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In dem Schimmer der Nachtlampe gewahrte er ein kleines, kaum spannlanges Ungeheuer,
das auf seiner weißen Bettdecke saß und vor dem er sich im ersten Augenblick
entsetzte, dann griff er aber mutig mit der Hand darnach, um sich zu überzeugen,
ob seine Fantasie ihn nicht täusche. Doch sogleich war das kleine Ungeheuer
spurlos verschwunden.
Konnte die genaue Porträtierung der schönen Aline, Dörtje Elverdink oder Prinzessin
Gamaheh - denn daß eine und dieselbe Person sich nur scheinbar in drei Personen
zerspaltet, weiß der geneigte Leser schon längst - füglich unterbleiben, so
ist dagegen es durchaus nötig, ganz genau das kleine Ungeheuer zu beschreiben,
das auf der Bettdecke saß und dem Herrn Peregrinus einiges Entsetzen verursachte.
Wie schon erwähnt, war die Kreatur kaum eine Spanne lang; in dem Vogelkopf staken
ein Paar runde glänzende Augen, und aus dem Sperlingsschnabel starrte noch ein
langes spitzes Ding wie ein dünnes Rapier hervor, dicht über dem Schnabel streckten
sich zwei Hörner aus der Stirne. Der Hals begann dicht unterdem Kopf auch vogelartig,
wurde aber immer dicker, so daß er ohne Unterbrechung der Form zum unförmlichen
Leibe wuchs, der beinahe die Gestalt einer Haselnuß hatte und mit dunkelbraunen
Schuppen bedeckt schien, wie der Armadillo. Das Wunderlichste und Seltsamste
war aber wohl die Gestaltung der Arme und Beine. Die ersteren hatten zwei Gelenke
und wurzelten in den beiden Backen der Kreatur dicht bei dem Schnabel. Gleich
unter diesen Armen befand sich ein Paar Füße und denn weiterhin noch ein Paar,
beide zweigelenkig, wie die Arme. Diese letzten Füße schienen aber diejenigen
zu sein, auf deren Tüchtigkeit die Kreatur sich eigentlich verließ, denn außerdem
daß diese Füße merklich länger und stärker waren als die andern, so trug die
Kreatur auch an denselben sehr schöne goldne Stiefel mit diamantnen Sporen.
War nun, wie gesagt, das kleine Ungeheuer spurlos verschwunden, sowie Peregrinus
darnach faßte, so hätte er gewiß alles für Täuschung seiner aufgeregten Sinne
gehalten, wäre nicht gleich unten in der Ecke des Bettes eine leise Stimme hörbar
geworden, die sich also vernehmen ließ: »Mein Himmel, Peregrinus Tyß, sollte
ich mich in Euch geirrt haben? Ihr handeltet gestern an mir so edel, und jetzt,
da ich Euch meine Dankbarkeit beweisen will, greift Ihr nach mir mit mörderischer
Hand? - Doch vielleicht mißfiel Euch meine Gestalt, und ich tat Verkehrtes,
mich Euch mikroskopisch zu zeigen, damit Ihr mich nur gewiß bemerken solltet,
welches nicht so leicht ist, als Ihr wohl denken möchtet. Ebenso wie vorher
sitze ich jetzt auf Eurer weißen Bettdecke, und Ihr seht mich doch ganz und
gar nicht. Nehmt's nicht übel, Peregrinus, aber Eure
Sehnerven
sind wahrlich ein wenig zu grob für meine schlanke Taille. Doch versprecht mir
nur, daß ich bei Euch sicher bin und daß Ihr nichts Feindseliges gegen mich
unternehmen wollt, so werde ich Euch näher kommen und manches erzählen, was
zu erfahren Euch eben nicht unrecht sein wird.«
»Sagt mir«, erwiderte Peregrinus Tyß der Stimme, »sagt mir nur erst, wer Ihr
seid, guter unbekannter Freund, das übrige wird sich denn wohl finden. Versichern
kann ich Euch indessen zum voraus, daß irgend Feindseliges gar nicht in meiner
Natur ist und daß ich fortfahren werde, gegen Euch edel zu handeln, wiewohl
ich zurzeit gar nicht begreifen kann, auf welche Weise ich schon jetzt Euch
