(...)
Eines
Tages ertönte vom oberen Ende dieses Ortes gellendes Hundegebell und danach
ein lautes Getöse. "Bislang konnte ich mich an diesem Ort ungestört
in meine Meditation vertiefen, ob sich jetzt etwa Hindernisse ankündigen?"
dachte der Jetsün, ging vor seine Höhle, setzte sich auf einen großen
Felsen und versenkte sich in das tiefe Mitgefühl, das aus der Erkenntnis
der Offenheit entsteht.
Da kam plötzlich ein schwarzer Hirsch auf ihn
zu, dem vor lauter Panik der Schweiß von jedem einzelnen seiner Haare herabtropfte.
Der Jetsün empfand unwillkürlich tiefes Mitgefühl für ihn.
"Wie bemitleidenswert, aufgrund seines Karmas hat er einen solchen Körper
erhalten, und obwohl er in diesem Leben niemandem etwas zuleide tut, muß
er solch unerträgliches Leid ertragen. Ich muß ihn das Mahayana-Dharma
lehren und ihm zu dauerhaftem Glück verhelfen", dachte er und sang dem
Hirsch dieses Lied:
"Ich
verbeuge mich zu Füßen des Marpa von Lhodrag,
Gewähre deinen
Segen, damit das Leid der Lebewesen getilgt wird.
Du Kreatur mit dem Körper
eines Hirschs und Dornen auf dem Kopf,
Hirschkörper
mit Dornenkopf, höre dir Milarepas Lied an.
Du kannst vor äußeren
Erscheinungen fliehen, so schnell du willst,
Von den trügerischen Erscheinungen
der inneren Unbewußtheitwirst du dadurch nie befreit.
Den äußeren
Körper kannst du mit dem Geist nicht aufgeben.
Es ist Zeit, die Unbewußtheit
mit ihren trügerischen Erscheinungen aufzugeben.
Die Wahrheit ist, daß
Karma zu schnell heranreift,
Als daß ihm der äußere illusorische
Körper entkommen könnte.
Willst du entfliehen, dann flüchte
zur inneren Natur des Geistes.
In der Natur des Geistes bist du zur Erleuchtung
entflohen.
Wenn du glaubst, du könntest entkommen, indem du anderswohin
flüchtest, täuscht du dich.
Merze die Täuschung im Geiste aus,
und bleibe hier sitzen.
Weil
du in deiner jetzigen Verfassung
Den Tod auf keinen Fall erleiden willst,
Hoffst
du zu jenem Hügel dort zu entkommen,
Fürchtest du auf diesem Hügel
hier erwischt zu werden.
Und aus Hoffnung und Furcht irrst du im Daseinskreislauf
umher.
Ich gebe dir eine Unterweisung über die sechs Yogas des Naropa,
Ich
lehre dich die Praxis von Mahamudra!"
So
sang er mit einer Stimme, die in ihrem Wohlklang der des Brahma glich. Jeder,
der dieses Lied gehört hätte, wäre davon verzaubert gewesen. Durch
des Jetsün Mitgefühl legte sich sogleich die Angst und das Leiden des
Hirschs, und Tränen flossen ihm aus den Augen. Er verlor seine Furcht vor
dem Jetsün, leckte seine Kleidung und legte sich zu seiner Linken nieder.
"Da
muß ja noch irgendwo der Hund sein, dessen Gebell den Hirsch so in Panik
versetzte; wo er wohl geblieben ist?" Kaum hatte der Jetsün den Gedanken
zu Ende gedacht, da tauchte eine rote Hündin mit einem Halsband aus schwarzen
Yakschwanzhaaren auf. Ihre vier Pfoten waren vom Felsengestein aufgerissen, ihre
Zunge hing wie ein Lappen heraus, als sie voller Wut und Angriffslust, laut bellend
und schnell wie ein Blitz, den Hirsch verfolgte.
"Das muß die erbitterte
Verfolgerin des Hirschs sein. Alles, was diese Hündin außen sieht,
erscheint ihr feindlich, so kennt sie nichts als Raserei. Warum sollte sich ihre
Tobsucht nicht legen?" dachte der Jetsün, und voller Widerwille gegen
den Daseinskreislauf, doch mit echtem Mitgefühl sang er der Hündin dieses
Lied:
"Ich verbeuge
mich zu Füßen des Marpa von Lhodrag;
Gewähre deinen Segen,
damit sich die Raserei der Lebewesen legt.
Du Kreatur mit dem Körper eines
Hundes und der Schnauze eines Wolfes,
Hundekörper mit Wolfsschnauze, höre
dir Milarepas Lied an.
Alles,
was du wahrnimmst, erscheint dir als Feind,
Und dein Geist wird von Wut und
Böswilligkeit geschüttelt.
Wegen deines schlechten Karmas hast du
einen Hundekörper,
Du leidest ständig Hunger
Und kennst keine
Linderung deines Elends.
Wenn
du den Geist im Innern nicht überwachen kannst,
Was nützt es, draußen
andere Körper zu erbeuten,
Es ist an der Zeit, dem eigenen Geist in den
Griff zu bekommen.
Höre auf, wütend zu sein, und setze dich hier
hin.
Weil du in deiner jetzigen Verfassung
Die Pein und Wut nicht ertragen
kannst,
Fürchtest du, daß der Hirsch dir auf jenen Hügel dort
entflieht,
Hoffst du, daß du ihn auf diesem Hügel hier erwischst.
Und
aus Hoffnung und Furcht irrst du im Daseinskreislauf umher.
Ich gebe dir eine
Unterweisung über die sechs Yogas des Naropa,
Ich lehre dich die Praxis
des Mahamudra."
Durch
dies mit großem Mitgefühl und einer Stimme, die in ihrem Wohlklang
der des Brahma nicht nachstand, gesungene Unterweisung
legte sich die Rage der Hündin. Winselnd wedelte sie mit dem Schwanz und
leckte Milarepas Kleidung. Mit Tränen in den Augen steckte sie ihre Schnauze
in die Hände des Jetsün und legte sich an seiner Rechten nieder, so
daß sie und der Hirsch wie Kinder mit ihrer Mutter zusammensaßen.
Der Meister dachte: "Auf diese beiden Kreaturen wird sicher gleich ein
schlechter Mensch folgen. Wenn er alles gut durchsucht, wird er auch hierherkommen."
(...)
aus
"Milarepas
gesammelte Vajra-Lieder; Band 2"
Theseus
Verlag 1997