(...)
Holmes streckte seine Hand nach dem Schriftstück aus und glättete es auf seinen
Knien.
"Du wirst bemerken, Watson, dass das lange und das kurze S hier abwechselnd
gebraucht wurden. Das ist einer von mehreren Hinweisen, die es mir ermöglichten,
das Alter zu bestimmen."
Ich schaute über seine Schulter auf das vergilbte Dokument und die verblasste
Schrift. Der Kopf des Schriftstücks lautete "Baskerville Hall" und darunter
stand in breiten, krakeligen Ziffern "1742".
"Es scheint eine Art Aussage oder Erklärung zu sein."
"Ja, es erzählt von einer Legende, die in der Familie Baskerville überliefert
wird."
"Aber ich gehe davon aus, dass es sich um etwas Aktuelleres und Handfesteres
handelt, weswegen Sie mich aufgesucht haben?"
"Hochaktuell. Eine äußerst
handfeste, dringende Angelegenheit, die innerhalb von 24 Stunden entschieden
werden muss. Doch das Schriftstück ist kurz und auf engste Weise mit der Angelegenheit
verwoben. Wenn Sie gestatten, werde ich es Ihnen vorlesen."
Holmes lehnte sich in seinen Stuhl zurück, drückte seine Fingerspitzen gegeneinander
und schloss mit einem Anflug von Resignation seine Augen. Dr. Mortimer drehte
die Handschrift näher zum Licht und begann mit hoher, gebrochener Stimme die
folgende seltsame, altmodische Erzählung vorzulesen:
"Vom Ursprung des
Hundes der Baskervilles gibt es viele Versionen, doch da ich in direkter Linie
von Hugo Baskerville abstamme und die Geschichte von meinem Vater erzählt bekam,
der sie wiederum von seinem Vater erfahren hatte, schreibe ich sie hier nieder
in dem festen Glauben, dass sie sich genau so zugetragen hat. Und ich bitte
euch, meine Söhne, daran zu glauben, dass dieselbe Gerechtigkeit, die unsere
Sünden bestraft, diese auch gnadenvoll vergeben kann, und dass kein Fluch so
schwer wiegt, dass er nicht durch Gebete
und Reue aufgehoben werden kann. Lernt also aus dieser Erzählung, nicht die
Früchte der Vergangenheit zu fürchten, sondern voller Umsicht die Zukunft zu
gestalten, auf dass jene üblen Leiden, die unserer Familie so entsetzlich zugesetzt
haben, nicht zu unsrem Ruin erneut entfesselt werden.
Wisset also, dass in der Zeit der Großen Revolution (deren Geschichte des hochgelehrten
Lord Clarendon zu lesen ich euch nachdrücklich empfehle) das Landgut der Baskervilles
von Herrn Hugo des gleichen Namens geführt wurde, der als äußerst wilder und
gottloser Mann verrufen war. Seine Nachbarn hätten ihm solches Verhalten sicherlich
verziehen, da jene Gegend noch nie einen Heiligen hervorgebracht hatte, doch
waren ihm solcher Mutwille und grausamer Humor zu Eigen, dass sein Name im ganzen
Westen einen furchtbaren Klang besaß. Nun begab es sich, dass jener Hugo zu
der Tochter eines freien Bauern, der nahe dem Schloss
der Baskervilles Land besaß, in Liebe entflammte (wenn man denn tatsächlich
eine so dunkle Leidenschaft mit einem so strahlenden Wort bezeichnen kann).
