Die selbstdiagnostizierte
Einzigartigkeit des
menschlichen Verstandes gibt nicht durchwegs Anlass zu wahrer Zufriedenheit. Vielmehr
verursacht das unwillkürlich ausufernde Denkvermögen bisweilen Krisen:
Der
Mensch hadert mit dem Segen/Fluch seiner Vorstellungskraft, mit der Zivilisation
und dem Fortschritt, neuerdings beleuchtet er die Lebensqualität an sich, auf
der Suche nach Sinn samt individueller Identität.
Die Sehnsucht nach dem sogenannten "einfachen Leben" und romantische
Ideen ziehen sich durch die Jahrtausende menschlicher Geschichte, nicht von
ungefähr formulierten Künstler vieler Herren Zeiten und Länder in ihren
Werken Zweifel an der selbstherrlichen Pracht der "Krone der
Schöpfung", die sich als Endprodukt der irdischen Entstehung der Arten
sieht.
Nehmen wir zum Beispiel das nachstehende Gedicht der 1861 in England
geborenen Schriftstellerin Emma Goldworth, die unter dem Pseudonym May Kendall
vor allem, doch nicht nur Lyrik publizierte. So verfasste sie in Zusammenarbeit mit dem
sozialpolitisch engagierten Quäker und Fabrikantensohn Benjamin Seebohm
Rowntree (1871-1954), nach heutiger Diktion ein "Armutsforscher", eine statistische Analyse der Situation des Arbeitsmarkts und der
Lebensbedingungen der Arbeiter ("How the Labourer Lives: A Study of the
Rural Labour Problem").
In "Lay of the Trilobite" liest ein scharfsichtiges Fossil einem
kopflastigen Homo sapiens sapiens sozusagen die Leviten, indem es die "Krone
der Schöpfung" mit der geradezu beneidenswerten Schlichtheit des Daseins
einer längst ausgestorbenen Lebensform konfrontiert und dieser die
zweifelhaften menschlichen Errungenschaften gegenüberstellt, welche den
gewissermaßen "überentwickelten" Gehirnen der "Nachfahren von
Kloakentieren" entsprungen sind.
Der Homo sapiens sapiens vermag nichts zu entgegnen und zieht, sich nach
Menschenart formvollendet verabschiedend, schweren Herzens von dannen; stummes
Eingeständnis der Unzulänglichkeit.
Freilich verharrt der Text in jenem anthropozentrischen Ansatz, den zu
kritisieren er vorgibt - ganz Kind seiner Zeit.
Meine Übertragung ins Deutsche ist von der Absicht beseelt, den Schienen der
Botschaft des Ausgangstexts zu folgen, weshalb es unvermeidlich war, von einer
wortwörtlichen Übersetzung Abstand zu nehmen und überdies in Einzelfällen
dem Inhalt Vorrang gegenüber der Form einzuräumen, was die deutschen Zeilen im
Vergleich mit dem im Original recht ordentlich durchgehaltenen Versmaß hier und
da holprig gestaltet, bislang jedoch keine Entgleisung zur Folge hatte ...
Doris Krestan
23. August 2004
Lay of the Trilobite 'How all your faiths are
ghosts and dreams, You've Kant to make your
brains go round, "But gentle, stupid, free from
woe Reluctantly I turned away, |
Trilobitenstandpunkt Auf Bergeshöhen zog ich los, erhoffte dort zu finden Ideen so diffus und groß, meinen mächtigen Geist zu entzünden. Ich wanderte, den Sinn verquer, sah plötzlich, zwischen Schritten, ein Wesen vom silurischen Meer, einen alten Trilobiten. Er lag so still, so friedlich da, verweint erblickt' ich ihn. Der Monaden gedacht' ich, die nicht nah, die Zeit vergessen schien. Wie wundervoll er dünkt' und fein der glückselige Plan, dass er ein Trilobit sollt' sein, und ich sollt' sein ein Mann! In ungekünstelter Manier aus seinem Felsenlager sprach dieser Trilobit zu mir, hob an zu diesem Sager: "Ich weiß nicht, wie es konnt' gescheh'n, bezweifeln kann ich's nicht; frag' Huxley und nicht irgendwen, er kennt die ganze G'schicht'; Woran Ihr glaubt ist Spuk und Zier, und einst im stillen Meer Kloakentiere hießet Ihr - in etwa; ungefähr. Es stammen Eure tollen Riten der Weisheit Perfektion von Quallen und von Trilobiten durch natürliche Selektion. Der Kant verstört Euch mit Vernunft, der Hegel putzt den Rachen, und Browning: Irrsinns Unterkunft, der Kasper macht Euch lachen. Und jemanden aus fernem Land Ihr Mensch und Bruder nennt, das Gotteslob in einer Hand, die Lunte in der andern brennt! Was ist die Politik denn nütz? Ihr scheint mir ja besessen: mit Eurem Sprengstoff und Geschütz wollt Frieden Ihr erpressen. Wer lärmt mit lauter Stimme nicht oft den Kürzern zieht, Ihr steckt ganz schön in der Klemme!", bemerkte der Trilobit. "So leise, töricht, frei von Leid lebt' ich unter den Meinen, was kümmert's mich zu jener Zeit als Krustentier Euch zu scheinen. Ich murrte niemals, stahl auch nicht, verfasste kein Traktat: Salzwasser war mein Leibgericht und Kalziumkarbonat." Ich wandte mich mit Widerwill, die Rede schien komplett; der alte Trilobit lag still in seinem Felsenbett. Ich wollt' nichts sagen; Übermut hätt' meinen Stolz verletzt: Verbeugt' mich bloß und zog den Hut, im Innern doch entsetzt: "Ich wünscht' das Menschenhirn wär' schlicht, inmitten stärk'rer Knochen, ich wünschte die Evolution hätte nicht der Menschheit die Krone versprochen. Denn welch ein Glück auf Schritt und Tritt, nur Freiheit, nicht Misere zu sein ein simpler Trilobit in dem silurischen Meere!" |
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