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Mircea Cărtărescu: "Nostalgia"
Der Lyriker wurde 1956 in Bukarest geboren und debütierte 1978. Seit dem Ende der 1980er Jahre schreibt er auch Prosa-Werke, darunter beispielsweise "Nostalgia", eine Sammlung von Erzählungen, die erstmals 1989 unter dem Titel "Visul" ("Der Traum") erschienen ist, und 1993 in vollständiger, unzensierter Fassung neu aufgelegt wurde. In deutscher Übersetzung liegt "Nostalgia" seit 1997 vor.
Ein
sehr beachtliches Werk der neueren rumänischen Literatur - der
Prosaband "Nostalgia"
von Mircea Cărtărescu.
1988 erschien eine stark zensierte Fassung unter dem Titel "Der
Traum"; 1993 wurde die integrale Fassung unter dem Titel "Nostalgia"
veröffentlicht. Schnell fand das Buch Zugang zum
gesamteuropäischen
literarischen Raum durch französische, spanische und
holländische Übersetzungen.
Das Buch erschien deutsch in der Übersetzung von Gerhard Csejka.
Es enthält fünf Prosatexte unterschiedlicher Länge,
die sich in drei Teile gliedern: Prolog ("Der Roulettspieler"),
"Nostalgie" ("Mendebilus", "Die Zwillinge", "REM")
und Epilog ("Der Architekt").
Ein sehr beachtliches Werk aber gleichzeitig auch eine Herausforderung für den
Leser. Nicht dass er (der Leser) vom Autor allein gelassen wäre, nein, im
Gegenteil. In einer Manier, die stellenweise an Bulgakow
erinnert, führt der
Erzähler den Leser permanent durch den Text. Ein gelegentlich
direkter, dann
wieder latenter Dialog durchzieht den ganzen Band, so wie eine
Wasserader, die
teils an der Oberfläche teils unterirdisch aber immerfort
weiterfließt. In
zahlreichen Einschüben impliziert Cărtărescu den Leser ins
Geschehen, er befragt ihn, äußert Verständnis oder gar
Mitgefühl
für dessen Zweifel und Ängste, so als wäre die
Erzählung ein kollektives
Produkt beider. Was natürlich nur eine Illusion ist, denn auch
wenn der
Schriftsteller den Anschein erweckt, er stelle die Entscheidung und
somit seinen
Text zur Disposition, so ist und bleibt er der alleinige Herrscher im
Reich der
Fantasie.
Die
Variabilität einer Geschichte kannte man im deutschsprachigen Literaturraum spätestens
seit Frisch; diese konsequent durchgespielten Hypostasen des "Was wäre,
wenn..." und "Ich stelle mir vor..." fügten sich letztendlich zu
einer fingierten fiktionalen Biografie zusammen.
Hier
wird die Variabilität einer Geschichte überboten/weiterentwickelt durch die
Verlagerung der Entscheidung über eine Geschichte vom Autor weg nach außen hin
zu einer mythisch-mystischen, irrationalen, oft dämonisch wirkenden Kraft. Der
Schriftsteller steht unter dem absoluten Zwang, eine Geschichte so und nicht
anders zu erzählen; auch wenn sie unglaubhaft ist, sie
hat sich so und nicht anders abgespielt.
Und
immer ist es ein verzehrender furor dementis, der
die Hand lenkt, eine überschäumende Emotion, die den Körper des Schreibers
aushöhlt und ihm die letzte Kraft entzieht.
Gespenstisch
sind die Szenen, in denen der Autor in seiner heruntergekommenen Kammer dem
Zwang, die Geschichte noch zu beenden, schutz- und hilflos ausgesetzt ist, so dass
seine Vermieter im höchsten Grade verunsichert und besorgt zwischendurch unter
allen möglichen Vorwänden bei ihm eindringen und nachsehen, ob er denn überhaupt
noch leben würde.
Oder
die Szenen im Irrenhaus, wo der Schriftsteller umgeben von debilen, halbnormalen
und paranoisch-skurillen Gestalten seine Texte schreibt.
Was
Literatur ist beziehungsweise nicht ist, hatte Cărtărescu schon
auf der ersten Seite eindeutig geklärt: "Literatur ist das falsche Mittel,
um etwas auch nur halbwegs Wirkliches über sich selbst mitzuteilen. Gleich bei
den ersten Sätzen, die du niederschreibst, fährt in deine den Füllhalter führenden
Finger wie in einen Handschuh eine fremde Klaue und treibt Hohn und Spott mit
dir; dein Bild im Spiegel der Seite schießt wie Quecksilber in alle Richtungen
auseinander, und die verzerrenden
Kügelchen fügen sich zu einer Spinne, einem Wurm, zum Zwitter, Einhorn oder zu
Gott - wo es doch nur um dich selbst gehen sollte. Literatur und die Lehre von
den Missbildungen der Lebewesen sind ein und dasselbe."
An
einer anderen Stelle steht dann die absolute Relativierung des zwischendurch
immer wieder angedeuteten kooperativen Schöpfungsprinzips: "Soll sich
jeder vorstellen, was er will. Finde jeder für diesen spiegelverhüllenden
Text, diese Textur, Textilie, diese Plane, die nur dann gelungen ist, wenn man
nicht hindurchgehen kann, die Begründungen, die Deutungen, die ihm passen. Ich
möchte nicht ewig daran weben und nicht nachts aufdröseln, was ich tagsüber
gearbeitet habe. Im Gegenteil, ich bin jetzt schon dabei, die Dinge
weiterzutreiben, einzudringen in die Höhle des Drachen oder in die Höhle von
Kafkas Ungeziefer oder von Rilkes schrecklichem Engel".
Stichwort
"Rilke" und zur Erinnerung: "Wer, wenn ich schrie, hörte mich
denn aus der Engel/ Ordnung? und gesetzt selbst, es nähme/ einer mich plötzlich
ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren/ Dasein. Denn das Schöne ist
nichts/ als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen,/ und wir
bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,/ uns zu zerstören. Ein jeder
Engel ist schrecklich./ und so verhalt ich mich und verschlucke den Lockruf/
dunkelen Schluchzens (Die Erste Duineser Elegie)
Literatur
teilt nichts über den Schriftsteller mit; sie ist "eine fremde
Klaue", eine malefische Kraft, die allmächtig alle Fäden einer
Inszenierung zieht, an der der Leser aktiv gar nicht beteiligt ist. Oder doch?
"Soll sich (doch) jeder vorstellen, was er will." Also doch! Wir
stellen uns das vor, was wir wollen und wirken doch bei der Entstehung der
Geschichte mit, indem wir ihre Rezeption bestimmen.
