen"! Aber ist das nicht die einzige lohnende Herausforderung im Leben?! So zelebrieren wir den Zusammenbruch aller Bezugssysteme und entwerfen uns stetig neu! Diese Geburt des inneren Optimismus aus dem äußeren Pessimismus erläutert uns Bollon sehr geduldig und kompetent - wodurch uns Cioran als ein realistisches Lebensmodell erscheinen kann, wenn nicht muss.

(KS; 05/2006)


Patrice Bollon: "Cioran, der Ketzer"
(Originaltitel "Cioran, l'hérétique")
Übersetzt von Ferdinand Leopold.
Suhrkamp, 2006. 362 Seiten.
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Cioran, der "Dandy der Leere, neben dem selbst Stoiker wie unheilbare Lebemänner wirken" (Bernard-Henri Lévy), war einer der einflussreichsten kulturkritischen Denker des 20. Jahrhunderts. In bisweilen schmerzlicher Nähe zu den Äußerungen des Selbstmord-Theoretikers beleuchtet Bernd Mattheus auch die bislang wenig bekannte Zeit vor seiner Emigration nach Frankreich.
Emil M. Cioran, geboren 1911 im rumänischen Sibiu (Hermannstadt), studierte an der Universität Bukarest, wo er mit Mircea Eliade und Eugène Ionesco eine lebenslange Freundschaft schloss. Nach einem längeren Aufenthalt in Berlin emigrierte er 1937 nach Paris; seit dieser Zeit schreibt er auf französisch. Der Verfasser von stilistisch brillanten Aphorismen und Essays pessimistischster Prägung erregt schließlich mit der 1949 erschienenen Schrift "Lehre vom Zerfall" großes Aufsehen. Das Buch, das ihn international bekannt machte, wurde von Paul Celan ins Deutsche übersetzt und begründete seinen Ruf als unerbittlicher Skeptiker. Es folgen viele weitere kompromisslose Werke wie "Syllogismen der Bitterkeit" oder "Die verfehlte Schöpfung". Bis in die späten 1980er Jahre bleibt Ciorans finanzielle Lage prekär, 1995 stirbt der Aristokrat des Zweifels und der Luzidität als gefeierter Denker in Paris.
Die vorliegende Biografie Ciorans ist die bislang gründlichste Gesamtdarstellung von Leben und Werk dieses Ausnahmedenkers. Bernd Mattheus gelingt nicht nur eine präzise Rekonstruktion Ciorans Lebens, sondern auch eine verblüffende Verlebendigung des "nach Kierkegaard einzigen Denkers von Rang, der die Einsicht unwiderruflich gemacht hat, dass keiner nach sicheren Methoden verzweifeln kann." (Peter Sloterdijk). (Matthes & Seitz)
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