meinen Edelmut bewiesen haben sollte. Bewahrt aber doch nur immer Euer Inkognito,
denn Euer Anblick ist eben nicht anmutig.«
»Ihr seid«, sprach die Stimme weiter, nachdem sie sich ein wenig ausgeräuspert,
»Ihr seid, ich wiederhole es mit Vergnügen, ein edler Mann, Herr Peregrinus,
aber nicht sonderlich tief eingedrungen in die
Wissenschaft
und überhaupt ein wenig unerfahren, sonst hättet Ihr mich erkannt auf den ersten
Blick. - Ich könnte ein wenig prahlerisch reden, ich könnte sagen, daß ich einer
der mächtigsten Könige sei und über viele, viele Millionen herrsche. Aus angeborner
Bescheidenheit und weil auch am Ende der Ausdruck: König! nicht recht paßlich,
will ich es unterlassen. - In dem Volke, an dessen Spitze zu stehen ich die
Ehre habe, herrscht nämlich eine republikanische Verfassung. Ein Senat, der
höchstens aus fünfundvierzigtausend neunhundert und neunundneunzig Mitgliedern
bestehen darf, der leichteren Übersicht beim Votieren halber, vertritt die Stelle
des Regenten, wer aber an der Spitze dieses Senats steht, führt, weil er in
allen Dingen des Lebens zur Meisterschaft gelangt sein muß, wirklich den Namen:
Meister! - Ohne weitere Umschweife will ich es Euch denn entdecken, daß ich,
der ich hier mit Euch spreche, ohne daß Ihr mich gewahrt, kein anderer bin,
als der Meister Floh. - Daß Ihr mein Volk kennet, daran will ich nicht im mindesten
zweifeln, denn gewiß habt Ihr, würdiger Herr, schon so manchen von meinem Volke
mit Euerm eignen Blut
erfrischt und gestärkt. Bekannt muß es darum Euch wenigstens wohl sein, daß
mein Volk von einem beinahe unzähmbaren Freiheitssinn beseelt ist und recht
eigentlich aus lauter leichtsinnigen Springinsfelden
besteht, die geneigt sind, sich jeder soliden Gestaltung zu entziehen durch
fortwährendes Hüpfen. Was für ein Talent dazu gehört, von einem solchen Volk
Meister zu sein, werdet Ihr einsehen, Herr Peregrinus, und schon deshalb die
gehörige Ehrfurcht vor mit haben. Versichert mir das, Herr Peregrinus, ehe ich
weiterrede.
Einige Augenblicke hindurch war es dem Herrn Peregrinus Tyß, als drehe sich
in seinem Kopf ein großes Mühlrad, von brausenden Wellen getrieben. Dann wurde
er aber ruhiger, und es wollte ihn bedünken, daß die Erscheinung der fremden
Dame bei dem Buchbinder Lämmerhirt ebenso wunderbar als das, was sich jetzt
begebe, und dies vielleicht eben nur die richtige Fortsetzung der seltsamsten
Geschichte sei, in die er verflochten.
Herr Peregrinus erklärte dem Meister Floh, daß er ihn schon jetzt seiner seltenen
Gaben halber ganz ungemein verehre, und daß er um so begieriger sei, mehr von
ihm zu erfahren, als seine Stimme sehr wohlklinge und eine gewisse Zartheit
in der Rede seinen feinen zierlichen Körperbau verrate.
»Sehr«, fuhr Meister Floh fort, »sehr danke ich Euch, bester Herr Tyß, für Eure
gute Gesinnung und hoffe Euch bald zu überzeugen, daß Ihr Euch in mir nicht
geirrt habt. - Damit Ihr erfahrt, bester Mann, welchen Dienst Ihr mir erwiesen
habt, ist es indessen nötig, Euch meine vollständige Biographie mitzuteilen.
- Vernehmt also! - Mein Vater war der berühmte - doch! eben fällt mir ein, daß
Lesern und Hörern die schöne Gabe der Geduld merklich ausgegangen ist, und daß
ausführliche Lebensbesehreibungen, sonst am mehrsten geliebt, jetzt verabscheut
werden. Ich will daher, statt gründlich zu sein, nur flüchtig und episodisch
dasjenige berühren, was auf meinen Aufenthalt bei Euch sich zunächst bezieht.
(...)
(aus "Meister Floh" von E.T.A. Hoffmann)