Leseprobe:

MEINUNGSBEKUNDUNG

Verehrter Herr Chefredakteur: Wenn ich mir die Freiheit nehme, zur Feder zu greifen und diese ungelenken, aber ehrlichen Zeilen an die Abteilung Leserbriefe der Zeitung zu richten, die Sie mit soviel Würde und Berechtigung leiten, so geschieht dies namens der Traditionen und Ideale des Liberalismus, der Gastlichkeit und der Toleranz, die das moralische Fundament der Gesellschaft unseres Landes bilden und seinen Einfluss und Ruhm in allen Weltgegenden begründet haben. Bürgersinn, Mitgefühl und Achtung fremder Bräuche und Meinungen sind nicht nur im streng juristisch-verfassungsrechtlichen Rahmen niedergelegt; sie müssen auch täglich in der gesellschaftlichen Praxis umgesetzt werden, wenn sie nicht im Bereich der Wunschträume dahinvegetieren und sich schließlich in tote Schriftzeichen verwandeln sollen.
Ich, Herr Chefredakteur, beanspruche das unveräußerliche Recht auf eine abweichende Meinung: die Möglichkeit, im Licht des hellen Tages meine tiefsten und intimsten Gefühle und Affekte voll auszuleben, sosehr dies auch furchtsame Kleingeister schockieren mag: die Möglichkeit, ohne jegliche Repression oder jedweden Komplex eine heterodoxe, aber bereichernde Form der Sexualität zu genießen.
Im naiven Glauben, Verständnis und Beistand zu finden bei den organisierten Minderheiten, die im Schutz der gegenwärtigen und - sagen wir dies ganz deutlich - trügerischen Liberalisierung unserer Sitten derzeit an den Rändern und in peripheren Zonen der Gesellschaft gedeihen, habe ich Kontakt aufgenommen zu verschiedenen Gruppierungen, Kollektiven und beweglichen Einheiten von Feministinnen, Schwulen, Lesben, Pädophilen, Sadomasochisten, Masturbanten etc., ohne bei ihnen die geringste Unterstützung für mein Anliegen zu erhalten. Weder die Roten Schwuchteln noch die Fetischistische Befreiungsfront, noch die Stoßtrupps Revolutionärer Lesben wollten meine gerechten Klagen und Forderungen akzeptieren und sich zu eigen machen. Wie in den düstersten Perioden der Vergangenheit - nicht zu reden von anderen historisch überwundenen Etappen - sehe ich mich gezwungen, verstohlen und gleichsam im Untergrund zu handeln, und in meiner Umgebung lese ich nichts als Borniertheit und Feindschaft.
Ich mag Hunde, Herr Chefredakteur: Hunde aller Rassen und Größen, ohne jede Ausnahme. Aus diesem Grunde verzichte ich auf die Annehmlichkeiten einer ausschließlich monocaninen Beziehung zu einem schönen Exemplar meines eigenen Besitzes und wahre eine offene, pluralistische Dynamik all jenen Repräsentanten der Gattung Hund gegenüber, denen ich auf der Straße begegne. Der gutmütige, phlegmatische Bernhardiner ist mir ebenso recht wie das Schoßhündchen, der Windhund ebenso wie der Schweißhund, die Bracke ebenso wie der Deutsche Schäferhund. Wenn ich einen sehe, sei es am Rand des Bürgersteigs, an einem Pflanzenschutzgitter oder bei schwanzwedelndem Bummel über die Wege eines Parks, so nähere ich mich ihm, streichle ihm über Kopf und Rücken, wechsle einige höfliche Sätze mit dem Besitzer, erinnere mich laut an ähnliche Afghanen und Dackel, erläutere die persönlichen Gründe für meine Sympathie und Emotivität. Ohne das Gespräch mit dem Besitzer abzubrechen, wenn er anwesend ist, oder, falls er nicht da ist und uns in Frieden lässt, voll auf den Wauwau konzentriert, der zufrieden ist  und schon in Hitze gebracht durch meine Zuwendungen und Liebkosungen, lasse ich dann allmählich meine Hand zum hinteren Bauch gleiten und berühre das Geschlechtsteil. Zunächst zurückhaltend, später mit größerer Konzentration und Energie, begebe ich mich daran, ihn zu masturbieren, glücklich zu machen. Sie müssten sehen, welche unendliche Dankbarkeit in seinen Augen zu lesen ist, Herr Chefredakteur, bevor Sie übereilt mein Verhalten verurteilen und mich im Namen einer falschen, engstirnigen Moral unwiderruflich stigmatisieren! In mehr als zwanzig aktiven Jahren auf den Straßen und in den Parks dieser unserer Hauptstadt habe ich keinen einzigen Fall von Abwehr oder mangelnder Bereitschaft gefunden! Aber wenn die Hunde mir auch Herzlichkeit und Zuneigung bezeugen, kann ich doch nicht das Gleiche über ihre Besitzer sagen, auch nicht über jene, die bloß neugierig herumstehen und wie empörte und verdutzte Trottel meiner Manipulation beiwohnen. Ihre Gesichter, Grimassen, Blicke verraten Ablehnung und Widerwille, wenn nicht gar Verachtung und Ekel, und das zeigt ganz klar, dass auch in einer angeblich permissiven Gemeinschaft wie der unseren das Recht auf Authentizität und Abweichung nicht existiert und dass jene, die es wie ich verfechte, soziale Parias sind, Ghettobewohner, Bürger dritter Klasse.
Wo ist denn die so lauthals beschriene Fortschrittlichkeit unserer Sitten, Herr Chefredakteur, wenn man, statt sich der vom Gesetz eingeräumten Rechte und Möglichkeiten zu erfreuen, in die Zeit der Katakomben zurückgehen muss?
Im Vertrauen auf Ihre Sympathie und Unterstützung wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie meine Frustration und Enttäuschung dem gelassenen, unvoreingenommenen Urteil Ihrer Leser unterbreiten wollten.


Aus dem Roman "Landschaften nach der Schlacht" von Juan Goytisolo.
Eine verrückte, doch höchst reale Welt tut sich in diesem Buch auf, in dem der Protagonist durch das Sentier-Viertel von Paris streift - dort wohnt er in der Rue Poissonière und ebenso seine Frau, die aber in einem eigenen Appartement haust, er verkehrt mit ihr durch Zettel, die er unter der Tür durchschiebt. "Was ihn anzieht - und seinem beklagenswert gröblichen Geschmack entgegenkommt -, ist das aufgepfropfte, postkoloniale, barbarisierte Paris von Belleville oder Barbès, ein Paris, das nichts Kosmopolitisches oder Kultiviertes hat, das Paris der Analphabeten und Metöken." Doch er treibt sich auch in seinen Fantasien, Obsessionen und Gedankenspielen herum, in denen es nicht schön, sittsam, friedlich und freundlich zugeht, sondern hässlich, unsauber, aggressiv und obszön. "In die Realitäten einzutauchen ist ein ebenso riskantes Unterfangen wie das Betreten eines Minenfeldes."
Der Protagonist ist griesgrämig, neigt zur Pädophilie, schwärmt für Lewis Carroll, den Erfinder von "Alice im Wunderland", und stellt Collagen aus Zeitungsausschnitten und pornografischer Leserpost genauso zusammen, wie er sich Stalin zurechtträumt oder Albanien als surreales Paradies entwirft oder sich vorstellt, wie sich der Klimawandel konkret auswirkt auf die Küstenstreifen oder tiefliegende Länder. Und er liebt die Poesie der mystischen Sufi -Derwische ...
Aus dem Spanischen von Gisbert Haefs.
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