Doch die wohlerzogene und auf ihren Ruf bedachte junge Frau mied ihn, da sie
seinen bösen Namen fürchtete. So geschah es denn eines Tages an Michaelis, dass
jener Hugo, um die Abwesenheit des Vater und ihrer Brüder wissend, zusammen
mit fünf oder sechs seiner boshaften Gefährten sich auf den Bauernhof schlich
und das junge Mädchen entführte. Zurück in Baskerville Hall wurde sie in ein
Zimmer der oberen Stockwerke verbracht, während Hugo und seine Freunde zu einem
langen Gelage niedersaßen, wie es ihre allabendliche Gewohnheit war. Dem armen
Mädchen vergingen die Sinne, als sie die Gesänge, das Geschrei und die schrecklichen
Flüche mitanhören musste, die von unten zu ihr heraufdrangen, denn man sagte
von Hugo Baskerville, dass seine Worte, wenn er getrunken hatte, dazu angetan
waren, ihn in Ewigkeit zu verdammen. Schließlich wurde ihre Angst so groß, dass
sie tat, wovor die tapfersten Männer wohl zurückgeschreckt wären; denn mit Hilfe
des Efeubewuchses, der damals (und selbst heute noch) die südliche Hauswand
bedeckte, kletterte sie unterhalb des Dachvorsprungs hinab und lief zu Fuß durch
das Moor; es waren drei Meilen von Baskerville Hall bis zu ihres Vaters Haus.
Der Zufall wollte es, dass Hugo kurze Zeit später seine Gäste verließ, um seiner
Gefangenen Essen und Trinken zu bringen, sofern ihm der Sinn nicht nach Üblerem
stand, und dabei den Käfig leer und den Vogel ausgeflogen vorfand. Da schien
ihn der Teufel
zu befallen, so raste er die Treppen hinunter in den Speisesaal, sprang auf
die große Tafel, dass Krüge und Teller umherflogen, und rief vor seinen Gefährten
laut aus, er wolle noch in dieser Nacht Leib und Seele den Mächten des Bösen
verschreiben, wenn er das Frauenzimmer nur zurückholen könne. Und während die
Gäste von dem Zorn dieses Mannes wie versteinert waren, schrie einer von ihnen,
noch bösartiger oder vielleicht betrunkener als der Rest, sie sollten die Hunde
auf ihre Fährte hetzen, woraufhin Hugo aus dem Haus lief und den Reitknechten
befahl, seine Stute zu satteln und das Rudel loszubinden. Er gab den Hunden
des Mädchens Halstuch, so dass sie Witterung aufnehmen konnten, und sie jagten
mit lautem Gebell im Mondschein über das Moor.
Eine Weile standen die Gäste wie angewurzelt da, unfähig zu begreifen, was sich
mit solcher Schnelligkeit abgespielt hatte. Doch alsbald kamen sie wieder zu
sich und begriffen langsam, was da im Moor vor sich ging. Alles war nun in Aufruhr,
einige riefen nach ihren Waffen, andere nach ihren Pferden, andere nach mehr
Wein. Aber schließlich kehrte der Verstand in ihre wirren Köpfe zurück und alle
zusammen, dreizehn an der Zahl, sprangen auf ihre Pferde und nahmen die Verfolgung
auf. Hell beschien sie der Mond, und sie ritten rasch Seite an Seite den Weg
entlang, den das Mädchen auf dem Weg nach Hause genommen haben musste.
Sie waren ein oder zwei Meilen weit gekommen, als sie an einem der Schäfer vorbeiritten,
die nachts die Herden auf dem Moor hüteten, und sie fragten ihn, ob er Reiter
und Hunde gesehen habe. Die Legende beschreibt, dass der Mann so verrückt vor
Angst war, dass er kaum sprechen konnte, aber schließlich tat er kund, das unglückliche
Mädchen gesehen zu haben, die Hunde auf ihren Fersen. 'Doch sah ich mehr als
das', sagte er, 'denn Hugo Baskerville ritt auf seiner schwarzen Stute an mir
vorüber, und stumm hinter ihm her jagte ein Höllenhund, wie ihn Gott niemals
auf mich hetzen möge.' Die betrunkenen Junker verfluchten den Schäfer und ritten
weiter. Bald jedoch lief es ihnen kalt den Rücken hinunter, denn sie hörten
ein Galoppieren über das Moor, und die schwarze Stute, mit weißem Schaum bedeckt,
kam zurück mit schleifenden Zügeln und leerem Sattel. Die
Reiter
drängten sich dichter aneinander, denn große Furcht stieg in ihnen auf, doch
noch immer setzten sie ihren Weg über das Moor fort, auch wenn jeder von ihnen,
wäre er alleine gewesen, sofort umgekehrt wäre. Langsamer reitend als zuvor
gelangten sie schließlich bei den Hunden an. Diese, obwohl für ihre Rasse und
ihren Mut berühmt, saßen winselnd auf einem Haufen am Rande einer tiefen Senke
im Moor; einige schlichen sich davon, andere starrten mit gesträubtem Nackenfell
und stierem Blick in das enge Tal, das sich vor ihnen ausbreitete.
