Maylis de Kerangal: "Die Brücke von Coca"
Ein
verrücktes Brückenprojekt als Ausgangspunkt eines
rasanten Romans
Maylis de Kerangals erster ins Deutsche übersetzte Roman
versammelt eine internationale Mannschaft in der imaginären
Stadt Coca, um dort, angeheuert vom
größenwahnsinnigen Bürgermeister, eine
Brücke von gigantischen Ausmaßen zu bauen.
Die Palette der angeheuerten Kräfte ist bunt gemischt, Frauen
und Männer aller möglichen Herkunftsländer
und Charaktere sind dem Ruf der Firma Pontoverde gefolgt. Sie leben und
arbeiten, lieben und hassen nun in Coca, das sich in einem ebenso
fiktiven Kalifornien befindet, in dem es im Winter unter Anderem
Eisschmelze gibt.
Coca soll, so der irre Traum des Bürgermeisters, entstanden
bei einer Reise ins ferne Dubai, vom verschlafenen Provinznest zur
internationalen Drehscheibe werden. Zuerst muss die Brücke
her, eine Brücke, die so riesig sein soll, dass sogar das
Flussbett durch Sprengungen erweitert werden muss.
Maylis de Kerangal geht ihren recht flüssig geschriebenen
Roman forsch an und führt Figur um Figur ein. Besonders
überzeugend ist die Diskrepanz zwischen den Träumen
der meisten angeheuerten Kräfte und der tatsächlichen
Situation, die für die meisten eher enttäuschend ist.
Bald macht sich auch Unmut in der Bevölkerung breit, die sich
massiven Einschränkungen, Umsiedlungen und
Veränderungen ausgesetzt sieht.
"Die Bauarbeiten sind in vollem Gang. Zunächst fing
es unauffällig, ja, heimlich an, niemand in der Stadt
hätte sich vorstellen können, was sich da zu beiden
Seiten des Flusses anbahnte, niemand ahnte, was da aus dem Boden
wachsen würde ..."
Und während die Natur leidet und die Menschen immer
vorsichtiger und skeptischer werden, strömen die Mitarbeiter
der Firma Pontoverde nur so nach Coca. Der Widerstand in der
Bevölkerung wächst und führt sogar zu einem
eher misslungenen Attentat auf den Bauleiter Diderot.
Maylis de Kerangals Prosa ist meist überzeugend, wechselt
rasch die Perspektiven und spricht den Leser ziemlich direkt an. Das
ergibt eine Nähe, die mitunter etwas anstrengend ist. Die
Protagonisten dieses Romans sind alle mit Namen bedacht, die bisweilen
zu schrägen, aber nicht ganz nachvollziehbaren Assoziationen
führen. Der chinesische Bauarbeiter heißt Mo Yun,
möglicherweise eine Anspielung auf den Künstlernamen
des großen chinesischen Autors Mo
Yan, aber keine wirklich denkbare Kombination im
Chinesischen. Die us-amerikanischen Arbeiter heißen Duane
Fisher und Buddy Loo und haben "rote Haut, schwarze Haut,
gemischtes Blut." Shakira Ourgas hat frappierende
Ähnlichkeit mit der Sängerin Shakira, und Summer
Diamantis ist für die Herstellung des Betons zur Errichtung
der Pfeiler zuständig. Ein Mexikaner namens Sancho Alonso
Cameron ist, ebenso wie die Herren Soren Cry und Ralph Waldo, dabei im
Theater der Globalisierung,
das Maylis de Kerangal hier dem Leser präsentiert.
Intrigen, Liebesgeschichten, Eifersucht, Hass, Starrsinn,
Kurzsichtigkeit und Geldgier sind einige der Gewürze, die die
Autorin im Sinne ihrer Sache einsetzt. Geschickt wechselt die
Erzählung zwischen den verschiedenen Protagonisten hin und
her, aber auch die Masse der nach Coca herbeigeströmten
Arbeiter ist als eigene Erzählschicht vorhanden.