Und der Schriftsteller? Während wir unseren kreativen Teil an der Schöpfung
absolvieren, drängt er schon in die Höhle des Drachen; erforscht also schon
das Ungewöhnliche und Abnorme, das Schreckliche (oder das Ende des Schönen),
an dem wir vergehen würden.
Das Prinzip der Prosa, die sich jeglicher Gattungszuordnung entzieht, kannte man im
deutschsprachigen Literaturraum spätestens seit Hildesheimer; der Roman (der
keiner mehr ist, weil er als solcher nicht mehr so sein kann, wie er einmal war,
und auch nicht mehr weiterentwickelt werden kann) zerfällt in disparate, in
sich geschlossene Teile, die sich wiederum zu einem lockeren Gesamtbild
innerhalb eines Rahmens zusammenfügen. Oder um mit Cărtărescu zu
sprechen: "... (das) Bild im Spiegel der Seite schießt wie Quecksilber in
alle Richtungen auseinander, und die verzerrenden Kügelchen fügen sich zu einer
Spinne, einem Wurm, zum Zwitter, Einhorn oder zu Gott".
Letztendlich
bleibt die Alternative einer Zusammenfügung der Teile offen; der
Roulettespieler der ersten Geschichte könnte schließlich ein erwachsener
Mendebilus sein, oder der adoleszente Valli aus der Geschichte "Die
Zwillinge" ein junger Roulettspieler, oder der junge Mann aus
"REM" ein späterer Valli.
Warum
auch nicht? "Soll sich jeder vorstellen, was er will."
Im
Gegensatz zu Hildesheimers Prosa, die bis zum kleinsten Strukturelement streng
kontrapunktisch durchkomponiert ist wie ein Musikwerk von Bach, wuchert die
Prosa Cărtărescus wie
ein barockes Gemälde, das vom Auge des Betrachters in seiner Vielfalt fast gar
nicht mehr erfasst werden kann. Diese
Ambiguität, die sich über Gattungs- und Zuordnungsfragen bis hin zur Rezeption
einzelner Bilder zieht, macht den besonderen Wert der Prosa Cărtărescus
aus. Der
Schriftsteller bietet immer wieder vielfache Möglichkeiten, öffnet alternative
Perspektiven, gestaltet schillernde Bilder und bleibt dabei seinem Prinzip treu:
"Soll sich jeder vorstellen, was er will."
Die
Bildgestaltung, die Zusammensetzung von Elementen mit atmosphärischem Wert zu
einem funktionierenden Ganzen, gelingt dem Autor außerordentlich gut:
"Er
betrachtete sich in dem schadhaften, von der Feuchtigkeit zerfressenen Badezimmerspiegel,
worin außer seinem Gesicht noch ein schimmelfleckiges Stück der Wand zu sehen
war, die aufgrund einer unfassbaren Geschmacksverirrung einen dunkelblauen Ölanstrich
trug. Auch die angeschlagene und flüchtig mit Gips geflickte Klomuschel kam mit
ins Bild. Als Rasiercreme hatte er die wohlriechende hellblaue Paste aus einer
ungarischen Sprühdose genommen, die zusammen mit zwei, drei anderen
farbenfrohen Dosen auf der schmutzigen Glaskonsole unterhalb des Spiegels
gestanden hatten; wo im übrigen auch ein paar gebrauchte Rasierklingen, zusammengepappt
in einer Pfütze liegend und bereits angerostet, vor sich hin gammelten. Das vom
Rasierschaum getrübte Wasser auf seinem Kinn begann sich, eisig kalt, den Hals
hinab und auf der Brust zu verlaufen. (... ) Er führte zugleich den Rasierer
mit ungeteilter Aufmerksamkeit sachte jedes Fleckchen Haut entlang, das sich über
die unförmigen Kinnladen spannte. Er setzte dann unter dem Kinn fort und
schabte den Schaum Streifen um Streifen bis zum Adamsapfel weg. Nicht die Spur
eines Haares sollte auf seinem Gesicht zurückbleiben. Die elektrische Glühbirne
strengte seine Augen sehr an, die Umrisse im Spiegel schienen ihm zeitweise von
blinkenden violetten oder fliederfarbenen Linien verdoppelt. (... ) An der Tür
haftete ein alter, in der feuchten Luft verquollener und schwarz gewordener
Aufkleber, da türmte sich über einem rosigen Frauenprofil hyperbolisch
aufgeplustert eine Haarpracht, deren einzelne Strähnen farblich von Blutrot zu
immer helleren Rottönen abgestuft waren, wie Acrylfarbenmuster. Unmittelbar
unter der blatterigen Frauenbürste stand in feinen Lettern: CRISAN
SHAMPOON."
Nostalgisch
geladen und atmosphärisch einzigartig ist auch eines der
"Schulbilder" Cărtărescus:
"Aus
jener Zeit sind mir schwere Winter in Erinnerung, die Schneemassen reichten bis
unter die Schulfenster, und die Abende senkten sich in rotbleiernen Wogen über
die Kastanien im Hof und über das nostalgische Backsteinlagerhaus neben der
Schule. Die Luft nahm eine kaffeebraune Färbung an, und die Jungen, die vor dem
Schultor mit Schneebällen in den Händen und klatschnassen Handschuhen den Mädchen
auflauerten, hatten purpurrote funkelnde Vogelaugen. Draußen in der kräftigen
Luft blinkten die ersten Sterne auf, während wir in der sechsten Stunde, bei
elektrischem Licht betäubt an die Tafel starrten, auf die Reihen grotesker
chemischer Formeln, die merkwürdigen Verhältnisse der Avogadro-Konstante oder
auf die schiefen Kristallgestalten der Raumlehre. Es gab auch Tage, da schneite
es draußen wie verrückt, wir saßen in der Rumänischstunde und hatten beim
Hinaussehen den Eindruck, dass sich das ganze Klassenzimmer in rasender
Geschwindigkeit wie ein Raumschiff im steilen Winkel nach oben bewegt. Ganz
allgemein war es so, dass uns der helle Innenraum, abgesetzt gegen die
unendliche Finsternis draußen, ein atavistisches Gefühl der Intimität und
Geborgenheit vermittelte, wie es die frühen Menschen empfunden haben mögen,
wenn sie in ihren Höhlen um das Feuer herum saßen. Die Welt wurde klein und es
lebte sich leicht.".
Es
wuchert in den Tableaus dieses Prosabandes nur so von ganz fein differenzierten
Gerüchen, Geschmäckern, Farbnuancen, Formen; die Beschreibungen von Menschen
und Räumen (Zimmern, Häusern, Stadtvierteln) sind minuziös realistisch aber
auch darüber hinaus immer fantastisch. Die Vielschichtigkeit einer Beschreibung
wird dadurch hergestellt, dass der Autor sehr oft die Kontinuität der realen
Ebene durchbricht und in eine andere Ebene vorstößt, sei es die Ebene der
Erinnerung, der Vergangenheit, Vision, Fantasie oder des Traums.
