Herbert Rosendorfer: "Großes Solo für Anton"
Virtuos
gestaltetes,
sprachliches Solo von Herbert
Der Hahnenschrei eines apokalyptischen Aschermittwochs, der die
Alltagsnarretei
dieser Welt, oder genauer: die dafür Verantwortlichen, die
Menschen nämlich,
auf einen Schlag beseitigt, lässt Anton L. aus dem Schlaf
fahren, noch bevor
sein Wecker geläutet hat. Dass der Hahnenschrei hier leicht
modifiziert ertönt,
dass es tatsächlich Hundegebell ist, das Anton L. aus seinem
Schlaf reißt, tut
nichts zur Sache. Aber es ist das Verbellen einer unheilvollen
Verheißung. Denn
das, was der neue Tag dem ein wenig
spießbürgerlichen Anton L. nun beschert,
das scheint dermaßen fantastisch, dass es selbst die
kühnsten Traumfantasien
verblassen lässt. Anton L. - die Buchstaben, die der Initiale
L. folgen, enthält
uns der Autor vor - muss an jenem Morgen, am Morgen des 26. Juni, die
Erfahrung
machen, dass alle anderen Menschen verschwunden sind. Aus dem
Mietshaus, in dem
er wohnt, aus dem Viertel, in dem dieses Mietshaus steht, aus der Stadt
...
vielleicht sogar vom ganzen Erdball verschwunden?
Damit beginnt also das große Solo für Anton, eine
seltsame Robinsonade
inmitten einer großen Stadt. Anton L., ein
duckmäusiger kleiner Finanzbeamter,
der es gewohnt ist, Tag für Tag gehorsam den Karren zu ziehen,
vor den die
Gesellschaft ihn gespannt hat, sieht sich dieser Pflicht
plötzlich entledigt
und ist somit zu einer Art letztem Helden geworden. Unfreiwillig ist er
in die
Rolle des Ur-Adams geschlüpft, des ersten, oder in diesem
Falle, des letzen
Menschen, doch was spielt das schon für eine Rolle? Des einzig
verbliebenen
Menschen halt, und keine Eva steht ihm zur Seite, um sein Los mit ihm
zu teilen,
nicht einmal eine die Beraterfunktion ausübende Schlange; nur
Sonja, der Leguan
seines Vermieters leistet ihm Gesellschaft, doch Sonja enthält
sich weise
jeglichen Kommentars. Antons seelischer Rapport mit seiner von Menschen
verlassenen Umwelt beschränkt sich auf ein gelegentliches
Palaver mit dem
Denkmal eines Kurfürsten sowie auf einen kurzen
Gedankenaustausch mit einem
Hasen, beides erweist sich indes als wenig hilfreich.
Und auch die Frucht vom Baume der Erkenntnis sucht Anton L. vergeblich.
Überall
in der menschenleeren Stadt bauen sich Fragezeichen vor ihm auf, doch
nirgends
erhebt sich ein Ausrufungszeichen, das den Weg zu einem
heraufdämmernden
Begreifen hätte weisen können. Soll Anton L. sich nun
als Gewinner fühlen,
als einziger Überlebender einer unvorstellbaren Katastrophe?
Oder doch als
Verlierer, als ein Ausgestoßener aus der Gemeinschaft der
vernichteten
beziehungsweise entmaterialisierten Menschen? Warum nur ist
ausgerechnet er, der
Spießbürger Anton L., plötzlich ganz allein
auf dieser Welt? Anton lässt
verschiedene Hypothesen durch seinen Kopf gehen, eine
schlüssige Erklärung
findet er jedoch nicht. Vielleicht ist er ja auch lediglich ein
verlorener
Traumsegler, so ein träumender fliegender Holländer,
der nicht mehr an die Küste
des Erwachens zu finden weiß.
