(...) Anawaks Gedanken rasten. Wahrscheinlich
war der Rumpf bereits an einigen Stellen gerissen. Er musste etwas tun. Vielleicht
konnte er
die Tiere irgendwie ablenken.
Seine Hand fuhr zum
Gashebel. Im selben Moment zerriss ein vielstimmiger Schrei die Luft. Aber er
kam nicht von dem weißen Dampfer, sondern erscholl gleich hinter ihm, und Anawak
wirbelte herum.
Der Anblick hatte etwas Surreales. Direkt über dem Boot der Tierschützer stand
senkrecht der Körper eines riesigen Buckelwals. Beinahe schwerelos wirkte er,
ein Wesen von monumentaler Schönheit, das krustige Maul den
Wolken
zugereckt, und immer noch stieg er weiter empor, zehn, zwölf Meter über ihre
Köpfe hinweg. Den Herzschlag einer Ewigkeit lang hing er einfach nur so am Himmel,
sich langsam drehend, und die meterlangen Flipper schienen ihnen zuzuwinken.
Anawaks Blick wanderte an dem springenden Koloss entlang. Nie
hatte er etwas zugleich so Schreckliches und Großartiges gesehen, nie aus
solcher Nähe. Alle, Jack Greywolf, die Menschen in den Zodiacs, er selber,
legten den Kopf in den Nacken und starrten auf das, was nun auf sie zukommen
würde.
"Oh mein Gott", flüsterte er.
Wie in Zeitlupe neigte sich der Leib des Wals. Sein Schatten legte sich auf
das rote Fischerboot der Umweltschützer, wuchs über den Bug der Blue Shark hinaus,
wurde länger, als der Körper des
Riesen
kippte, schneller und immer schneller ...
Anawak drückte das Gas
durch. Das Zodiac schoss mit einem Ruck davon. Auch Greywolfs Fahrer hatte einen
Blitzstart zuwege gebracht, aber seine Richtung stimmte nicht. Das klapprige
Sportboot schlingerte auf Anawak zu. Sie prallten zusammen. Anawak wurde nach
hinten gerissen, sah den Fahrer über Bord und Greywolf zu Boden gehen, dann
raste das Boot in entgegengesetzter Richtung davon, während seines mit voller
Fahrt wieder auf die Blue Shark zuhielt. Vor seinen Augen begruben die neun
Tonnen Körpermasse des Buckelwals das Fischerboot unter sich, drückten es
mitsamt seiner Besatzung unter Wasserund schlugen auf den Bug der Blue Shark.
Gischt spritzte in gewaltigen Fontänen hoch. Das Heck des Zodiacs schoss steil
nach oben, Menschen in roten Overalls wirbelten durch die Luft. Kurz balancierte
die Blue Shark auf ihrer Spitze, pirouettierte um die eigene Achse und kippte
seitwärts. Anawak duckte sich. Sein Boot schnellte unter dem umstürzenden Zodiac
hindurch, schlug gegen etwas Massives unterhalb der Wasseroberfläche und sprang
darüber hinweg. Vorübergehend verlor er den Boden unter den Füßen, dann endlich
hielt er das Steuer wieder in Händen, riss es herum und bremste ab. Ein
unbeschreibliches Bild bot sich ihm. Vom Boot der Umweltschützer waren nur noch
Trümmer zu sehen. Die Blue Shark trieb kieloben in den Wellen. Menschen hingen
im Wasser, wild paddelnd und schreiend, andere reglos. Ihre Anzüge hatten sich
selbstständig aufgepumpt, sodass sie nicht versinken konnten, aber Anawak ahnte,
dass einige von ihnen tot sein mussten, erschlagen vom Gewicht des
Wals.
Ein Stück weiter sah er die Lady Wexham mit deutlicher Schlagseite
Fahrt aufnehmen, umkreist von Rücken und Fluken. Ein plötzlicher Stoß
erschütterte das Schiff, und es legte sich noch mehr auf die Seite. Vorsichtig,
um niemanden zu verletzen, steuerte Anawak das Zodiac zwischen die treibenden
Körper, während er einen kurzen Funkspruch auf Frequenz 98 losschickte und seine
Position durchgab.
"Probleme", sagte er atemlos. "Wahrscheinlich
Tote."
Alle Boote im Umkreis würden den Notruf hören. Mehr Zeit blieb ihm
nicht. Keine Zeit zu erklären, was geschehen war. Ein Dutzend Passagiere waren
an Bord der Blue Shark gewesen, außerdem Stringer und ihr Assistent. Hinzu kamen
die drei Umweltschützer. Siebzehn Menschen insgesamt, aber im Wasser zählte er
deutlich weniger.
"Leon!"
Das war Stringer! Sie schwamm auf ihn zu. Anawak
ergriff ihre Hände und zog sie an Bord. Hustend und keuchend fiel sie ins
Innere.
In einiger Entfernung sah er die Rückenschwerter mehrerer Orcas. Die
schwarzen Köpfe und Rücken hoben sich heraus, während sie mit hoher
Geschwindigkeit auf den Unglücksort zuhielten.
Sie legten eine
Zielstrebigkeit an den Tag, die Anawak nicht gefiel. Dort trieb Alicia Delaware.