Träume
spielen überhaupt eine wichtige kompositorische und inhaltliche Rolle in Cărtărescus
Texten;
es sind spontane Tagträume, unheimliche Visionen brutaler apokalyptischer Prägung,
oder Träume, bei denen der Autor den Anspruch auf Authentizität anmeldet,
"geträumte", "wirkliche" Träume,
Nachtträume, an die man sich entweder nach dem Aufwachen sofort erinnert oder
die nach und nach langsam ins Bewusstsein gleiten, oder
"Traum-Zyklen", die erst in einer vorgegebenen Reihenfolge und
festgelegten Anzahl den Vorstoß in andernfalls verbotene Bereiche der
Erkenntnis ermöglichen. Die geträumte Welt ihrerseits setzt sich oft aus
realen Elementen zusammen und gliedert sich in die Realität des Erzählens so
perfekt ein, dass man gelegentlich Schwierigkeiten hat, die beiden Welten
auseinander zu halten, oder sie unterscheidet sich so stark von der Realität,
dass dadurch faszinierende, einzigartige Bilder entstehen, wie in der Vision, in
der der Autor den Flug seines eben geborenen und noch mit Tränen, Lymphe und
Blut verschmierten Körpers durch Milliarden Galaxien beschreibt. In der
Unendlichkeit des Alls stößt der fliegende Körper auf unzählige, riesengroße
Lichtgötter, die er durchbohrt, und gelangt letztendlich zum wahren Herrgott:
"Zurückblickend
wurde die Gott-Reihe immer länger, Hunderte, dann Tausende, abwechselnd mal
nach links, mal nach rechts vornüber gekippt - flammende Krampen eines
gigantischen Reißverschlusses. Und da ich den Reißverschluss durch meinen Flug
öffnete, legte ich die Brust des wahren Herrgotts frei, ein Raccourci,
so grandios wie sonst nichts. Mich um mich selbst drehend, von seinem Licht
versengt, erreichte ich schließlich eine Höhe, von der aus ich ihn ganz überblicken
konnte. Er war wunderschön! Seine haarige Brust, die Brust eines Stiers - mit
Busen bestückt. Das Antlitz unter der Flammenkrone seines langen, zu Tausenden
Zöpfen geflochtenes Haars - jung; das breite Becken barg das kraftvolle Glied
des Mannes. In allen seinen Teilen, vom Scheitel bis zur Sohle, bestand er aus
Licht. Er hielt die Lider halb geöffnet, ein trauriges und ekstatisches Lächeln
lag auf seinem Gesicht, und wo das Herz war, unterhalb der linken Brust, klaffte
eine schreckliche Wunde. Die Finger seiner rechten Hand hielten mit
unbeschreiblicher Anmut eine rote Rose. So schwebte er liegend durch den Raum,
der ihn zu fassen suchte, jedoch eher von ihm umfasst, eingezogen schien.".
Die
Gestalten der "Nostalgia" sind eine weitere Stärke des Erzählvermögens Cărtărescus.
Sie bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Norm und Abnorm und heben sich oft
durch Besonderheiten von ihrem Umfeld ab. Detaillierte Beschreibungen und lange
monologische Abschnitte verschmelzen zu dichten Porträts, die eine besondere
Atmosphäre schaffen.
Da
ist der Roulettspieler, dessen Name unwichtig ist (der Spitzname definiert die
Existenz; nomen est omen!) und der eine ganze Stadt von mehr oder weniger
normalen Menschen mit seinem waghalsigen russischen Roulett polarisiert:
"Er
blickte mürrisch drein, das dreieckige Gesicht saß auf einem langen,
gelblichen und dünnen Hals, die Haut war trocken, das Haar nahezu scharlachrot.
Die Augen eines unglücklichen Affen, asymmetrisch, von ungleicher Größe,
glaube ich. Er wirkte irgendwie ungepflegt, schmuddelig, in seinen
Farmerkleidern ebenso wie später im Smoking ... Der Roulettspieler hatte das
finstere Gesicht eines zu Wohlstand gekommenen Bauern, sein Gebiss war halb
Metall, halb Kohle. Dies war, vom Beginn unserer Bekanntschaft und bis zu seinem
Ende (durch den Revolver, aber nicht durch die Kugel) unverändert seine
Erscheinung gewesen. Und doch verbarg sich dahinter der einzige Mensch, der den
unendlichen mathematischen Gott je erspähen und sich mit ihm einen Ringkampf
liefern durfte."
Oder
der Junge Mendebilus - (wird im Namen auf Geistesschwäche angespielt? lat. mens
/ rum. minte = Verstand, rum. debil = idiotisch, schwachsinnig), der alle
Nachbarskinder mit seinen Erzählungen in seinem Bann hält. Oder Elisabeta, die
Epileptikerin, die auf ihrem Bettlaken Karten legt, schwere, große, abgenutzte
Karten aus Österreich mit durchgestochenen Augen, damit die Vorhersagen
unfehlbar werden. Die von Missbildungen geplagte Mira und die nach dem Anfall
einer Schlafkrankheit debile Altamira, die paranoide Lavinia, die acht Stunden
am Tag Liebesbriefe mit Zeichnungen aufs Bettlaken malt, und Paula, die tagsüber
normale und nachts schizophrene Hysterikerin.
Die meisten kennt man eher mit Spitz- oder Rufnamen; ihre bürgerliche Existenz
zählt sehr wenig in einer Welt, in der eine Ab- oder Eigenart, ein Merkmal,
Laster oder Schwäche namen- und persönlichkeitsbildend sein kann (wie etwa bei
Altamira = rum. alta Mira = "die andere Mira", eigentlich Stefanie,
eine Andeutung auf eine lesbische Beziehung zwischen Mira und eben "der
anderen Mira").
Insgesamt
wird Cărtărescus Prosa
von Gestalten bevölkert, die zu einer Sondergruppe von Menschen gehören, nämlich
zu den "Sternen": "Es gibt vier Arten von Menschen: die
Ungeborenen, die Lebenden, die Gestorbenen und jene, die weder geboren noch am
Leben noch auch gestorben sind. Das sind die Sterne." Es
ist dies ein gelungenes poetisches Bild, eine Metapher des Lebens in der
Fiktion, der erfundenen Menschen, die ein Sterndasein in Büchern und in unseren
Köpfen fuhren, ungeboren, nicht leben und nicht gestorben, trotzdem aber so
einprägsam und lebendig.
