(...) Das San
Marco ist ein richtiges Kaffeehaus, Peripherie der Geschichte,
gekennzeichnet durch die bewahrende Treue und den liberalen Pluralismus
seiner Besucher. Pseudokaffeehäuser sind jene, in denen sich eine
einzige Sippe breitmacht, ganz gleich ob von ehrbaren Damen,
vielversprechenden jungen Leuten, alternativen Gruppen oder über alles
und jedes Bescheid wissenden Intellektuellen. Jede Endogamie ist
asphyktisch; auch die Internate, der Campus der Universitäten, die
exklusiven Clubs, die Pilotklassen und die kulturellen Symposien sind
die Negation des Lebens, das ein offener Seehafen ist.
Im San Marco triumphiert vital und blutvoll die Vielfalt. Alte Kapitäne
von Überseedampfern, Studenten, die sich aufs Examen vorbereiten und
amouröse Taktiken austüfteln, Schachspieler,
unempfänglich gegen alles, was um sie herum geschieht, deutsche
Touristen, neugierig gemacht durch die den kleinen und großen
literarischen Berühmtheiten, die ehemals diese Tische frequentierten,
gewidmeten Plaketten, schweigsame Zeitungsleser, angeheiterte Gruppen,
die sich dem bayerischen Bier oder dem Verduzzo hingeben, mürrische alte
Leute, die über die Niedertracht der modernen Zeiten schimpfen,
siebengescheite Demonstranten, unverstandene Genies, ein paar alberne
Yuppies, Korken, die wie Ehrensalven knallen, vor allem wenn der Dr.
Bradaschia - vom Gericht wegen Hochstapelei (darunter auch das
unberechtigte Führen eines Doktortitels) entmündigt - den, der in seiner
Nähe sitzt oder an ihm vorbeigeht, unbeirrt zum Trinken einlädt und
dabei den Kellner in einem Ton, der keine Widerrede zuläßt, auffordert,
es ihm auf die Rechnung zu setzen.
»Im Grunde war ich in sie verliebt, aber sie gefiel mir nicht, wogegen
ich ihr gefiel, aber sie nicht in mich verliebt war«, sagt der Herr
Palich, aus Lussin gebürtig, einen qualvollen Eheroman zusammenfassend.
Das Café ist ein Gesumm von Stimmen, ein Chor, unzusammenhängend und
gleichförmig, mit Ausnahme eines gelegentlichen Ausrufs an einem
Schachspielertisch oder, am Abend, der Klänge des Pianofortes von Signor
Plinio: manchmal Rock, öfter aber einlullende Musik aus der Zeit
zwischen den beiden Kriegen, zwei rote Lippen und ein roter Taragona;
das Fatum nähert sich im Tanzschritt der Schnulze.
»Ach was, wegen des Geldes - kannst du dir vorstellen, daß einer wie der
alte Weber sich reinlegen läßt? Ganz abgesehen davon, daß sie reich war,
nicht er, und sie wußte ganz genau, daß er ihr fast nichts hinterlassen
würde. Freilich, für unsereinen wäre das kleine Appartement in New York
schon ein Vermögen, aber für jemand wie sie spielt das überhaupt keine
Rolle. Er war es, der heiraten wollte - das hat auch Ettore gesagt, sein
Cousin, fast fünfzig Jahre lang hatten sie nicht mehr miteinander
geredet, wegen dieser Geschichte mit dem Familiengrab in Görz, aber
immerhin hat Ettore, als er erfuhr, daß der Alte, der allerdings zwei
Jahre jünger war als er, nur noch wenige Monate zu leben habe, das
Flugzeug genommen und ist zu ihm nach
New York geflogen, und da hat ihm der andere, fast ehe er ihn noch
zum Sitzen aufforderte, erklärt, es gebe große Neuigkeiten, nämlich daß
er nächste Woche heirate - jawohl, denn, hat er zu ihm gesagt, er habe
im Leben fast alles getan, außer zu heiraten, und er wolle sich nicht
aus dem Staub machen, ohne auch noch die Ehe ausprobiert zu haben. Exakt
die Ehe, hat er präzisiert, wie sie im Buch steht, man könne nicht
sterben, ohne verheiratet gewesen zu sein; zusammenleben, das bringt
jeder fertig, sogar du - hat er hinzugefügt und seinem Vetter ein Glas
Maraschino Luxardo angeboten -, und das sagt alles. Und so, hat Ettore
erzählt, mußte ich, nachdem ich schon über den großen Teich geflogen
war, auch noch einen Schluck von dem Maraschino hinunterschütten, den
ich schon als junger Mann in Zara nicht ausstehen konnte. Immerhin, er
ist ruhig gestorben - jetzt, nachdem ich auch das letzte Kästchen des
Fragebogens ausgefüllt habe, wie er sagte -, und man muß zugeben, daß er
niemandem zur Last gefallen ist, nicht einmal in seinen letzten Tagen,
er, der immer eine Plage gewesen war, man sieht, daß ihm die Ehe
gutgetan hat.
