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Martin ließ Löwen, Tiger, Leoparden und Panther durch den Laufgang wieder in ihre Käfige zurückkehren und blieb mit den vier schwarzen Jaguaren allein. Nun führte er eine Nummer mit zwei Urgewalten vor: Raubtiere und Feuer. Die Scheinwerfer wurden ausgeschaltet, und für ein paar Sekunden war das ganze Zelt in absolute Dunkelheit getaucht. Man sah den Käfig und seine schützenden Gitterstäbe nicht mehr und fürchtete sich vor den Raubtieren mit ihren funkelnden Augen, deren Atem und Fauchen die Dunkelheit zerriss. Auch Kenner unter den Zuschauern fühlten dabei eine prickelnde Gänsehaut. Plötzlich flackerte eine Flamme auf: Martin zündete mit dem Feuer Fackeln und zwei Feuerringe an. Die Jaguare gingen nicht gern durchs Feuer und Martin, der das wusste, schwitzte am ganzen Leib. Er wusste auch, dass die Tiere durch die Reise noch verängstigt und deshalb unberechenbar waren. Äußerste Vorsicht war geboten, um sie nicht zum Kampf zu reizen. Selbst für Eva, die lustige Seele des Circus, die sich nie Sorgen um Martin machte, war es ein Augenblick der Angst. Sie war sonst so gelassen bei den Auftritten ihres Mannes, dass sie oft dafür nach dem Grund gefragt wurde. "Ich bin sicher, Martin wird nicht durch den Biss eines Raubtieres, sondern durch den Stich einer Mücke umkommen", antwortete sie dann überzeugt. An diesem Abend aber zitterte sie, als hätten die schwarzen Jaguare ihre Gelassenheit restlos aufgefressen. Sie wurde steif vor Angst, als eines der schwarzen Raubtiere sich umdrehte, Martin anfauchte und mit seiner mächtigen Pranke durch die Luft hieb, statt durch den Feuerring zu springen. Der Dompteur wich erschrocken zurück und schrie den Jaguar an. "Jesus Maria, wenn das nur gut geht", flüsterte Eva und fasste Valentin am Arm.
"Also liebst du ihn doch", flüsterte Valentin zurück. "Oder höre ich Frau Fürsorge, die Zwillingsschwester der Liebe?"
Eva lächelte. "Ich würde sagen, es ist Schwester Fürsorge", erwiderte sie.
Endlich gelang es Martin, die vier Raubtier zu beruhigen. Danach bewegten sie sich, als wären sie erfahrene Musiker unter der Leitung eines großartigen Dirigenten. Und als die Scheinwerfer wieder angingen, spendete das Publikum tosenden Beifall, der die Manege beben ließ. Martin verbeugte sich, entließ die edlen Raubtiere in ihre Käfige und lief hinaus.
"Es hat nicht viel gefehlt", vertraute er später Valentin an und meinte den Tod, der ihn an jenem Abend zweimal aus den Pupillen der Jaguare angestarrt hatte.
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(aus "Reise zwischen Nacht und Morgen" von Rafik Schami;
Deutscher Taschenbuch Verlag)