"Nostalgia"
erschafft meisterhaft eine Welt der Realitäten im Bukarest der späten 1950er,
60er und 70er Jahre von einzigartiger Nostalgie und ein Universum der immerwährenden
poetischen Fantasie von außerordentlicher Suggestionskraft.
Beeindruckend
der "Kampf (des Schriftstellers) mit dem Drachen" und die Benennung
der Literatur als Austragungsort des Wunderbaren:
"Was
aber kann ein Mensch tun, der sein Leben lang Literatur schrieb? Wie
zieht er
seinen Kopf aus der Schlinge des Stils? Wie, mit welchen Mitteln
lässt sich ein
reines Bekenntnis zu Papier bringen, frei vom Kerkerdruck der
künstlerischen
Konvention? Ich sollte den Mut aufbringen einzugestehen: in keiner
Weise. Zwar
wusste ich dies von Anbeginn, suchte jedoch, mit der List des in die
Enge
getriebenen Tiers, mein Spiel, meinen Einsatz, meine Wette vor deinen
Blicken zu
verbergen. Denn schließlich setzte ich doch wieder auf die
Literatur. In meinem
masochistisch pascalschen Gedankengang nutzte ich, was mir entgegen
stand. Hier
meine Überlegung von A bis Z, alles, was dazu führte, dass
ich diese 'Geschichte' zu Ende schrieb (Mit welcher Mühe,
weiß nur ich.): Ich
habe den Roulettspieler gekannt. Daran gibt es für mich nichts zu zweifeln.
Obwohl seine Existenz unmöglich war, hat er dennoch existiert. Es gibt
allerdings einen Ort auf der Welt, wo das Unmögliche möglich ist, in der
Fiktion, der Literatur."
(Georg Quante)
Mircea
Cărtărescu: "Nostalgia"
Aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka.
Suhrkamp, 2009. 450 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Im
Lyrikband "Selbstporträt in einer Streichholzflamme" steht das
subjektive Empfinden, die Selbstreflexion im Vordergrund. Ein imaginäres
Selbstporträt in einer Streichholzflamme ist eine vergängliche, wenngleich
intensive Momentaufnahme. So sind die in diesem Band enthaltenen Gedichte
höchstpersönliche
Befindlichkeitsäußerungen, entstanden während einer
inneren Sturm-und-Drang-Phase. Greifbar gewordene Träume, Gedicht
gewordene
Selbsterkundungen, Selbstpositionierungen, vielfarbige Gebilde, der
Dunkelheit der
jugendlichen Unsicherheit entstiegen - die Metamorphose während
einer Verpuppung
mit ungewissem Ausgang ...
Er thematisiert die vielen "ersten Male", an denen kein Weg vorbeizuführen
scheint und übermalt Wunden mit kräftigen Farben, die dennoch den verletzlichen
Untergrund durchschimmern lassen.
Mircea Cărtărescu: "Selbstporträt in
einer Streichholzflamme"
Gedichte.
Aus dem Rumänischen und mit einem Nachwort von Gerhard Csejka.
DAAD, 2001. 75 Seiten.
Tudor
Arghezi: "Der Friedhof"
Auferstehung in Balkan-Manier
"Der Friedhof" von Tudor Arghezi als
Zeitbild von Bukarest zwischen den zwei Weltkriegen
Ein besonders böses Wort über die rumänische Wesensart besagt, dass es zur
tieferen Kenntnis derselben reichen würde, Tsuica zu trinken und Würstchen vom
Grill zu essen.
Gemütlichkeit
auf balkanesisch, wobei die Tsuicadämpfe und die sehr penetrant nach Knoblauch
riechenden und schmeckenden Würstchen (rum. "mici" - die Kleinen)
sicherlich das kleinere Übel wären; Gemütlichkeit auf balkanesisch bedeutet
vorwiegend eine ganz besondere Art des laissez faire das zugleich ein faire
rien beinhaltet, andere Tages-, Nacht- und Jahresrhythmen, als man sie vom
Westen her kennt, übertriebene Freundlichkeit, die einem sehr leicht auf die
Nerven gehen kann, Friedfertigkeit gegenüber den Menschen, Gott und der Welt.
Es ist ja alles relativ.
Der
Roman Arghezis "Der Friedhof", eigentlich "Der Friedhof Mariä
Verkündigung", erschienen 1936 und kein Roman im herkömmlichen Sinn, eher
eine lange "Prosa", entstand aus einem Grundgefühl heraus, das man
aus den besten Stücken von I. L. Caragiale kennt, trotz aller Unterschiede
zwischen den beiden Autoren: eben aus der satirisch-polemischen Betrachtung der
rumänischen Wesensart.
Vom
berühmten rumänischen Pflaumenschnaps Tsuica und von den nicht minder geschätzten
Würstchen ist bei Arghezi nicht die Rede, jedoch von einer ganzen Reihe von
Balkanmanieren, aus denen sich sowohl Mikro- als auch Makro-Tableaus einer
Gesellschaft zusammensetzen.
Arghezi
war eigentlich ein geborener und begnadeter Dichter, dessen Gedichtzyklen ihn an
die Spitze der rumänischen Lyrik des 20. Jahrhunderts gesetzt haben.
Seine
Möglichkeiten im Bereich der Prosa lagen vor allem im "kleinen"
Format - Essay, Zeitungsaufsatz, Pamphlet, alles eingehüllt in eine satirische
und bissig-ironische Aura. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum der Autor
seine Prosa "Der Friedhof" in kurze und sehr kurze Teile fragmentiert
und im Aufbau und der Gestaltung dieser kleinen Episoden mehr leistet als in der
Gesamtkonstruktion. Die Gesamtkonstruktion stellt einen linear verlaufenden
Handlungsablauf dar, wobei die Entwicklung durch Akkumulation stattfindet.
Die
Hauptgestalt, ein junger aufstrebender Gelehrter, der eben zum Dr. phil.
promoviert wurde, schildert die näheren Umstände und das soziale Umfeld seiner
Promotion, fährt fort in der Darstellung einer ganzen Reihe von Erwartungen,
die er und seine junge Familie an diese Promotion knüpfen, sicherlich
mindestens eine Professur an der Universität, und endet überraschend und völlig
desillusionierend in der Ernennung desselben zum Verwalter eines Friedhofs.
Diese
Vordergrundhandlung ist jedoch nur der Rahmen, der dem Autor die Möglichkeit
gibt, eine Stadt mit ihrer ganzen Fauna und Flora darzustellen.
Arghezi
liebt das Detail in allen Nuancen: Farben, Formen und Gestalten, Charaktere, Gerüche,
Laute, Handlungsabläufe, so dass in diesen Detailbildern auch die Stärke
seiner Prosa liegt. Zum Zeitpunkt des Erscheinens wurde "Der Friedhof"
berühmt-berüchtigt durch eine ganze Reihe von Beschreibungen und
Charakterisierungen prominenter Bukarester - heute würde man sie
"VIPs" oder "Schickimickis" nennen.
