(...)
"Darf ich wissen, was Sie vorhaben?" Ich entkam
ihm nicht; sein Arm, den er in meinen geschoben hatte, wirkte wie eine Klammer,
aus der ich mich nur mit Bissen oder Tritten hätte befreien können. Er öffnete
das angelehnte Tor mit der Fußspitze und schloß es mit der Ferse, um weder die
Tasche noch mich loslassen zu müssen. Ich analysierte blitzartig die Lage, in
der ich mich befand: mit Ausnahme des Wolkenphotographen hatte keiner meine
unfreiwillige Flucht wahrgenommen, und von Beppe kannte ich nicht einmal den
ganzen Namen.
"Lassen Sie mich los", schrie ich. Beppe zog mich noch ein paar Autolängen mit
sich weiter, dann löste er seine Umklammerung. Wir waren fünfzig Meter von Riesingers
Villa entfernt. Von der Gartenbeleuchtung war nichts mehr zu sehen. Beppe lehnte
sich erschöpft gegen den Maschendrahtzaun, atmete durch. "Sie darf es nie erfahren.
Marianne, versprechen Sie mir, daß Sie schweigen werden." Er drehte den Kopf
zuerst in die eine, dann in die andere Richtung, schaute, ob neue Gäste eintrafen,
verstummte, als die Scheinwerfer eines Autos näherkamen.
Ich war plötzlich müde, wünschte mich in ein frisch bezogenes, kühles Bett.
In der Aufregung hatte ich meine schweren Beine vergessen. Ich stützte einen
Fuß auf der Stoßstange des vor mir geparkten Autos ab und drückte das Knie durch,
als flösse das Wasser dadurch herzwärts.
"Kann ich meine Tasche wiederhaben?" Ich sagte es mit Ungeduld.
Wie aus dem Schlaf heraus sah mich Beppe an, mit zusammengekniffenen Augen.
"Die Tasche."
Sein Blick wanderte von der Schulter über den Ellbogen zur Hand, in der er die
Handtasche hielt.
"Die Tasche", wiederholte ich und machte Anstalten, sie ihm wegzunehmen. Da
kam er endlich in Gang, stolperte los mit diesem "Nein, nein!" auf den Lippen,
zu dem er sich Mühe geben mußte. Er lief bis zur nächsten Kreuzung, ich hinter
ihm her. Als ich ihn am Sakko packte, griff ich in den feuchten Leinenstoff.
Sein Hemd war durchgeschwitzt.
Er runzelte die Stirn und schaute zu Boden. "Ich habe mich auf Riesingers Chihuahua
fallen lassen, verstehen Sie? Wie konnte ich wissen, daß dieser elende Köter
unter den Kissen lag. Bei dieser Hitze. Natürlich ist er tot."
Über uns blinkte die Ampel, in regelmäßigen Abständen kam Farbe in Beppes Gesicht.
Ich erinnerte mich an Frühwalds Vernissage, an Riesingers Schoßhündchen, das
zwischen den Beinen der Besucher herumlief; alle blickten auf den Hund, während
Riesinger eine schlecht vorbereitete Eröffnungsrede hielt, die einem Wetterbericht
glich. Sie deutete auf Frühwalds Photos und sprach von der faserigen, büscheligen
oder fädigen Beschaffenheit der Cirrus-Wolken, dabei handelte es sich bei den
von ihr beschriebenen Bildern eindeutig um Stratus-Wolken in einer bläulichen
Färbung, die den ganzen Himmel bedeckten. Bei jedem verdächtigen Geräusch, das
die Rede seiner Herrin hätte stören können, begann der Hund zu bellen.
Ich machte einen vorsichtigen Blick in meine Tasche, konnte aber in der Dunkelheit
nichts erkennen.
"Ich kaufe Ihnen eine neue", sagte Beppe. Ein paar Meter vor uns lief eine
Katze
über die Straße. "Sie haben mich gerettet. Ohne Sie säße ich wahrscheinlich
noch immer auf dem Hund. Es knackte unter mir, als hätte der Holzrahmen des
Sofas nachgegeben."
Die Stechmücken wurden lästig; ich schlug nach ihnen, klatschte auf den Unterarm.
