Frosch rettet Tokyo
Als
Katagiri in seine Wohnung kam, wartete dort ein riesenhafter Frosch auf ihn. Auf
seinen Hinterbeinen stehend, war er über zwei Meter groß und dazu stattlich
gebaut. Katagiri, selbst nur 1,60 groß und eher schmächtig, war überwältigt von
der imposanten Erscheinung des Froschs.
"Nennen Sie mich bitte einfach
Frosch", sagte der Frosch mit kräftiger, sonorer Stimme.
Katagiri fehlten die
Worte. Wie angewurzelt blieb er mit offenem Mund in der Eingangstür
stehen.
"Erschrecken Sie doch nicht so. Ich will Ihnen ja nichts tun. Kommen
Sie bitte herein, und schließen Sie die Tür", sagte Frosch.
Die Aktentasche
in der rechten Hand und eine Papiertüte mit Gemüse und Dosenlachs aus dem
Supermarkt in der linken, rührte Katagiri sich keinen Schritt.
"Rasch, Herr
Katagiri, machen Sie die Tür zu, und ziehen Sie die Schuhe aus."
Als Katagiri seinen Namen hörte, löste sich seine Erstarrung. Gehorsam schloss
er die Tür, stellte die Tüte auf den Boden und zog sich mit der Aktenmappe unter
dem Arm die Schuhe aus. Sodann führte der Frosch ihn in die
Küche,
wo sie sich an den Tisch setzten.
"Also, Herr Katagiri", begann Frosch. "Entschuldigen Sie, dass ich
während Ihrer Abwesenheit einfach hier eingedrungen bin. Ganz sicherlich ist das
ein Schock für Sie. Aber mir blieb nichts anderes übrig. Wie wär’s mit einer
Tasse Tee? Ich vermutete, dass Sie bald nach Hause kommen würden, und habe
vorsorglich schon mal Wasser aufgesetzt."
Katagiri hielt noch immer seine
Aktenmappe umklammert. Da spielt mir doch jemand einen Streich, dachte er.
Jemand hat sich verkleidet, um mich auf den Arm zu nehmen. Doch die Bewegungen,
mit denen der Frosch das heiße Wasser in die Teekanne goss - er summte dabei ein
Liedchen - ließen keinen Zweifel, dass es sich um einen echten Frosch handelte.
Frosch stellte eine Tasse für Katagiri und eine für sich selbst auf den
Tisch.
"Haben Sie sich etwas beruhigt?", fragte Frosch, während er seinen Tee
schlürfte.
Katagiri war noch immer sprachlos.
"Natürlich hätte ich meinen
Besuch ankündigen sollen", sagte Frosch. "Ich weiß, Herr Katagiri. Jeder würde
erschrecken, wenn in seiner Wohnung plötzlich ein großer Frosch auf ihn warten
würde. Aber es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit von äußerster
Dringlichkeit. Also verzeihen Sie mir bitte."
"Dringlichkeit?" Endlich
brachte Katagiri zumindest ein Wort über die Lippen.
"Ja, so ist es, Herr
Katagiri. Sonst würde ich doch nie ungebeten in die Wohnung eines Fremden
eindringen. Derartige Grobheiten sind nicht meine Art."
"Hat diese
Angelegenheit etwas mit meiner Arbeit zu tun?"
"Ja und nein", sagte Frosch
und wiegte den Kopf. "Nein und ja."
Ich muss Ruhe bewahren, dachte Katagiri.
"Darf ich rauchen?"
"Natürlich, natürlich", sagte der Frosch und lächelte
freundlich. "Es ist doch Ihre Wohnung. Sie müssen sich nicht bei mir
entschuldigen. Rauchen Sie, trinken Sie, so viel Sie möchten. Ich selbst bin
Nichtraucher, aber niemals würde ich jemandem verbieten, in seinem eigenen Haus
zu rauchen."
Katagiri zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche seines
Jacketts. Als er die Zigarette mit einem Streichholz anzündete, merkte er, dass
seine Hände zitterten. Der Frosch saß ihm gegenüber und beobachtete jede seiner
Bewegungen mit großer Aufmerksamkeit.
"Sie gehören nicht möglicherweise zu
irgendeiner Bande?", wagte Katagiri sich vor.
"Hahahahahaha", lachte Frosch.
Es war ein lautes, helles Lachen. Dabei patschte sich mit einer Flosse auf die
Schenkel. "Sie haben wirklich Sinn für Humor, Herr Katagiri. Es gibt ja wirklich
einen Mangel an guten Kräften auf der Welt, aber welche Verbrecher würden einen
Frosch anheuern? Damit würden sie sich doch zum Gespött der Leute
machen."
"Wenn Sie gekommen sind, um über eine Rückzahlung zu verhandeln,
muss ich Sie enttäuschen", sagte Katagiri ohne Umschweife. "Ich bin nicht
befugt, darüber zu entscheiden. Ich befolge nur die Weisungen meiner
Vorgesetzten und führe ihre Entscheidungen aus. Ich kann nichts für Sie
tun."