"Wenn um Mitternacht die Sirene das Ende der zweiten Schicht
anzeigt, verlassen die Leute taumelnd das Pontoverde-Gelände,
ihre Haut spannt, ihre Augen brennen unter den flackernden Lidern. Die
meisten kehren in ihre Unterkünfte zurück, einige
steuern das Stadtzentrum an, die Spiel- und Vergnügungszone.
Die Junggesellen der Baustelle schätzen diesen Rhythmus, der
zwar den Organismus schlaucht und das Nervengefüge
durcheinanderbringt - sie stehen um vierzehn Uhr auf, arbeiten von
sechzehn Uhr bis Mitternacht, feiern bis zum Morgengrauen-, ihnen aber
die Nachtklubs zu den heißen Stunden öffnet."
Maylis de Kerangals Roman ist somit ein vielschichtiges
Porträt der verschiedenen Charaktere im Baugewerbe, ein
Manifest gegen die Rodung und Unterwerfung der Natur
für
wahnwitzige Bauprojekte, ein Roman der Globalisierung und nicht zuletzt
ein spannend zu lesender Text.
Offensichtlich überzeugend übersetzt,
erzählt Maylis de Kerangals Prosa aus einer allwissenden
Perspektive distanziert aber trotzdem immer wieder den Leser
integrierend fast rastlos gehetzt und entspricht somit perfekt dem
gezeichneten Bild dieser schnelllebigen, gewinnsüchtigen, nur
auf Profit und Erreichen von Abgabedaten orientierten Gesellschaft.
Dieses Bild wird vollendet inszeniert und überzeugt; eine
Bemerkung über das Fehlen einer gewissen Tiefe und feiner
Gefühlswelten wäre hier allerdings ungefähr
so angebracht wie eine Kritik daran, dass Wasser nass ist.
(Roland Freisitzer; 06/2012)
Maylis
de
Kerangal: "Die Brücke von Coca"
Aus dem Französischen von Andrea Spingler.
Suhrkamp, 2012. 288 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Maylis
de Kerangal, geboren 1967, veröffentlichte im Jahre 2000 ihren
ersten Roman. Ihre Romane und Erzählungen wurden vielfach
ausgezeichnet.
Noch ein Lektüretipp:
Thomas Schuler: "Boulevard der tausend Kulturen. Szenen aus Los
Angeles"
Ein aufschlussreiches und aufregendes Panorama der kalifornischen
Metropole.
Los Angeles ist die Stadt, in der alle Religionen, alle Rassen, alle
Sprachen heimisch sind, die Stadt der Reichen und Schönen, des
gleißenden Sonnen- und Scheinwerferlichts. Es ist aber auch
die Stadt, deren Geschichte geprägt ist von Rassenunruhen und
gewalttätigen Auseinandersetzungen. Was macht den Reiz der
Stadt der Engel
aus, der sie trotz ihres Rufes als eine der
gefährlichsten Städte der Vereinigten Staaten
Amerikas zu einem seiner begehrtesten Reiseziele macht? Thomas Schuler
präsentiert L. A. in seinen widersprüchlichen
Facetten und erkundet skurrile Details der Lebensart vor der
bekanntesten Filmkulisse der Welt: Ausgehend von der
Gründungsgeschichte der Stadt macht er den Leser mit dem
Alltag der Angelinos bekannt, um ihn anschließend an den Ort
der großen Träume zu führen: Er berichtet
von der Unmöglichkeit, in L. A. zu Fuß, mit dem Bus
oder mit der U-Bahn ans Ziel zu kommen, von der us-amerikanischen
Sterbensart, dem großen Geschäft mit der
Sterbekultur, von Stadtteilen, deren Bewohner aus
Sicherheitsgründen die Außenwelt aus- und sich
selbst einsperren, von Schönheitschirurgen, die sich auf
Jugendliche und Kinder spezialisieren, von Spielbergs Shoah-Stiftung
und ihren Kritikern und vom anderen Hollywood im Fernando Valley, wo
das Pornogeschäft satte Gewinne bringt und seltsam
familiäre Ausprägungen annimmt. (Picus Verlag)
Buch
bei amazon.de bestellen