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Die Nachtigall
Zuerst trat die verliebte Nachtigall vor. Sie war fast außer sich vor Leidenschaft und ließ ihre Gefühle in die tausend Töne ihres Liedes einströmen, und jeder Ton enthielt eine ganze Welt voller Geheimnisse. Als sie von diesen Geheimnissen sang, verstummten die Vögel. "Ich kenne alle Geheimnisse der Liebe", sagte sie. "Die ganze Nacht singe ich meine Liebeslieder. Gibt es keinen unglücklichen David, dem ich die sehnsüchtigen Psalmen der Liebe vorsingen kann? Durch mich ist das süße Weinen der Flöte, das Klagen der Laute entstanden. Ich schaffe Aufruhr unter den Rosen und in den Herzen der Liebenden. Ich lehre sie immer neue Geheimnisse, singe immer neue traurige Lieder. Wenn die Liebe meine Seele überwältigt, ist mein Gesang wie das Seufzen des Meeres. Wer mich singen hört, gibt seinen Verstand auf, selbst wenn er ein Weiser ist. Wenn ich von meiner geliebten Rose getrennt bin, bin ich untröstlich, höre auf zu singen und verrate meine Geheimnisse niemandem. Nich jeder weiß um meine Geheimnisse; nur die Rose kennt sie genau. So sehr bin ich in die Rose verliebt, daß ich nicht einmal an meine eigene Existenz denke, sondern nur an die Rose und an die Korallenfarbe ihrer Blütenblätter. Die Reise zum Simurgh geht über meine Kraft; die Liebe zur Rose genügt der Nachtigall. Für mich entfaltet sie ihre hundert Blütenblätter; was will ich mehr! Die Rose, die heute aufblüht, ist voller Sehnsucht nach mir und lächelt mir freudig zu. Wenn sie ihr Gesicht unter dem Schleier zeigt, weiß ich, daß sie es für mich tut. Wie kann die Nachtigall auch nur eine einzige Nacht auf die Liebe dieser Zauberin verzichten?"
(aus
"Vogelgespräche" von Farid
ud-din Attar;
Ansata Verlag)