So hatte die Gruppe also angehalten, und wie zu vermuten waren die Männer weitaus
nüchterner als zum Zeitpunkt ihres Aufbruchs. Die meisten von ihnen waren durch
nichts zu bewegen weiterzureiten, doch die drei Wagemutigsten oder vielleicht
Betrunkensten ritten in das enge Tal hinab. Unten weitete es sich zu einer breiten
Ebene, auf welcher zwei jener großen Steine standen, die einst von längst vergessenen
Menschen dort aufgerichtet wurden und heute noch dort stehen. Hell erleuchtete
der Mond die Lichtung, und in ihrer Mitte lag das unglückliche Mädchen dort,
wo sie vor Erschöpfung und Angst tot zusammengebrochen war. Jedoch war es weder
der Anblick ihres Leichnams noch der neben ihr liegenden Leiche
von Hugo Baskerville, der den drei draufgängerischen Wüstlingen die Haare zu
Berge stehen ließ: Über Hugo gebeugt, seine Kehle zerfleischend, stand ein grausiges
Untier, eine große, schwarze Bestie, von der Gestalt eines Hundes, doch größer
als jeder Hund, den je ein menschliches Auge erblickt hat. Und während sie es
anstarrten, zerfetzte das Untier ungerührt Hugo Baskervilles Kehle; als es ihnen
schließlich seine glühenden Augen und tropfenden Lefzen zuwandte, schrien sie
vor Entsetzen laut auf und ritten um ihr Leben davon. Einer von ihnen, so heißt
es, starb noch in derselben Nacht vor Grauen, die beiden anderen jedoch waren
den Rest ihres Lebens gebrochene Männer.
So geht die Legende, meine Söhne, vom Ursprung des Hundes, von dem es heißt,
dass er seither die Familie auf übelste Weise heimsucht. Wenn ich es nun hier
niederschrieb, so deshalb, weil etwas, womit man vertraut ist, weniger Furcht
einflößt denn Dinge, die nur angedeutet oder vermutet werden. Auch kann nicht
geleugnet werden, dass viele Mitglieder unserer Familie eines unglücklichen
Todes gestorben sind, auf plötzliche, blutige und geheimnisumwitterte Weise.
Doch mögen wir uns der unendlichen Güte der Vorsehung anvertrauen, die nicht
auf ewig Unschuldige über die dritte oder vierte Generation hinaus bestraft,
wie es in der Heiligen Schrift angedroht wird. Dieser Vorsehung empfehle ich
euch daher, meine Söhne, und rate euch, aus Vorsicht dem Moor fern zu bleiben
in jenen dunklen Stunden, da die Mächte des Bösen sich erheben.
[Dies von Hugo Baskerville an seine Söhne Rodger und John mit der Anweisung,
hiervon nichts ihrer Schwester Elizabeth zu berichten.]"
Nachdem Dr. Mortimer
diese seltsame Erzählung zu Ende gelesen hatte, schob er seine Brille auf die
Stirn und blickte zu Sherlock Holmes hinüber. Dieser gähnte und warf seinen
Zigarettenstummel in das Kaminfeuer.
"Nun?" sagte er.
"Finden Sie das nicht interessant?"
"Für einen Märchensammler..."
Dr. Mortimer zog eine zusammengefaltete Zeitung aus seiner Tasche.
"Nun gut, Mr. Holmes, dann werde ich Ihnen jetzt etwas Aktuelleres vorlegen.
Dies hier ist der Devon County Chronicle vom 14. Mai dieses Jahres. Darin
findet sich ein kurzer Artikel über die Umstände des Todes von Sir Charles Baskerville,
der ein paar Tage zuvor eingetreten ist."
Mein Freund beugte sich etwas vor und der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde
etwas erwartungsvoller.
(...)
(aus "Der Hund
der Baskervilles" von Sir Arthur Conan Doyle)
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