Connie Palmen: "Logbuch eines unbarmherzigen Jahres"


"Wir ist tot."
Ein Logbuch der Trauer

Ein Bild wie einer antiken Tragödie entnommen: Zwei Frauen, im Schmerz vereint, ihre Gesichter erstarrt in Verzweiflung. Eine der Frauen ist Connie Palmen, wie sie hinter dem Sarg ihres Mannes Hans van Wierlo geht, die andere dessen Schwester. Ein Bild, das allen Kummer, allen Gram, alle Trauer und Verzweiflung vereint und sichtbar macht, mit einem Schlag wird Persönliches, ja Intimes, öffentlich. Es ist ein Foto, das mit ein paar Klicks im Netz zu finden ist, aufgenommen von einem Paparazzo. Eigentlich eine Verletzung der Privatsphäre, aber es ist Palmen selbst, die auf diesen "Fund" in ihrem Buch über den Abschied von ihrem Mann hinweist und darauf, dass sie eigentlich ganz glücklich über dieses Foto ist. Es ist absurd und einleuchtend zugleich, dass der Fotograf der Klatschpresse auch die Erinnerung seiner Opfer zu bereichern vermag, genauso wie wir als Leser autobiografischer Bücher uns in fremdes Leben einmischen.

Das  "Logbuch eines unbarmherzigen Jahres", das Connie Palmen nach dem Tod ihres Mannes schrieb,  ist ein solches Buch. In den Niederlanden waren Connie Palmen und Hans van Mierlo ein prominentes Paar. Sie eine der bekanntesten Schriftstellerinnen, er einer der beliebtesten Politiker Hollands, zum Zeitpunkt ihrer späten Liebe bereits ein Altpolitiker, und sie beide durch 24 Lebensjahre voneinander getrennt. Im März 2010 starb van Mierlo. Einige Wochen nach seinem Tod begann Connie Palmen mit diesen Aufzeichnungen. Sie handeln vom Tod und der Liebe, von Trauer, Schmerz und dem Weiterleben. Es ist ein Leidensweg, den Palmen gezwungen ist zu gehen und den sie mit Hilfe ihrer Mittel, dem Denken und dem Schreiben, zu meistern versucht.

Sie beschreibt ein Jahr, das an persönlichem Schrecken kaum zu überbieten ist, in dem der Tod sich in Familie und Freundeskreis wie ein gefräßiges Ungeheuer einnistet. Er macht  nicht Halt vor Hans van Mierlo, seiner Tochter, seiner Schwester, Freunden und Kollegen. Wenn es nicht so pietätlos klingen würde, könnte man es ein Gemetzel nennen. Mitten in diesem Grauen steht Connie Palmen mit ihrer Sprache und den Worten, die den Schmerz ausloten sollen. Wie ein Schiff ein Log als Geschwindigkeits-Messgerät benutzt, schwebt der Autorin vor, ein Log in den Strom des Kummers zu senken, dessen Geschwindigkeit zu messen und dessen Tiefe zu peilen und so gegen das Vergessen anzuschreiben.

Analytisch und akribisch spürt sie ihren Emotionen nach, verfolgt, wie sie sich im Laufe der Zeit verändern, versucht sie mit der Sprache einzufangen und auszuloten. Die Sprache als Lot im Meer der Verzweiflung. Verräterisch die Bemerkung von Freunden, dass sie ja ihren Kummer gar nicht verlieren möchte. Ja, denn damit bleibt der Abschied bestehen und damit der Tote ein Stück lebendig. Er ist noch nicht vergessen, der Abschied, und der Kummer hält den Toten ein kleines bisschen im Hier und Jetzt. Sie spürt der Wandlung der Trauer nach, beobachtet beispielsweise mit Verwunderung, wie die anfängliche Trauer, ihn nie mehr zu sehen, sich zu einer Trauer wandelt, nie mehr von ihm gesehen zu werden. Sie entdeckt aber auch, dass Verpöntes wie Selbstmitleid und Egoismus bisweilen unumgänglich sind. Und sie entdeckt immer wieder neue Worte und Begriffe für ihre Wirklichkeit. Mit "Falling apart" beispielsweise, dem englischen Ausdruck für das Zusammenbrechen, bezeichnet sie nun einen Sturz ins Abgespaltensein, als ein Herausfallen aus etwas, das einen zusammengehalten hat.

Furchtbar ist auch zu wissen, dass Connie Palmen schon einmal gegen das Vergessen anschreiben musste, fünfzehn Jahre zuvor, als ihr damaliger Lebensgefährte, der niederländische Journalist Ischa Meijer, mit 52 Jahren plötzlich an einem Herzinfarkt starb. Ein paar Jahre später veröffentlichte sie "I.M. Ischa Meijer - In Margine, In Memoriam". Ein Witwenbuch wurde es genannt.
Das "Logbuch" ist kein Erinnerungsbuch,  sondern ein Verzeichnis des Schmerzes. Aber in jedem Kapitel, ja in jedem Satz, blitzt die Persönlichkeit Hans van Mierlos durch und was für ein einzigartiger Mann er für sie war. Für sie ist.

Connie Palmen schreibt furchtlos und ohne Scheu. Ohne Angst sich zu blamieren oder Andere bloßzustellen. Und sie beherrscht auch diese wunderbare Kunst, offen zu sein ohne peinlich-intim zu werden. Hier ist kein Platz für Schlüsselloch-Voyeurismus. Sie erwartet weder Mitleid noch Schonung, sie stellt sich einfach ihrer Trauer und ihrer Verzweiflung, ihren Schwächen und Widersprüchen. Nachsichtig, ja, aber gleichzeitig auch genauso erbarmungslos wie dieses schreckliche Jahr des Todes. Sie ist Schriftstellerin und damit ist sie, wie sie gleich zu Beginn feststellt, erklärtermaßen indiskret. Er, der Schriftsteller in seinem Beruf, ist der Verräter, der Enthüller, der Entdecker.  So wie der nicht-eingeladene Fotograf, der die Verzweiflung der Hinterbliebenen dokumentiert.

Es ist ein intensives Buch, das berührt und auf eigenartige Weise tröstlich ist. Es zeigt die Sinnlichkeit der Trauer und der Abgründe, die damit verbunden sind. Aber irgendwie überlebt sie, und auch wir werden überleben.

"Wir ist vorbei. Wir ist tot."

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 03/2013)


Connie Palmen: "Logbuch eines unbarmherzigen Jahres"
(Originaltitel "Logboek van een onbarnhartig jaar")
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Diogenes, 2013. 272 Seiten.
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