"Herr Katagiri", sagte Frosch und hob einen Finger. "Wegen einer
solchen Lappalie bin ich nicht hier. Mir ist bekannt, dass Sie stellvertretender
Vorsteher der Kreditabteilung in der Shinjuku-Filiale der Sicherheitskreditbank
von Tokyo sind. Mein Besuch hat mitnichten mit der Rückzahlung eines Kredits zu
tun. Ich bin gekommen, weil ich Tokyo vor der Zerstörung retten
will."
Katagiri sah sich im Raum um. Vielleicht gab es eine versteckte
Kamera, und man erlaubte sich einen aufwendigen blöden Scherz mit ihm. Aber da
war keine Kamera. Das Zimmer war ohnehin viel zu klein, als dass man eine Kamera
darin hätte verstecken können.
"Außer uns ist niemand hier, Herr Katagiri.
Vielleicht denken Sie auch, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank oder das
Ganze wäre nur ein Traum. Aber ich bin nicht verrückt, und Sie träumen auch
nicht am helllichten Tag. Die Sache ist vollkommen ernst."
"Also, Herr
Frosch", begann Katagiri.
"Nur 'Frosch', bitte", sagte Frosch und hob wieder
den Finger.
"Also gut, Frosch", setzte Katagiri von Neuem an, "nicht, dass
ich Ihnen nicht traue. Aber ich begreife die Situation noch immer nicht. Ich
weiß nicht, was hier vorgeht. Dürfte ich Ihnen also einige Fragen
stellen?"
"Natürlich, natürlich", sagte Frosch. "Verständnis ist äußerst
wichtig. Manche behaupten zwar, Verständnis sei nicht mehr als die Summe unserer
Missverständnisse, und auch ich finde diese Ansicht im höchsten Maße
interessant, aber leider fehlt uns für originelle Überlegungen dieser Art im
Augenblick die Zeit. Am besten wäre es, auf kürzestem Weg zu gegenseitigem
Verständnis zu gelangen. Fragen Sie deshalb alles, was Sie möchten."
"Sind
Sie ein echter Frosch?"
"Natürlich, das sieht man doch. Keine Metapher, kein
Zitat, keine Ableitung, keine Attrappe oder sonst etwas Kompliziertes. Ein
Frosch, wie er leibt und lebt. Soll ich mal ein bisschen quaken?"
Frosch wandte den Kopf zur Decke zu und blähte seine Kehle.
Quuaaak,
quuuaaak .... Sein lautes Quaken ließ die Bilder an der Wand erzittern.
"Schon gut, schon gut", sagte Katagiri hastig. Die Wände des
Apartments waren dünn. "Ich verstehe. Sie sind mit Sicherheit ein echter
Frosch."
"Man könnte sogar sagen, ich bin die Summe aller Frösche, was jedoch
nichts an der Tatsache ändert, dass ich ein Frosch bin. Wer behauptet, ich wäre
kein Frosch, ist ein schmutziger Lügner. Den würde ich zu Brei
hauen."
Katagiri nickte. Um sich zu beruhigen, griff er nach seiner Tasse und
nahm einen Schluck Tee. "Sie sagten, Sie wollen Tokyo vor der Zerstörung
bewahren, nicht wahr?"
"Habe ich gesagt."
"Vor welcher Art von
Zerstörung?"
"Erdbeben."
(Aus "Nach dem Beben"
von
Haruki Murakami.
Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.)
"Wurm lebt in der Erde. Wenn er wütend
wird, löst er Erdbeben aus", erklärte Frosch. "Und im Moment ist Wurm
schrecklich wütend."
"Nach dem Beben", sechs Erzählungen, die Haruki Murakami schrieb, als die japanische
Insel bebte und
ein Giftgasanschlag die Gesellschaft erschütterte. Beide Ereignisse - das Erdbeben
von Kobe mit Tausenden von Toten und die Terrorakte in der U-Bahn von Tokyo
- bewogen ihn 1995 aus dem "Exil" zurückzukehren, um, wie er sagte, seinem Land
beizustehen.
"Nach dem Beben": Fünf Tage und Nächte verbringt die Frau eines Verkäufers für
Hifi-Geräte vor dem Fernsehen mit den Katastrophenbildern vom Erdbeben - dann
verlässt sie ihren Mann, der sich mit einem mysteriösen Päckchen auf eine Reise
begibt. Eine Wahrsagerin sieht tief in die hasserfüllte Seele einer Ärztin,
die einem Mann aus Kobe, der ihre Hoffnungen zerstört hat, den Tod wünscht.
Die vierjährige Sara begegnet in ihren Alpträumen dem Erdbebenmann, der sie
in eine Kiste sperren will. Und der Bankangestellte Katagiri hat in seiner Wohnung
Besuch von einem Riesenfrosch, der Tokyo vor der Zerstörung durch einen Wurm
retten will. Aber der zwingendste Charakter von allen ist das Erdbeben selbst:
Der sichtbare Schaden ist weniger schmerzlich als der untröstliche in der Seele
der Menschen.
Buch
bestellen