Und auch der Leser wartet natürlich begierig darauf, dass der
Autor den
Schleier von seinem Geheimnis lupft. Oder wenigstens einen Zipfel
anhebt, um ihm
eine Ahnung zu verschaffen, woraus er dann
Rückschlüsse auf die Natur jenes
seltsamen Fatums ziehen könnte, das unseren Helden in den
tiefsten aller möglichen
Kerker der Einsamkeit eingesperrt hat. Doch vorerst tut der Autor
seinen Lesern
diesen Gefallen nicht und belässt sie auf der gleichen Stufe
der Unwissenheit
wie seinen Helden. Wohl lässt Rosendorfer Reminiszenzen aus
früheren Episoden
in Antons Leben aufleuchten, die uns seine Persönlichkeit und
seinen Charakter
näher bringen, und Herbert Rosendorfer tut das in seinem
unnachahmlichen,
hintergründig humoristischen Stil. Parallelen zum
Österreicher
Herzmanovsky-Orlando
sind unverkennbar. Rosendorfers diagnostisch anmutendes Sensorium
für die
kleinen menschlichen Schwächen hält dem Leser aber
gewissermaßen auch einen
Spiegel vor, in dem er zumindest Züge von sich selbst
wiedererkennen kann. Es
ist etwas Burleskes an Rosendorfers Text, die Befreiung vom Zwang des
Notwendigen und Erfahrungsgemäßen, Anton L. ist so
etwas wie ein Deserteur vor
der Wirklichkeit des Alltags, wie überhaupt der Einfall des
Absurden und
Unheimlichen in die vermeintliche Sicherheit des Alltags ein immer
wiederkehrendes Thema bei Herbert Rosendorfer ist. Und sein dabei
entwickelter
Ideenreichtum und Sprachwitz ist derart groß, dass man sich
als Leser manchmal
wünscht, das große Solo für Anton
möge niemals ein Ende nehmen.
Doch jede Geschichte geht einmal zu Ende, auch das große Solo
für Anton L., den
letzten Helden. Und gerade diese Geschichte ist ganz auf ihr Ende
ausgerichtet,
auf die Beantwortung der Fragen: Was ist hier eigentlich passiert? Und
warum ist
es passiert? Wohl kaum etwas ist in der Literatur so schwierig wie die
Kunst des
Endens oder Schließens. Und wie oft wird nicht der Leser
gerade vom Schluss
eines Buches enttäuscht! Vom Schluss, an den er doch gewisse
Erwartungen
stellt, auf den er oft sein ganzes Interesse hin ausrichtet. Ist es
Rosendorfer
nun gelungen, diese Erwartungen hinsichtlich des Schlusses in einem
befriedigenden Maße zu erfüllen? Ich möchte
den Schluss der Geschichte hier
nicht preisgeben, doch ich bin mir nicht ganz sicher, ob im Schluss
nicht doch
eine kleine Schwäche des Romans liegt, vielleicht die einzige
kleine Schwäche
in einem ansonsten rundum gelungenen Meisterwerk der fantastischen
Literatur.
Rosendorfer selbst macht übrigens auf Seite 111 dieses Romans
einige
interessante Bemerkungen über das Verhältnis von
Leser und Buch. Da heißt es
unter anderem: "Es ist schwer genug, mit der Lektüre
eines Buches
anzufangen. Ein ungelesenes Buch sträubt sich mitunter
gegen
das Gelesenwerden.
Der ungelesene Inhalt stemmt sich über die erste Seite hinaus
dem Leser
entgegen. Man muss den Widerstand brechen (es gibt auch andere,
sozusagen feile
und geile Bücher, die den Leser ansaugen; ob das die besseren
sind, ist noch
die Frage), man muss eine Bresche schlagen, das Vertrauen der ersten
Seiten
gewinnen ..."
Dass Herbert Rosendorfers "Großes Solo für Anton" zu
den besseren Büchern
gehört, das ist über jeden Zweifel erhaben.
(Werner Fletcher; 01/2008)
Herbert
Rosendorfer: "Großes Solo für Anton"
Diogenes, 2008. 336 Seiten.
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