Stimmen erheben sich, vermischen sich, erlöschen, ein Brandungsgeräusch
im Rücken, wenn man in den hinteren Teil des Saales geht. Die
Schallwellen verflüchtigen sich wie die Rauchringe, aber irgendwo sind
sie doch noch da. Sie sind immer da, die Welt ist voll von Stimmen, ein
neuer Marconi könnte einen Apparat erfinden, der sie alle einzufangen
vermag, ein unendliches Stimmengewirr, über das der Tod keine Macht hat;
die unsterblichen und unstofflichen Seelen sind ein durchs Universum
schweifender Ultraschall. So jedenfalls denkt es sich Juan Octavio
Prenz, der an den Tischen hier diesem Rauschen gelauscht und es in
seiner Fabula de Inocencio Onesto, el Degollado Roman hat werden lassen,
der Fabel vom Geköpften, einer grotesken und surrealen Geschichte,
durchwoben und zertrennt von den Stimmen, die sich kreuzen, sich
überlagern, sich entfernen und sich verlieren.
Prenz, in
Buenos Aires geboren, der Abstammung nach aber aus dem kroatischen
Hinterland Istriens, italienischer Professor und spanisch schreibender
Schriftsteller, hat in den unterschiedlichsten Ländern diesseits und
jenseits des Ozeans gelehrt und ein Wanderleben geführt; vielleicht ist
er in Triest hängengeblieben, weil ihn diese Stadt an den Friedhof der
Schiffe und Galionsfiguren von Ensenada de Barragán, zwischen Buenos
Aires und La Plata, erinnert, den es jetzt nur noch in einem seiner
schmalen Lyrikbände gibt. Er sitzt im Café San Marco und spürt immer
noch den Blick der Galionsfiguren, von Wind und Wasser verwittert und
bestürzt über das Herannahen von Katastrophen, die die anderen noch
nicht sehen können, auf sich ruhen. Er blättert in der Übersetzung eines
seiner Gedichtbände. Ein Gedicht ist Diana Teruggi gewidmet, die an der
Universität von Buenos Aires seine Assistentin gewesen war. Eines Tages,
in der Zeit der Generäle, ist das Mädchen für immer verschwunden. Wieder
einmal kündet die Poesie von der Abwesenheit, von etwas oder jemandem,
der nicht mehr da ist. Eine kleine Sache, so ein Gedicht, ein Kärtchen,
auf einen leeren Platz gelegt. Ein Dichter weiß das und mißt ihm nicht
allzuviel Gewicht bei, aber noch weniger der Welt, die ihn feiert oder
ignoriert. Prenz zieht seine Pfeife
aus der Tasche, lächelt seinen beiden Töchtern zu, die an einem anderen
Tisch sitzen, plaudert mit einem Senegalesen, der zwischen den Tischen
herumgeht und irgendwelchen Krimskrams feilbietet, kauft ihm ein
Feuerzeug ab. Plaudern ist besser als schreiben. Der Senegalese entfernt
sich, Prenz nuckelt an seiner Pfeife und macht sich ans Schreiben.
