Leseprobe:

Das Fest des Bambusschneidens im Kurama-Tempel war eine Veranstaltung, die Takichiro bevorzugte. Ihm, der sie seit jungen Jahren oft genug besucht hatte, war sie nichts Neues, aber nun wollte er seine Tochter Chiëko mitnehmen.
Takichiro scheute aber den Regen. Das Fest des Bambusschneidens am 20. Juni fiel mitten in die Regenzeit. Am 19. regnete es besonders stark.
"Ein so heftiger Regen kann nicht bis morgen anhalten", sagte Takichiro und sah öfter nach dem Himmel.
"Vater, mir macht der Regen nichts."
"Aber", sagte der Vater, "bei solchem Wetter ..."
Auch am 20. hing Feuchtigkeit in der Luft. "Schließt Fenster und Regenläden! Bei der scheußlichen Nässe leiden die Stoffe!" befahl Takichiro den Ladenburschen.
"Vater, werden wir nicht zum Kurama-Tempel gehen?" fragte Chiëko.
"Vielleicht im nächsten Jahr wieder. Mach dir nichts draus! Was haben wir vom Kurama-Tempel in solchem Nebel?"
Das Bambusschneiden verrichten nicht Geistliche, sondern vorwiegend Dorfleute. Sie werden "Bonzen" genannt. Zur Vorbereitung werden einen Tag zuvor je vier Stangen vom männlichen und weiblichen Bambus auf links und rechts von der Haupthalle aufgestellte Pfosten quer heraufgebunden. Beim männlichen Bambus werden die Wurzeln abgeschnitten und die Blätter belassen. Die weiblichen behalten die Wurzeln.
Vor der Haupthalle heißt seit alters her der linke Platz "Tamba-Sitz", der rechte "Omi-Sitz".
Die Leute aus den Häusern, die zum Dienst bestimmt sind, tragen das traditionelle Gewand aus grober Seide, Strohsandalen, Ärmelbänder zum Schürzen und zwei Schwerter, um den Kopf die buddhistische Schärpe aus fünf Stoffen, nach Benkei-Art gewunden, und um die Hüften Nandinenblätter. Das Bergmesser zum Bambusschneiden wird in einem Beutel aus Brokat aufbewahrt. Unter der Leitung eines Anführers begibt man sich zum Eingangstor.
Das geschieht etwa um ein Uhr mittags.
Nach dem Hornruf eines Priesters in Feiertracht beginnt das Bambusschneiden.
Zwei Festpagen sprechen im Chor zum Hauptpriester hin:
"Heil dem Fest des Bambusschneidens!"
Danach begeben sich die zwei Kinder zum rechten und linken Sitz, und ein jedes spricht die Lobpreisung:
"Herrlich der Bambus aus Omi!"
"Herrlich der Bambus aus Tamba!"
Die Bambusfäller schneiden zuerst den auf den Pfosten gebundenen männlichen Bambus herunter und ordnen ihn an. Der schmale weibliche Bambus bleibt liegen, wie er ist. Dann berichten die Festpagen dem Oberpriester:
"Die Bambusfäller haben es vollbracht."
Die Priester treten in den Altarraum ein und lesen Sutren. An Stelle von Lotosblüten wird ein Strauß von Sommerchrysanthemen ausgestreut. Der Hauptpriester schreitet zum Altar herab, öffnet seinen Fächer aus Zypressenholz und hebt und senkt ihn dreimal
Begleitet von dem Ruf "Hoooo ...!" schneiden je zwei Priester am Omi- und Tamba-Sitz den Bambus in drei Teile.
Gerade als Takichiro, der seiner Tochter das Bambusschneiden zeigen wollte, wegen des Regens zögerte, trat Hideo durch die Gittertür, unter dem Arm ein Einschlagtuch.
"Den Obi für das gnädige Fräulein habe ich endlich gewebt", sagte er.
"Den Obi ...?" fragte Takichiro überrascht. "Einen Obi für meine Tochter?"
Hideo ließ sich auf die Knie nieder und legte ehrerbietig die Handflächen aneinander.
"Wohl das Tulpenmuster ...?" fragte Takichiro heiter.
"Nein, Ihr Entwurf aus dem Nonnenstift", erwiderte Hideo ernst. "Damals, Herr Sata, habe ich mich schlecht benommen. Verzeihen Sie mein jugendliches Ungestüm!"
Takichiro war im Innersten bewegt.
"Was denn! Ich habe doch nur ein wenig meiner Liebhaberei gefrönt. Sie haben mich zurechtgewiesen. Das hat mich aufgerüttelt, und ich muss Ihnen Dank sagen."
"Nun bringe ich Ihnen den Obi, den ich zu weben versprach."
"Wie?" Takichiro erstaunte noch mehr. "Den Entwurf habe ich doch zerknüllt und neben Ihrem Hause in den Bach geworfen!"
"Sie haben ihn fortgeworfen ...?" fragte Hideo und sagte dann aufreizend ruhig: "Ich habe ihn einmal gesehen und recht gut im Kopfe behalten."
'Er ist eben ein Fachmann', dachte Takichiro, und seine Miene umwölkte sich.
"Aber eines sagen Sie mir, Herr Hideo! Warum haben Sie meinen Entwurf, den ich ins Wasser geworfen habe, gewebt? Warum haben Sie ihn gewebt?" wiederholte Takichiro, und ein Gefühl, weder Schmerz noch Zorn, stieg in ihm auf. "Die warme Zustimmung des Herzens bleibt aus. Etwas ungesund Heftiges ... Waren Sie es nicht, Herr Hideo, der das sagte?"
Hideo schwieg.
"Eben darum habe ich, als ich Ihr Haus verließ, den Entwurf in den Bach geworfen."
"Herr Sata, verzeihen Sie mir!" Und wieder bat Hideo mit aneinandergelegten Handflächen um Entschuldigung.
"Ich hatte es satt, wertloses Zeug zu weben, und da ist mir eben die Erregung in den Kopf gestiegen."
"In den Kopf gestiegen, ja, auch mir. Ein Nonnenstift, gewiss, ruhig, wirklich ruhig, aber nur die bejahrte Frau Nonne allein, und mittags niemand als eine alte Bedienerin ... einsam ist es dort, einsam ... Und zu Hause ging das Geschäft zurück. Deshalb ging mir zu Herzen, was Herr Hideo sprach. Ein Händler wie ich, warum muss er Entwürfe zeichnen? Noch dazu so neuartiges Zeug ... Trotzdem!"
"Auch ich habe gut nachgedacht und nach der Begegnung mit dem gnädigen Fräulein wiederum nachgedacht."
"Und ...?"
"Den Obi, sehen Sie ihn gütigst an! Gefällt er Ihnen nicht, schneiden Sie ihn auf der Stelle in Fetzen!"
"Gut", sagte Takichiro und nickte. Und er rief seine Tochter:
"Chiëko, Chiëko!"
Chiëko, die im Kontor neben dem Prokuristen saß, stand auf und kam herein. (...)


Aus dem Roman "Kyoto" von Yasunari Kawabata.

Yasunari Kawabata: "Kyoto oder Die jungen Liebenden in der alten Kaiserstadt"
Dtv 1996
180 Seiten
ca. EUR 5,29. Buch bestellen