Leseprobe aus "Kopf aus den Wolken" von Ruth Cerha
(...)
Paul kam ins
Groppi an dem Tag, an dem ich dort
anfing. Ich war ziemlich
nervös, mein Chef,
ein gebildeter, kultivierter
Ägypter, war stolz daraf, eine
Wienerin in seinem Lokal zu
beschäftigen. Er war ein älterer Herr,
Österreich war für ihn
Sisi,
Bruno Kreisky und
das
Kaffehaus.
Zuletzt hatte
ich in einem Technoclub
in Amsterdam
gearbeitet, im Groppi
servierte ich Silbertabletts mit reich
verzierten Teegläsern und der
berühmten
Patisserie an Marmortischchen,
an denen ein gehobenes Publikum die
Jugendstileinrichtung bewunderte. Zwischendurch strich
ich mir die
Schürze glatt.
Paul hatte
sich hierher verirrt, und ich
eilte an seinen Tisch, um ihn nicht
zu lange den
Blicken der anderen Gäste auszusetzen,
ohne dass er
ein Getränk vor sich hatte. Als ich ihm seinen
Kaffee brachte, fragte er in dem kleinen oment, in dem ich mich
über ihn begte: Wie kommst denn du
hierher, auf Deutsch. Lange
Geschichte, murmelte ich,
und er
nickte. Erzählst du sie mir? Doch
nicht jetzt! Na dann später.
Den restlichen Nachmittag
saß er da, den langen, dünnen Oberkörper in
den schlammfarbenen
T-Shirt über den Tisch gebeugt,
bestellte jede Stunde Kaffee,
las
und sah mich nicht mehr an,
während mein Chef
in einer Ecke neben der Sarabantina stand und mich keine
Minute aus den Augen
ließ. Als ich um sechs Uhr
zu arbeiten aufhörte,
folgte er mir nach
draußen
und ging
neben mir her,
der uezzin
ersparte uns ein
Gespräch. Es war kurz nach Neujahr, und
es regnete jeden Tag, Kairo versank im Schlamm. Auf den
nicht asphaltierten Straßen stand das Wasser in riesigen
Lachen, Paul gab mir die
Hand, und ich
hüpfte über Pfützen oder wich
ihnen aus, immer nach
der anderen Seite als er, sodass wir uns nur mehr an den
Fingerspitzen berührten. Irgendwann gaben wir es auf, zogen
die
Schuhe aus und horchten
auf das
Geräusch, mit dem sich der
Schlamm bei jedem Schritt
zwischen unsere Zehen
drückte, die Ägypter sahen auf
unsere
Füße, stießen sich gegenseitig an,
lachten und
schüttelten die Köpfe. Als wir vor meiner
Tür standen, sagte er: Und jetzt
die Geschichte. Komm rein,
sagte ich, es klang viel zu sehr nach
einem
Versprechen.
(...)
Ruth
Cerha:
"Kopf
aus
den Wolken"
Ecihborn
Verlag, 2010. 252 Seiten
Von
Kairo in die Wiener Kindheit
Mit
präzisem Sprachgespür erzählt Ruth Cerha die
Geschichte einer jungen Frau, die in der Ferne ihre Wurzeln sucht.
Anna
ist jung, ungebunden, rastlos. Seit Jahren zieht sie von Ort zu Ort,
bleibt nirgendwo länger als ein paar Monate, dann treibt die
innere
Unruhe sie weiter. Erst in
Kairo,
wo sie dem Künstler Paul und der
quirligen Diplomatentochter Marjana begegnet, kommt die lange Reise zum
Stillstand. Zwischen Anna und Paul entspinnt sich eine zarte
Affäre:
Seine Zurückhaltung und Verletzlichkeit berühren sie,
und dann sind da
seine Zeichnungen, die auf unheimliche Weise Bilder aus ihrer Wiener
Kindheit heraufbeschwören und die Erinnerung an ihren
geliebten Bruder
Franjo anstoßen, der vor über 15 Jahren spurlos
verschwand. Hals über
Kopf beendet Anna die Beziehung – und weiß
doch genau, dass es nicht
Paul ist, vor dem sie flieht, sondern die eigene
Vergangenheit…
Ruth
Cerha verwebt die losen Enden von Annas Geschichte zu einem reichen,
atemlosen, schönen Roman.
Ruth Cerha, 1963 in Wien geboren, stammt aus einer
Künstlerfamilie, ihr
Vater ist Friedrich Cerha. Bereits mit vier Jahren begann ihre
musikalische Ausbildung in
Klavier,
Violine und Tonsatz, 1982 folgte
das Abitur am Wiener Musikgymnasium. Ruth Cerha studierte
Psychologie,
ist ausgebildete Sängerin und arbeitete als Musikerin und
Komponistin
mit verschiedenen Bands und fürs Theater. Sie hat zwei Kinder
und lebt
in Wien, wo sie als Klavierpädagogin und Schriftstellerin
arbeitet.
2007 veröffentlichte sie den Erzählungsband
»Der Gesang der Räder in
den Schienen«. »Kopf aus den Wolken« ist
ihr erster Roman.
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