Der Alraun
Es ist Sage, daß, wenn ein Erbdieb, dem das Stehlen durch Herkunft aus einem
Diebesgeschlecht angeboren ist oder dessen Mutter, als sie mit ihm
schwanger
ging, gestohlen, wenigstens groß Gelüsten dazu gehabt (nach andern: wenn er
zwar ein unschuldiger Mensch,
in der Tortur aber sich für einen Dieb bekennet),
und der ein reiner Jüngling ist, gehenkt wird und das Wasser läßt (aut sperma
in terram effundit), so wächst an dem Ort der Alraun oder das Galgenmännlein.
Oben hat er breite Blätter und gelbe Blumen. Bei der Ausgrabung desselben ist
große Gefahr, denn wenn er herausgerissen wird, ächzt, heult und schreit er
so entsetzlich, daß der, welcher ihn ausgräbt, alsbald sterben muß. Um ihn daher
zu erlangen, muß man am Freitag
vor Sonnenaufgang,
nachdem man die Ohren mit Baumwolle, Wachs oder Pech wohl verstopft, mit einem
ganz schwarzen Hund, der keinen andern Flecken am Leib haben darf, hinausgehen,
drei Kreuze über
den Alraun machen und die Erde ringsherum abgraben, so daß die Wurzel nur
noch mit kleinen Fasern in der Erde steckenbleibt. Darnach muß man sie mit einer
Schnur dem Hund an den Schwanz binden, ihm ein Stück Brot zeigen und eilig davonlaufen.
Der Hund, nach dem Brot gierig, folgt und zieht die Wurzel heraus, fällt aber,
von ihrem ächzenden Geschrei getroffen, alsbald tot hin. Hierauf nimmt man sie
auf, wäscht sie mit rotem Wein sauber ab, wickelt sie in weiß und rotes Seidenzeug,
legt sie in ein Kästlein, badet sie alle Freitag und gibt ihr alle Neumond ein
neues weißes Hemdlein. Fragt man nun den Alraun, so antwortet er und offenbart
zukünftige und heimliche Dinge zu Wohlfahrt und Gedeihen. Der Besitzer hat von
nun an keine Feinde, kann nicht arm werden, und hat er keine Kinder, so kommt
Ehesegen. Ein Stück Geld, das man ihm nachts zulegt, findet man am Morgen doppelt;
will man lange seines Dienstes genießen und sichergehen, damit er nicht abstehe
oder sterbe, so überlade man ihn nicht, einen halben Taler mag man kühnlich
alle Nacht ihm zulegen, das höchste ist ein Dukaten, doch nicht immer, sondern
nur selten.
Wenn der Besitzer des
Galgenmännleins stirbt, so erbt es der jüngste Sohn, muß aber dem Vater ein
Stück Brot und ein Stück Geld in den Sarg legen und mit begraben lassen. Stirbt
der Erbe vor dem Vater, so fällt es dem ältesten Sohn anheim, aber der jüngste
muß ebenso schon mit Brot und Geld begraben werden.
(Aus "Deutsche Sagen", herausgegeben von den Gebrüdern Grimm.)