Sie hielt den Kopf eines jungen Mannes über Wasser, dessen Anzug nicht wie die
anderen von Pressluft gebläht war. Anawak lenkte das Boot näher an die Studentin
heran. Neben ihm stemmte sich Stringer hoch. Vereint hievten sie zuerst den
bewusstlosen Jungen und dann das Mädchen an Bord. Delaware schüttelte Anawaks
Hände ab, hängte sich sofort wieder über den Bootsrand und half Stringer,
weitere Menschen ins Innere zu ziehen. Andere näherten sich aus eigener Kraft,
reckten die Arme, und sie halfen ihnen hinein. Das Boot füllte sich schnell. Es
war viel kleiner als die Blue Shark und eigentlich schon zu voll. Hastig griffen
sie zu, während Anawak weiter die Wasseroberfläche absuchte.
"Da schwimmt
noch einer!", rief Stringer.
Ein menschlicher Körper hing reglos im Wasser,
das Gesicht nach unten, der Statur nach männlich, mit breiten Schultern und
Rücken. Kein Overall. Einer der Umweltschützer.
"Schnell!"
Anawak beugte
sich über die Reling. Stringer war neben ihm. Sie packten den Mann bei den
Oberarmen und zogen ihn hoch.
Es ging einfach.
Zu einfach.
Der Kopf des
Mannes fiel nach hinten, und sie sahen in blicklose Augen. Noch während Anawak
den Toten anstarrte, wurde ihm bewusst, warum der Körper so leicht war. Er
endete dort, wo die Taille gewesen war. Beine und Becken fehlten. Aus dem Torso
baumelten tropfend Fleischfetzen, Arterien und Gedärme.
Stringer keuchte
und ließ los. Der Tote kippte weg, entglitt Anawaks Fingern und klatschte zurück
ins Wasser.
Rechts und links von ihnen durchschnitten die Schwerter der Orcas
das Wasser. Es waren mindestens zehn, vielleicht mehr. Ein Schlag erschütterte
das Zodiac. Anawak sprang zum Steuer, gab Gas und fuhr los. Vor ihnen wölbten
sich drei mächtige Rücken aus den Wellen, und er ging in eine halsbrecherische
Kurve. Die Tiere tauchten ab. Zwei weitere kamen von der anderen Seite und
hielten auf das Boot zu. Wieder fuhr Anawak eine Kurve. Er hörte Schreie und
Weinen. Auch er selber hatte schreckliche Angst. Sie durchfloss ihn wie
elektrischer Strom, verursachte ihm Übelkeit, doch ein anderer Teil von ihm
steuerte das Zodiac unbeirrt in einem aberwitzigen Slalom zwischen den
schwarzweißen Körpern hindurch, die immer aufs Neue versuchten, ihnen den Weg
abzuschneiden.
Ein Krachen ertönte von rechts. Anawak wandte reflexartig den
Kopf und sah die Lady Wexham in einer Wolke aus Gischt erbeben und
kippen.
Später erinnerte er sich, dass es dieser Blick war, dieser eine
Moment der Unaufmerksamkeit, der ihr Schicksal besiegelte. Er wusste, dass er
nicht zu dem großen Schiff hätte hinüberschauen dürfen. Möglicherweise wären sie
entkommen. Bestimmt hätte er den grau gesprenkelten Rücken gesehen und wie der
Wal abtauchte, wie sich seine Fluke aus dem Wasser hob, direkt in
Fahrtrichtung.
So sah er den herabsausenden Schwanz erst, als es zu spät war.
(...)
(Aus "Der Schwarm" von Frank Schätzing.)
Frank Schätzing inszeniert die weltweite
Auflehnung der Natur gegen den
Menschen. Ein globales Katastrophenszenario zwischen
Norwegen, Kanada, Japan und Deutschland, und ein Roman voller psychologischer
und politischer Dramen mit einem atemberaubenden Schluss.
Ein Fischer
verschwindet vor Peru, spurlos. Ölbohrexperten stoßen in der norwegischen See
auf merkwürdige Organismen, die Hunderte Quadratkilometer Meeresboden in Besitz
genommen haben. Währenddessen geht mit den Walen entlang der Küste British Columbias
eine unheimliche Veränderung vor.
Nichts von alledem scheint miteinander in Zusammenhang zu stehen. Doch Sigur
Johanson, norwegischer Biologe und Schöngeist, glaubt nicht an
Zufälle. Auch
der indianische Walforscher Leon Anawak gelangt zu einer beunruhigenden Erkenntnis:
Eine Katastrophe bahnt sich an. Doch wer oder was löst sie aus?
Während die Welt an den Abgrund gerät, kommen die Wissenschaftler zusammen mit
der britischen Journalistin Karen Weaver einer ungeheuerlichen Wahrheit auf
die Spur.
Das globale Katastrophenszenario, das Frank Schätzing Schritt für Schritt mit
beklemmender Logik entfaltet, ist von erschreckender Wahrscheinlichkeit. Es
basiert auf so genauen naturwissenschaftlichen und ökologischen Recherchen,
dass dieser Roman weit mehr ist als ein großartig geschriebener, spannungsgeladener
Thriller. Das Buch stellt mit großer Dringlichkeit die Frage nach der Rolle
des Menschen in der Schöpfung.
Buch bestellen