Hector Abad: "Brief an einen Schatten"

Eine Geschichte aus Kolumbien


Hector Abad, der 1958 in Medellín in Kolumbien geborene Schriftsteller und Journalist, beschreibt in diesem beeindruckenden, vom Verleger Heinrich von Berenberg mit einer sehr informativen Einleitung zur politischen Situation in Kolumbien versehenen Buch die Geschichte seines Vaters Hector Abad. Dieser war einer der fähigsten Ärzte Lateinamerikas, der an der Universität von Medellín seinen Studenten etwas über die sozialen Ursachen von Krankheiten und Epidemien beizubringen versuchte und in seinen auch international beachteten Schriften erste Grundlagen dafür legte, was man später als Sozialmedizin und Prävention bezeichnete.

Früh geriet Hector Abad deshalb ins Visier der konservativen Kreise innerhalb von Politik und Kirche in Kolumbien. Dieser, besonders gegen Ende seines Lebens wirklich lebensbedrohenden, Gefahr konnte er sich dann und wann entziehen, indem er einen Auftrag der Vereinten Nationen im Ausland oder eine Gastprofessur einer us-amerikanischen Universität annahm. Doch er kehrte immer wieder zurück und setzte seine wissenschaftliche und politische Arbeit fort. 1987 jedoch, er wollte einen Freund besuchen, wurde er in einen Hinterhalt gelockt und erschossen. Der damalige Bischof von Medellín, López Trujillo, verbat dem Gemeindepfarrer, die Totenmesse zu halten. "Es verbiete sich, für jemanden einen religiöse Zeremonie abzuhalten, der sich öffentlich zum Heiden und Kommunisten erklärt habe."

Doch der Priester öffnete die Kirche, damit der Bruder Hector Abads, der Opus-Dei-Priester Javier, in einem geradezu rebellischen Akt vor Tausenden von Menschen die Totenmesse halten konnte. Bitter vermerkt sein Sohn in seinem Buch, dass jener Bischof Trujillo mit seinem Hass seinen Weg gemacht habe. Heute ist er Kardinal und Vorsitzender des Päpstlichen Rates für Familie an der Kurie in Rom.
Dabei, so erzählt Hector Abad in seinen Erinnerungen, die er , wie er sagt, erst jetzt, zwanzig Jahre nach dem gewaltsamen Tod seines geliebten und auch von ihm bewunderten Vaters schreiben konnte, war sein Vater alles Andere als ein Kommunist:
"Am Ende beschrieb er seine Ideologie als eine Mischung: christlich, was die Religion anbetraf, wegen der liebenswürdigen Gestalt von Jesus Christus und seiner Hinwendung zu den Schwachen; marxistisch in ökonomischer Hinsicht, weil ihm jede Form der Ausbeutung verhasst war; liberal in der Politik, denn er empfand jede Einschränkung von Freiheit als unerträglich, und alle Diktaturen waren ihm ein Gräuel, auch die des Proletariats."

Hector Abads Erinnerungen sind nicht nur ein Abriss der Geschichte Kolumbiens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern auch eine ebenso bewegende wie beeindruckende Dokumentation eines ganz besonderen Vater-Sohn-Verhältnisses und einer Geschichte einer außergewöhnlichen Familie mit jüdischen Wurzeln auf der Vaterseite. Dabei spielt eine große Rolle, aus welcher Wurzel das Erinnern eigentlich kommt. Gedenken, sich erinnern heißt im Ursprung re-cordere, wieder durch das Herz leiten. Und weil das so ist, brauchte er Zeit: "Die Wunde ist da, an dem Ort, an dem die Erinnerungen vorbeiziehen, aber sie ist vernarbt."

Deshalb gleiten seine Aufzeichnungen auch nie ins Sentimentale ab, sondern sind geprägt von großer Liebe und Respekt gegenüber seinem Vater, der, wie Abad sagt, nur einer von Tausenden von ermordeten Vätern in Kolumbien war, "diesem für den Tod so fruchtbaren Land."

"Meine tiefsten Erinnerungen sollten geweckt werden. Und wenn meine Erinnerungen bei den Lesern dieser Zeilen einen Gleichklang erzeugen, wenn das, was ich gefühlt habe, erkennbar und nachvollziehbar ist, weil sie ähnlich empfinden oder empfunden haben, dann kann dieses Vergessen, das wir sein werden, dank der wenigen oder vielen Augenpaare, die auf diesen Buchstaben verweilen, durch eine kurze Erregung der Neuronen für einige Momente aufgeschoben werden." Ein sehr bescheidener, realistischer Anspruch. Dennoch glaubt der von diesem Buch bewegte und angerührte Rezensent, dass in einer jüdisch-christlichen Perspektive niemals irgendetwas vergessen wird, solange es Menschen gibt, die sich erinnern und erzählen.

Hector Abad hat mit diesem Buch einen wichtigen Beitrag dazu geleistet. Er lebt in Kolumbien und arbeitet dort als Kolumnist. Von einer irgend gearteten Hoffnung für die aktuelle und zukünftige Situation in seinem Land ist allerdings in diesem Buch wenig zu lesen. Vielleicht, weil es sie in diesem von Gewalt zerrissenen und vom Tod beherrschten Land eigentlich nicht gibt?

Heinrich von Berenberg beschreibt die Lage in seinem Vorwort gegenwärtig als relativ stabil und zeigt, wie dennoch jene sozialen Strukturen, an denen sich schon Hector Abads Vater die Zähne ausgebissen hat, weiterhin unveränderte Wirkung entfalten.
Zwar sei die Lage gegenwärtig stabil, ob sie jedoch "von Dauer sein wird, muss sich zeigen. Niemand weiß, was geschieht, wenn Alvaro Uribe eine dritte Amtszeit verwehrt wird und jemand aus einer anderen Partei Präsident werden sollte. Viele befürchten, dass dann die Paramilitärs wieder auf Jagd nach Andersdenkenden gehen werden, die Guerilla erstarkt und alles wieder von vorne losgeht. Wenn sich die Politik in diesem Land endlich dem Bemühen ihrer engagierten Bürger anschließen und jene sozial- und strukturpolitischen Reformen einleiten sollte, für die Hector Abads Vater bereits vor dreißig Jahren kämpfte, dann könnte das Land zu einem Beispiel für ganz Lateinamerika werden. Seine Bürger machen ihren Politikern jetzt schon vor, wie das geht."

Hier ist der Herausgeber und Verleger optimistischer als sein Autor. Es wird abzuwarten sein, wer Recht behält.

(Winfried Stanzick; 02/2009)


Hector Abad: "Brief an einen Schatten. Eine Geschichte aus Kolumbien"
(Originaltitel "El olvido que seremos")
Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg.
Berenberg Verlag, 2009. 200 Seiten.
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