Es hat etwas für sich, unter den feixenden Masken und inmitten der
Gleichgültigkeit der Leute um einen herum die Seiten zu füllen. Dieses
freundliche Desinteresse korrigiert den im Schreiben verborgenen
Allmachtswahn, der sich anmaßt, mit ein paar Blättern Papier Ordnung in
die Welt bringen zu wollen und sich voller Gelehrsamkeit über Leben und
Tod zu verbreiten. So fließt, gewollt oder ungewollt, eine durch
Bescheidenheit und Ironie temperierte Tinte aus der Feder. Das
Kaffeehaus ist ein Ort des Schreibens. Man ist allein, mit Papier und
Feder und allenfalls zwei oder drei Büchern, an die Tischplatte
geklammert wie ein von den Wellen gepeitschter Schiffbrüchiger. Wenige
Zentimeter Holz trennen den Seemann vom Abgrund, der ihn verschlingen
kann, es genügt ein kleines Leck, und die schwarzen Wassermassen dringen
verderbenbringend ein, ziehen das Boot in die Tiefe. Die Feder ist eine
Lanze, die verwundet und heilt; sie durchbohrt das treibende Boot und
läßt es zum Spielball der Wellen werden, aber sie flickt es auch und
macht es wieder fähig, sich zu behaupten und den Kurs zu halten.
Sich am Holz festklammern, ohne Angst, denn der Schiffbruch kann auch
Rettung bedeuten. Wie heißt es in der alten Geschichte? Die Angst klopft
an die Tür, der Glaube geht, um zu öffnen; draußen steht niemand. Doch
wer lehrt uns zu öffnen? Seit langem schließt man die Türen nur noch, es
ist eine richtige Manie; für eine kurze Zeit hält man den Atem an, dann
greift einem die Angst wieder ans Herz, und man würde am liebsten alles
verrammeln, auch die Fenster, ohne zu merken, daß man sich damit der
Luft beraubt und die Migräne in dieser Schwüle immer heftiger gegen die
Schläfen pocht, bis man ganz allmählich nur noch den Lärm des eigenen
Kopfschmerzes hört.
Etwas hinkritzeln, den Dämonen
freien Lauf lassen, sie im Zaum halten, oft sie auch nur in harmloser
Anmaßung nachäffen. Im San Marco sind die Dämonen, in Umkehrung der
traditionellen Szenerie, nach oben verbannt, denn das Café mit seinen
Blumenornamenten und dem Wiener
Sezessions-Stil erinnert einen daran, daß man sich hienieden auch
wohl fühlen kann, ein Wartesaal, in dem man mit Vergnügen wartet und das
Gehen hinauszögert. Der Chef, Signor Gino, und die Kellner, die mit
einem Glas nach dem andern an den Tisch kommen - manchmal ergreifen sie
sogar die Initiative und offerieren, aber nicht jedem, Lachsbrötchen und
einen besonderen Prosecco -, sind Engel einer niedrigeren Rangordnung,
aber vertrauenswürdig genug, um darüber zu wachen, daß die aus dem
irdischen Paradies Vertriebenen sich in diesem Ersatz-Eden wohl fühlen
und keine Schlange
sie mit irgendwelchen falschen Versprechungen zum Fortgehen verleitet.
(...)
(aus "Die Welt
en gros und en détail" von
Claudio Magris)
Aus dem Italienischen von Ragni Maria
Diese Geschichte eines Reisenden durch Ort und Zeit nimmt ihren Ausgang
in einem Triester Kaffeehaus. Wenn der namenlose Held Biographien von
Landschaften (oder eine geographische Autobiographie) entwirft, findet
er – in den Lagunen von Grado ebenso wie in den Hügeln bei Turin, in
einem slowenischen Wald oder auf den Inseln des Kvarner Golfs – den
Leitfaden seines Lebens wieder.
In kleinen Welten entdeckt der Erzähler große Geschichten; die neun
Etappen seines Wegs sind neun Ausflüge in die Wirklichkeit, in die
Phantasie und in die Gefühle. Seine Geschichte setzt sich aus dem
vielstimmigen Chor der Schicksale zusammen, die in sein eigenes
einfließen; komische oder tragische Schicksale von obskuren und
illustren Menschen, Kriege und Auswanderungen, eine halbversunkene
Liebesgeschichte, die immer wieder auftaucht …
Die Reise beginnt im Kaffeehaus und endet gleich nebenan, in einer
Kirche, im Delirium des Todes – aber dazwischen liegt eine ganze Welt.
Claudio Magris, 1939 in Triest geboren, lehrt deutsche Literatur in
Triest und schreibt regelmäßig für den ›Corriere della Sera‹. (dtv) Buch bei amazon.de bestellen