So etwa das Kurzporträt einer Dame von Welt: "Eine unermesslich große
laszive Betriebsamkeit sammelte alle dicken Fliegen und Blutegel der Politik um
ihr Geschlecht wie um die honigtriefende Spalte eines ausgehöhlten Baumstumpfs.
Während die Dame von einem Alkoven zum anderen schlüpfte und sich im Morast
der Hochfinanz immer mit zehn Einflussreichen gleichzeitig wälzte, die von
ihren mächtigen, rosafarbenen Schenkeln in den Bann geschlagen waren,
beherrschte sie eine ganze politische und gesellschaftliche Epoche. Ihre
Empfehlung schuf Professoren, Direktoren, Untersekretäre, Kabinettchefs,
Abgeordnete, Lizentiaten. Ein alter Minister sagte von ihr, sie sei die einzige
Frau, die ihn noch durch ihren Duft aufzustacheln vermöge, und der ihr eigene
Duft sei derart ausgeprägt, dass selbst ihr Mann diesen Duft angenommen habe
..."
Jenseits
dieser Einzeldarstellungen gelingt es dem Autor aber auch Zusammenhänge
aufzudecken und darzustellen, die ganze Gesellschaftsschichten charakterisieren.
Korruption, Heuchelei, Falschheit und Käuflichkeit der Politik, Oberflächlichkeit
der viel beschriebenen balkanesischen Freundlichkeit, Unbildung, Dummheit und
Arroganz des größten Teils der gesellschaftlichen Elite - und alle diese
Eigenschaften werden vom Autor bis ins Absurde potenziert, so dass eine
derartige Akkumulation, innerhalb derer ein Missstand durch einen anderen ergänzt
wird, ein Fehlverhalten durch ein anderes übertroffen und Schuld nur durch eine größere
Schuld ersetzt werden kann, letztendlich nur noch im Bereich des Absurden und
Paradoxalen fortgeführt werden kann.
Der
junge aufstrebende Wissenschaftler, der aufgrund seiner Promotion nicht an die
Universität berufen wird, sondern von seinem alten Schulfreund, dem Minister,
mit der Stelle eines Friedhofverwalters abgespeist wird (der Vergleich mit dem
kleinsten Knochen, den man einem Hündchen hinwirft, drängt sich förmlich
auf), erlebt in seiner neuen Umgebung, dem Friedhof, weniger friedhofseigene
Vorgänge, nämlich Begräbnisse, als genau das Gegenteil - Auferstehungen. Eine
"chronische Krankheit" greift um sich im ganzen Land: immer mehr Tote
verlassen die Gräber, werden materiell, immer weniger Menschen erkranken und
sterben, so dass der Friedhof letztendlich in einer klassischen
"Pattsituation" endet, ein zeitloses oder ewiges Nirgendwo.
Arghezi
verschafft sich also Zugang zu diesem Nirgendwo auf eine ganz eigene Art, die
sich wesentlich abhebt von einigen Prozeduren, die den lateinamerikanischen
Roman der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts kennzeichnen (etwa bei
Erico Verissimo, der ebenfalls Tote auferstehen lässt, bei dem aber das
Fantastische eine eigene Sphäre bildet, die nur ansatzweise mit der Realität
zu tun hat).
Das
fantastisch Paradoxe und Skurrile entsteht bei Arghezi durch Überhöhung der
Realität oder durch das schlichte Beim-Wort-Nehmen etwa der Heiligen Schrift.
So
im Bericht eines Auferstandenen: "Wir haben 200 Jahre geschlafen. Als die
Posaune ertönte hat die Erde gebebt wie der sommerliche Dunst im Baragan und
die Strahlen sind durch uns gegangen wie durch einen Nebel und es ist uns
Fleisch und Empfinden aus Nichtempfinden zuteil geworden", oder im Kommentar
eines Mitglieds der eigens zur Untersuchung der Auferstehungsfälle
eingerichteten Kommission: "Die Tiere haben im Stall zu Bethlehem an Jesus
geglaubt, doch sie erinnern sich wer nicht daran glauben konnte: die Pharisäer,
die Schriftgelehrten, die Erzpriester. Sie haben das vollkommene Wort und den
Sinn der Wunder nicht bis ins Tiefste geglaubt weil die geschriebenen oder
gesprochenen Worte nicht fähig sind den ganzen Sinn des Sprechens in sich
aufzunehmen, das in der Seele geschehen und in sie hinabgestiegen ist."
"Der
Friedhof" endet mit einer Szene, in der letztendlich im Gerichtssaal sowohl
die angeklagten Auferstandenen wie auch alle Gläubigen, aber auch die Zweifler
auf eine ekstatische Art den Glauben an das Wunder der Auferstehung bezeugen, so
dass man sich fragen muss bei einem solch kritischen und satirischen Geist, wie
es nun mal Arghezi gewesen ist, ob die rasche Abfolge des ganzen
Auferstehungskomplexes nicht doch eine in der Gesamtstruktur verankerte Funktion
hat. Aus der Perspektive der gesamten Prosa ist klar, dass dem Bild des
allgemeinen Sittenverfalls nur ein Bild des fantastischen und paradoxen Absurden
gegenüber gestellt werden konnte. Der Autor mag wohl die religiöse Einfärbung
in der Behandlung des Themas seiner Jugendzeit entnommen haben, in der er als Mönch
einige Jahre im Kloster Cernica verbracht hat, aber da er sich selbst relativ früh
von dieser Frömmigkeit distanzierte, sollte man den religiösen Charakter nur
als Mittel zum Zweck der Darstellung einordnen.
"Die
gute Verkündigung" (so lautet eigentlich der Originaltitel in wörtlicher
Übersetzung) zeigt eigentlich das Korrupte, Böse und Oberflächliche einer
Gesellschaft, die im Verfall begriffen ist, und als solche hat sie, abgesehen
vom literarischen Wert, auch noch den dokumentarischen Wert eines
zeitgeschichtlichen Bildes.
(Georg Quante)
Tudor Arghezi: "Der Friedhof"
Aus dem Rumänischen von Roland Erb.
Eichborn, 1991. 404 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Tudor Arghezi, der 1880 in Bukarest geboren und ebendort 1967 gestorben ist, hat ein umfangreiches Werk hinterlassen. Seine Prosaschriften und Polemiken verraten den Einfluss Jonathan Swifts.