Mir fehlte die genaue Erinnerung an Riesingers Schoßhündchen, dabei führte seine
Winzigkeit im Vergleich zur Größe und Dicke seiner Herrin immer wieder zu Bemerkungen.
Paul nannte es den "Mäusejäger". Er fand die runden, weit auseinander stehenden
Augen abstoßend.
"Ich habe nicht erwartet, daß Sie so ruhig bleiben", sagte mein Begleiter, zog
die Brauen in die Höhe und wischte sich mit einem gebrauchten Papiertaschentuch
den Schweiß von der Stirn.
Mir fiel der Schinken in der Handtasche ein, auf dem das fellige Bündel seine
letzte Ruhe gefunden hatte. Wenn ich es mir aussuchen könnte, läge ich lieber
auf frischen Erdbeeren als in einer kahlen Holzkiste, auf Zimterdbeeren, die
noch kleiner und würziger sind als
Walderdbeeren.
Aber ich werde nicht wählen können. Die Wahrscheinlichkeit, unter einem enormen
Hintern zu Tode zu kommen, war so klein wie die Aussicht auf ein duftendes Erdbeerbett.
"Nehmen Sie Haltung an", sagte ich zu Beppe, "wir sind auf einer Beerdigung."
Er stand wie Vera zwischen den geparkten Autos und zündete sich eine Zigarette
an; der Hund lag im Ledersarg auf einer Kühlerhaube, es fehlten die Träger.
Aus Beppes gequältem, verschwitztem Gesicht kam ein Kinderkichern, das ihm gar
nicht stand.
"Ich habe den Köter gehaßt. Er strich immer um die Beine, als suchte er einen
Ort zum Pissen."
"Das ist noch kein Grund, ihm das Genick zu brechen." Ich nahm die Handtasche
und ging damit zur nächsten Straßenbeleuchtung; die Tasche war höchstens zwei
Milchpackungen schwerer. Mein schneller Blick in die Öffnung reichte nicht,
um den Kopf zu erkennen. Ich sah aber das kurze, glänzende Fell und die dicht
behaarte Rute, die der Hund kerzengerade über dem Rücken getragen hatte.
"Sie gehen zurück auf die Party, und ich entsorge das Tier." Beppe trat die
angerauchte Zigarette aus und kam auf mich zu.
"Ohne Tasche? Wie stellen Sie sich das vor? Sie werfen es jetzt hinters Gebüsch
und kommen mit mir aufs Fest."
"Das nennen Sie eine Beerdigung? Ich kann nicht lügen. Wenn Riesinger ihren
Chihuahua sucht, stelle ich mich vor sie hin und erkläre ihr, daß ihr Liebling
meinem Körpergewicht leider nicht standgehalten hat."
Berger, sagte ich mir, würde tröstend seine Hand auf ihre Schulter legen. Dank
seiner jahrelang trainierten Gesichtsmuskulatur, seiner durch pausenloses Grinsen
wie gepolstert wirkenden Wangen, würde es aussehen, als freute er sich über
Riesingers großen Verlust.
In der Leuchtreklame an der gegenüberliegenden Hausmauer fehlten mehrere Lampen,
so daß die Leuchtschrift wegen der in die Dunkelheit gefallenen Vokale unverständlich
war, sie ergab auch keinen anderen, neuen Sinn, und mir war nicht nach Spielen.
"Gut", sagte Beppe, "also werfe ich den Hundekadaver über den Zaun." Ich sah
in den Sternenhimmel und schwieg.
Wie plötzlich alles aus der Reihe tanzt, dachte ich, wie unter einem Hintern
ein Hund stirbt es knackt im ruhigen Sitzen -, wie gestern der Absatz eines
Frauenschuhs gerade noch an der Sohle hängenblieb und die Frau in der Innenstadt
stolperte leicht, griff mit der flachen Hand gegen die Mauer, stützte sich ab,
besah den Schaden, "Ja, wie denn?"-, wie der Henkel einer Tasse erst über Monate
locker saß und schließlich brach, wie die Laufmasche schon rannte, bevor das
Nylon den Schritt erreichte, wie ich dennoch immer wieder zog, die Strumpfhose
über die Knie und weiter, als liefe die Masche zurück, wie ich meinen Befund
in der Hand hielt und keiner da war, um mich zu trösten. Ja, wie.
(Aus "Die Zumutung" von Sabine Gruber)