Mit seiner roten Mütze und der braunen Kutte erinnert der Munaciello an den Fliegenpilz, der in zahlreichen Märchen und Sagen immer wieder mit dem Volk der Zwerge in Zusammenhang gebracht wird. Sind die Schilderungen von den unterirdischen Kristallpalästen der Zwerge vielleicht poetische Umschreibungen für Rauschzustände, die nach der Einnahme des Fliegenpilzes auftreten? Ermöglicht der Fliegenpilz, wie es der Name sagt, das "Fliegen" in andere Bewusstseinsdimensionen, eine innere Reise in die normalerweise verborgene Welt der Feen und Elben zum Beispiel oder einen Trip in die verwunschenen Märchenreiche und unterirdischen Schatzhöhlen, in denen das Volk der Zwerge, Kobolde und Naturgeister haust? Ist dies das Reich, in das die Seelen der Toten nach einem Prozess der Läuterung eintreten? Verbergen sich in Zwergensagen weit in die Zeit zurückreichende Jenseitsvorstellungen? Wie das Hufeisen ist der Fliegenpilz mit dem weißen Stiel und der roten Kappe jedenfalls bis heute ein Glückssymbol; wer ihn findet, ist ein Glückspilz. Ihm steht das Tor zu einer anderen Welt offen.
In der märchenhaften Erzählung vom Zwerg mit der roten Mütze entdeckt die Hauptfigur der Geschichte im Wald zufällig einen "kleinen alten Mann". Das Gesicht der seltsamen Gestalt hat die rotbraune Farbe eines alten Pilzes; auf dem Kopf trägt er eine rote Kappe. Mit den zwei "Presssteinchen", die er vom Alten erhält, kann er zuerst nichts anfangen. Dann erklärt ihm der Kobold, wie er daraus ein Zaubermahl zubereiten kann, das ihn so hoch steigen lässt, wie den "Adler am Himmel". Die Geschichte wurde zusammen mit vielen anderen Feensagen und anderen merkwürdigen Geschichten von T. Crofton Croker (1798-1854) aufgezeichnet.
Ist der neapolitanische Zwerg Munaciello vielleicht eine poetische Umschreibung für die Schwindelzustände, die jene befallen, die sich an der roten Kappe gütlich tun? Im
Märchen "Rotkäppchen" nimmt sich der Wolf zuerst die Großmutter, die "alte Kappe", vor. In seiner Gier schnappt er sich auch noch das kleine Rotkäppchen und fällt darauf in einen tiefen Schlaf. Sind mit der alten und der jungen Kappe Fliegenpilze gemeint?
"Ein Männlein steht im Walde" von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874) heißt eines jener unsterblichen Lieder, die von Jung und Alt bis heute gerne gesungen werden. Das Männchen steht auf einem Bein und trägt "ein Purpur Mäntelein". Die Frage "Sag wer mag das Männlein sein?" wird von den Illustratoren meist durch die Abbildung eines Fliegenpilzes beantwortet.
Auffällig oft erscheint der Fliegenpilz in Sagen und Märchen, die mit Zwergen und ihren unterirdischen Schatzhöhlen in Zusammenhang stehen. Meistens wird der Fliegenpilz als Männchen mit roter Kappe umschrieben. Manchmal erscheint er als Kobold oder rotkappiger Zwerg. In Sibirien ist der Fliegenpilz die heilige Pflanze der Schamanen, die sich mit seiner Hilfe in eine andere Bewusstseinsdimension begeben. Rituell verwendet werden Fliegenpilze vor allem noch von den Kamtschadalen, Korjaken, Tschuktschen und den Jukagiren.
Versuche haben ergeben, dass ein bis vier mittelgroße Pilze zu Übelkeit, Dösigkeit und Mattheit führen. Dazu kommen Gefühle der Schwerelosigkeit, Euphorie und manchmal auch die Wahrnehmung farbiger Bilder. Beim Genuss von fünf bis zehn Pilzen treten deutliche Vergiftungserscheinungen auf. Erregungszustände und wirre Halluzinationen sind die Folge. In einem traumreichen Schlaf klingen die Wirkungen wieder ab. Ob größere Mengen zum Tod führen, ist bis jetzt nicht erwiesen. Ebenso ist die Annahme falsch, dass Milch, in der vorher getrocknete Fliegenpilze eingeweicht wurden, Stubenfliegen tötet. Die Fliege, die von dieser Milch trinkt, stirbt nur scheinbar. Nach einiger Zeit erhebt sie sich wieder, als ob nichts geschehen wäre.


Aus "Im Reich der Geister und tanzenden Hexen.
Jenseitsvorstellungen, Dämonen und Zauberglaube" von Kurt Lussi.
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