Dumitru Tsepeneag:
"Hotel Europa"
Auf
Abenteuer quer durch Europa
Ein
in der französischen Emigration lebender rumänischer Schriftsteller, der mit
einer französischen Journalistin verheiratet ist, schreibt einen Roman. Über
Rumänien? Über Frankreich? Über die Revolution von 1989, die sogenannte
"Revolution"? Oder über sich
selbst? Er ist kurz nach den
Ereignissen des Winters 1989 zum ersten Mal nach langer Zeit als Begleiter eines
Hilfskonvois nach Rumänien gefahren und hat dort junge Leute kennen gelernt,
unter anderem den Französischstudenten Ion. Ist er wirklich in Rumänien gewesen?
Seine neuen Bekannten aus Bukarest - Ion an der Spitze - ziehen los, um
Europa zu erkunden. Davon soll der
Roman handeln. Der Schriftsteller
aber kann die aufkommenden Fragen nicht eindeutig beantworten, und der Roman ist
eine zwar imperativische, aber dann
doch schattenhafte Vorstellung, was den Autor in ziemliche Schwierigkeiten
bringt.
Das
Schreiben geht nur stockend voran, und in einer solchen Situation ist es sehr
leicht, die Schuld Anderen zuzuschieben: der eigenen Frau, die ihn immer wieder
mit Fragen anbohrt, dem räsonierenden Siamkater (ein Verwandter des
Bulgakowschen Katers Behemoth), der zwischendurch die eine oder andere missbilligende
Bemerkung zum Roman und zum Schriftsteller fallen lässt, der literatur- und
schöpfungsfeindlichen Stadt. Er
beschließt, sich von all dem zu isolieren und aufs Land zu fahren in der
Hoffnung, dort die fast klischeehaft wirkende "innere Ruhe" zu finden und
seinen Roman voranzutreiben.
Was
ihm dann jedenfalls gelingt, auch wenn er weiterhin zwischendurch mit sich selbst und
seinen Figuren zu kämpfen hat. Wie
etwa dann, wenn er sich darüber
Gedanken macht, wie er seiner Hauptgestalt den Vorgang des Schreibens erklären
soll:
"Vielleicht
sollte ich ihm etwas über die Funktion des Erzählers sagen,
über jenen rätselhaften
Vermittler zwischen mir und ihm und dem Leser. Über jene Stimme,
die den
Klangraum des Romans ausfüllt (immerhin ist dies ihre Pflicht) und
ohne die man
nicht glaubt, dass überhaupt etwas existiert. Nein, sie ist
nicht die Stimme des Autors.
Der Autor ist wie der Heilige Geist: voller Ideen, aber unsichtbar,
unhörbar.
Er zieht alle Fäden, das stimmt, aber wem gehören sie? Will
sagen, dass er Figuren braucht, und seien es noch so armselige
Marionetten. Umgekehrt brauchen all
diese Kreaturen, die keine menschlichen Wesen sind - deshalb nennt man
sie ja
auch Figuren! -, eine Stimme, um existieren, um sich ausdrücken zu
können.
Eine Stimme, die wie eine Flüssigkeit in alle Zwischenräume
dieser
instabilen, sich allmählich auflösenden Konstruktion aus
Worten und
Bedeutungen sickert. Wie in einem
Traum kann sie unvermutet und in den verschiedensten
Zusammenhängen auftauchen.
Unwirklich und allgegenwärtig ... Gewiss, ab und zu scheint
es, als hörten wir die Stimmen der Figuren. Doch ist das nur
Täuschung.
Auch
dahinter steckt der Erzähler: Er spielt alle Rollen, lenkt
Äußerungen,
Gedanken. Denn irgendwo in den
Kulissen kauernd, denkt er mit lauter Stimme." (S. 175-176)
Der
Schriftsteller als Vermittler zwischen den Figuren und dem Leser - das stellt
sich als Trugschluss heraus-, der Schriftsteller zieht vielmehr die Fäden, an
denen die Marionetten-Figuren hängen, er allein steckt dahinter, er, der
geheimnisvolle Zauberer bestimmt die Mechanik, nach der sich der ganze Kosmos
des Romans bewegt.
"Hotel
Europa" ist in kompositorischer Hinsicht ein interessanter Roman, ein
mehrschichtiger Text, dessen unterschiedliche Handlungsebenen eine Struktur
bilden etwa vergleichbar mit den Ebenen eines Gebäudes (eines - Hotels?): auf
der untersten Ebene der Schriftsteller selbst mit seinen Zweifeln und
Unsicherheiten, in einer permanenten Auseinandersetzung mit seiner Materie, auf
der nächsten Ebene der Schriftsteller als Romangestalt mit Frau und Siamkater,
und auf der letzten Ebene, einer Art Dachkammer, die Figuren des Romans, die der
Schriftsteller beliebig manipuliert. Indem man auf diesem Dachboden der Konstruktion von Kammer zu
Kammer geht, weitet sich der Handlungsraum immer mehr aus - zuerst Temeswar,
dann Budapest, Wien, München, Heidelberg, Metz und Paris - und umfasst
letztendlich Europa.
Unweigerlich
denkt man an die Spielfilmgroteske "Fenster nach Paris" des Regisseurs
Jurij Mamin und an das verwinkelte Gebäude in Leningrad, in dem man immer höher
steigen kann, um schließlich durch ein Fenster direkt in einer Mansarde in
Paris zu landen, oder an Ibolya Feketes Spielfilm "Bolsche Vita", eine Art
Odyssee zweier russischer Jugendlicher, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs
ebenfalls über die Station Budapest in den Westen gelangen.
Offensichtlich
greift Tsepeneag in seinem Buch ein für Osteuropa allgegenwärtiges Motiv auf:
die Bewegung als Gegenpol zur Erstarrung, zu der ein halber Kontinent
jahrzehntelang gezwungen wurde.
Trotz
dieser manchmal kompliziert wirkenden Kompositionsweise, bei der es dem
Leser
zumindest anfangs ziemlich schwer fällt, die Ebenen der Handlung
akkurat zu
trennen, gelingt es dem Schriftsteller-Regisseur Tsepeneag, die
Spannung seiner
Handlungsfäden aufrechtzuerhalten, so dass die Konstruktion
letztendlich in
sich schlüssig bleibt. Auch wenn
die Sprünge von einer Ebene zur anderen manchmal künstlich
sind und sich
dementsprechend hemmend auf den Handlungsablauf auswirken, auch wenn so
mancher
theoretisierende Einschub einen Bruch in der Struktur bedeutet, so
bleibt
Tsepeneag in den reinen Handlungspassagen ein Meister der Aktion und
der
Spannung. Was dann auch stilistisch
durch kurze, prägnante Sätze getragen wird. Seine Streuner
sind in ständiger Bewegung; es ist, als hätte sie der
Autor selbst nur kurz betrachten können, dementsprechend fallen
die Porträts
eher skizzenhaft aus, Häuser, Städte, Räume werden
selten minuziös
beschrieben. Auf Details wird oft
zugunsten der Dynamik verzichtet.
