Die Schildkröte und der Hase
Eine Schildkröte, wegen ihrer Langsamkeit von einem Hasen gehöhnt, wagte es doch,
ihn zu einem Wettlauf herauszufordern, den er auch, mehr aus Scherz als aus Prahlerei,
annahm. Der Tag des Wettlaufs kam; das Ziel wird bestimmt, beide betreten in dem
nämlichen Augenblick die Bahn.
Die Schildkröte kriecht langsam, jedoch unermüdlich
fort: der Hase legt sich, um den Hohn gegen die Schildkröte aufs höchste zu treiben,
nach unendlich
vielen Seitensprüngen, nur noch wenige Schritte vom Ziele entfernt, in das Gras
nieder und schläft aus Mattigkeit ein, bis er durch der Zuschauer lauten Jubel
geweckt, die Schildkröte bereits oben an dem Ziel erblickt.
Schon sah er sie
zurückkehren, ging aber aus Scham auf die Seite und gestand frei: in seinem zu
großen Vertrauen auf seine Behendigkeit habe ihn das langsamste Tier von der Welt
beschämt.
Oft werden gute, aber flatterhafte Köpfe von mittelmäßigen, aber anhaltend fleißigen, eingeholt, ja übertroffen.
(aus den Fabeln des Äsop; 6. Jahrhundert v.Chr.)