Eigentlich
ist die Bewegung das Thema von "Hotel Europa", der Drang des Osteuropäers
nach Westen hin. Das "Let's Go
West!", das in den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs immer wörtlich
verstanden wurde, generiert ein extremes Sehnen nach dem bisher verbotenen
Unbekannten. Die Symbolik der Bewegung ist die Stärke des Romans, auch wenn
eventuelle Auswirkungen der Dynamik auf die Figuren ausgespart bleiben (etwa ein
möglicher Zusammenhang zwischen den Reisestationen und den darin gewonnenen
Erfahrungswerten, wie sie im klassischen Bildungsroman vorkommen, so dass
hinsichtlich der Gattung eher von einem Schelmenroman gesprochen werden könnte).
Manche Episoden bleiben in ihrer Zusammenfügung mit der Gesamtstruktur
recht unklar und wirken kulissenhaft (zum Beispiel der Aufenthalt Mariannes, der
Frau des Autors, in Moskau während des Putsches gegen Gorbatschow), wie auch
der intendiert symbolhafte Charakter mancher Figuren (der immer wieder
auftauchende Tiroler? oder Bayer? in Jägeruniform).
Problematisch
erschienen uns auch einige Verknüpfungen von fantastischen Elementen mit der
Realität; sie wirken ohne die adäquaten Verbindungselemente mechanisch (wie
zum Beispiel der Siamkater, der, wie schon angedeutet, zwar an illustre Vorgänger
erinnert, aber ein eher schwacher Abglanz derselben ist).
Trotz
allem bleibt "Hotel Europa" insgesamt ein interessantes Buch und
bietet größtenteils ungetrübten Lesegenuss.
Ein
in der französischen Emigration lebender rumänischer Schriftsteller, der mit
einer französischen Journalistin verheiratet ist, schreibt einen Roman. Über
Rumänien? Über Frankreich? Über die Revolution von 1989, die sogenannte
"Revolution"? Oder über sich
selbst? Er ist kurz nach den
Ereignissen des Winters 1989 zum ersten Mal nach langer Zeit als Begleiter eines
Hilfskonvois nach Rumänien gefahren und hat dort junge Leute kennen gelernt,
unter anderem den Französischstudenten Ion. Ist er wirklich in Rumänien gewesen?
Seine neuen Bekannten aus Bukarest - Ion an der Spitze - ziehen los, um
Europa zu erkunden. Davon soll der
Roman handeln. Der Schriftsteller
aber kann die aufkommenden Fragen nicht eindeutig beantworten, und der Roman ist
eine zwar imperativische, aber dann
doch schattenhafte Vorstellung, was den Autor in ziemliche Schwierigkeiten
bringt.
Das
Schreiben geht nur stockend voran, und in einer solchen Situation ist es sehr
leicht, die Schuld Anderen zuzuschieben: der eigenen Frau, die ihn immer wieder
mit Fragen anbohrt, dem räsonierenden Siamkater (ein Verwandter des
Bulgakowschen Katers Behemoth), der zwischendurch die eine oder andere missbilligende
Bemerkung zum Roman und zum Schriftsteller fallen lässt, der literatur- und
schöpfungsfeindlichen Stadt. Er
beschließt, sich von all dem zu isolieren und aufs Land zu fahren in der
Hoffnung, dort die fast klischeehaft wirkende "innere Ruhe" zu finden und
seinen Roman voranzutreiben.
Was
ihm dann jedenfalls gelingt, auch wenn er weiterhin zwischendurch mit sich selbst und
seinen Figuren zu kämpfen hat. Wie
etwa dann, wenn er sich darüber
Gedanken macht, wie er seiner Hauptgestalt den Vorgang des Schreibens erklären
soll:
"Vielleicht
sollte ich ihm etwas über die Funktion des Erzählers sagen,
über jenen rätselhaften
Vermittler zwischen mir und ihm und dem Leser. Über jene Stimme,
die den
Klangraum des Romans ausfüllt (immerhin ist dies ihre Pflicht) und
ohne die man
nicht glaubt, dass überhaupt etwas existiert. Nein, sie ist
nicht die Stimme des Autors.
Der Autor ist wie der Heilige Geist: voller Ideen, aber unsichtbar,
unhörbar.
Er zieht alle Fäden, das stimmt, aber wem gehören sie? Will
sagen, dass er Figuren braucht, und seien es noch so armselige
Marionetten. Umgekehrt brauchen all
diese Kreaturen, die keine menschlichen Wesen sind - deshalb nennt man
sie ja
auch Figuren! -, eine Stimme, um existieren, um sich ausdrücken zu
können.
Eine Stimme, die wie eine Flüssigkeit in alle Zwischenräume
dieser
instabilen, sich allmählich auflösenden Konstruktion aus
Worten und
Bedeutungen sickert. Wie in einem
Traum kann sie unvermutet und in den verschiedensten
Zusammenhängen auftauchen.
Unwirklich und allgegenwärtig ... Gewiss, ab und zu scheint
es, als hörten wir die Stimmen der Figuren. Doch ist das nur
Täuschung.
Auch
dahinter steckt der Erzähler: Er spielt alle Rollen, lenkt
Äußerungen,
Gedanken. Denn irgendwo in den
Kulissen kauernd, denkt er mit lauter Stimme." (S. 175-176)
Der
Schriftsteller als Vermittler zwischen den Figuren und dem Leser - das stellt
sich als Trugschluss heraus-, der Schriftsteller zieht vielmehr die Fäden, an
denen die Marionetten-Figuren hängen, er allein steckt dahinter, er, der
geheimnisvolle Zauberer bestimmt die Mechanik, nach der sich der ganze Kosmos
des Romans bewegt.
"Hotel
Europa" ist in kompositorischer Hinsicht ein interessanter Roman, ein
mehrschichtiger Text, dessen unterschiedliche Handlungsebenen eine Struktur
bilden etwa vergleichbar mit den Ebenen eines Gebäudes (eines - Hotels?): auf
der untersten Ebene der Schriftsteller selbst mit seinen Zweifeln und
Unsicherheiten, in einer permanenten Auseinandersetzung mit seiner Materie, auf
der nächsten Ebene der Schriftsteller als Romangestalt mit Frau und Siamkater,
und auf der letzten Ebene, einer Art Dachkammer, die Figuren des Romans, die der
Schriftsteller beliebig manipuliert. Indem man auf diesem Dachboden der Konstruktion von Kammer zu
Kammer geht, weitet sich der Handlungsraum immer mehr aus - zuerst Temeswar,
dann Budapest, Wien, München, Heidelberg, Metz und Paris - und umfasst
letztendlich Europa.
Unweigerlich
denkt man an die Spielfilmgroteske "Fenster nach Paris" des Regisseurs
Jurij Mamin und an das verwinkelte Gebäude in Leningrad, in dem man immer höher
steigen kann, um schließlich durch ein Fenster direkt in einer Mansarde in
Paris zu landen, oder an Ibolya Feketes Spielfilm "Bolsche Vita", eine Art
Odyssee zweier russischer Jugendlicher, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs
ebenfalls über die Station Budapest in den Westen gelangen.
Offensichtlich
greift Tsepeneag in seinem Buch ein für Osteuropa allgegenwärtiges Motiv auf:
die Bewegung als Gegenpol zur Erstarrung, zu der ein halber Kontinent
jahrzehntelang gezwungen wurde.
Trotz
dieser manchmal kompliziert wirkenden Kompositionsweise, bei der es dem
Leser
zumindest anfangs ziemlich schwer fällt, die Ebenen der Handlung
akkurat zu
trennen, gelingt es dem Schriftsteller-Regisseur Tsepeneag, die
Spannung seiner
Handlungsfäden aufrechtzuerhalten, so dass die Konstruktion
letztendlich in
sich schlüssig bleibt. Auch wenn
die Sprünge von einer Ebene zur anderen manchmal künstlich
sind und sich
dementsprechend hemmend auf den Handlungsablauf auswirken, auch wenn so
mancher
theoretisierende Einschub einen Bruch in der Struktur bedeutet, so
bleibt
Tsepeneag in den reinen Handlungspassagen ein Meister der Aktion und
der
Spannung. Was dann auch stilistisch
durch kurze, prägnante Sätze getragen wird. Seine Streuner
sind in ständiger Bewegung; es ist, als hätte sie der
Autor selbst nur kurz betrachten können, dementsprechend fallen
die Porträts
eher skizzenhaft aus, Häuser, Städte, Räume werden
selten minuziös
beschrieben. Auf Details wird oft
zugunsten der Dynamik verzichtet.
Eigentlich
ist die Bewegung das Thema von "Hotel Europa", der Drang des Osteuropäers
nach Westen hin. Das "Let's Go
West!", das in den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs immer wörtlich
verstanden wurde, generiert ein extremes Sehnen nach dem bisher verbotenen
Unbekannten. Die Symbolik der Bewegung ist die Stärke des Romans, auch wenn
eventuelle Auswirkungen der Dynamik auf die Figuren ausgespart bleiben (etwa ein
möglicher Zusammenhang zwischen den Reisestationen und den darin gewonnenen
Erfahrungswerten, wie sie im klassischen Bildungsroman vorkommen, so dass
hinsichtlich der Gattung eher von einem Schelmenroman gesprochen werden könnte).
Manche Episoden bleiben in ihrer Zusammenfügung mit der Gesamtstruktur
recht unklar und wirken kulissenhaft (zum Beispiel der Aufenthalt Mariannes, der
Frau des Autors, in Moskau während des Putsches gegen Gorbatschow), wie auch
der intendiert symbolhafte Charakter mancher Figuren (der immer wieder
auftauchende Tiroler? oder Bayer? in Jägeruniform).
Problematisch
erschienen uns auch einige Verknüpfungen von fantastischen Elementen mit der
Realität; sie wirken ohne die adäquaten Verbindungselemente mechanisch (wie
zum Beispiel der Siamkater, der, wie schon angedeutet, zwar an illustre Vorgänger
erinnert, aber ein eher schwacher Abglanz derselben ist).
Trotz
allem bleibt "Hotel Europa" insgesamt ein interessantes Buch und
bietet größtenteils ungetrübten Lesegenuss.
(Georg Quante)
Dumitru Tsepeneag: "Hotel Europa"
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner.
Alexander Fest Verlag, 1998. 447 Seiten.
Buch
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Norman Manea:
"Der schwarze
Briefumschlag"
Symbole, Surrogate und unsichtbare Netze
Die aus einer Laune heraus
intensivierte Suche nach der subjektiven Wirklichkeit im kollektiven Labyrinth
aus Mauern des Vertuschens und des Schweigens, hinter tausend Schleiern
verborgen, blind geworden von jahrzehntealten Lügen, treibt die Hauptfigur in
einem unheilschwangeren Frühling durch Maneas Roman: Anantol Dominíc Váncea
Voinóv brütet über seinen Vermutungen hinsichtlich der dunklen Geheimnisse,
die sich um den Tod seines Vaters ranken. War es Mord, wie er glaubt? Oder hat
sein Vater Selbstmord begangen, wie es offiziell verlautbart wurde? Lange zurück
liegende Ereignisse rund um eine unglückliche Liebschaft und einen
erpresserischen Brief umrahmen ein, trotz oder vielleicht gerade wegen
gelegentlicher greller Lichteinfälle, fassbar düster-vernebelt bleibendes Bild
der Personen und Zustände im Bukarest der 1980er Jahre, vor dem Umsturz, in
einer Umgebung, wo Spitzeldienste, Verleumdungen, hintergründige Falschheit häufig
und Ehrlichkeit, Wahrheit und loyale Freundschaft selten sind und überdies
Kriterien von begrenzter Haltbarkeit darstellen. Der vorhin benutzte Ausdruck
"düster-vernebelt" bezieht sich jedoch ausschließlich auf die rein
oberflächlichen Äußerlichkeiten des Dargestellten, die sichtbaren Hüllen,
nicht auf die einzelnen Charaktere, denn diese zeichnet Manea mit
beeindruckender, geradezu beengender Detailgenauigkeit, mit ihren individuellen
Stärken und Schwächen, die anhand von Rückschlüssen und Andeutungen, kaum
jemals durch tatsächliche Aussagen oder gar Handlungen offenbar werden. Wie überhaupt
zu betonen ist, dass Manea sich keineswegs in Gejammer über die schlechten Zustände
- (Nahrungsmittelengpässe, mangelhafte Energieversorgung, Zensur) - ergeht,
sondern eben diese äußerlichen Widrigkeiten in Summe die Kulissen auf der
abgedunkelten Bühne für seine Figuren darstellen, deren jeweiliges
schillerndes Innenleben den Roman insgesamt zum Leuchten bringt und zu einem
besonderen Leseerlebnis macht.
So trinken seine "Ersatz"-Menschen
Kaffeeersatz und tummeln sich in den Grenzen einer Ersatzgemeinschaft. Da gibt
es den bereits erwähnten Professor Anatol
Dominíc Váncea Voinóv,
genannt Tólea, der seine schwarze
Kleidung wie eine Rüstung trägt, dessen Schicksal nach einem unglückseligen
Zwischenfall besiegelt ist, dessen Bruder nach Argentinien ausgewandert ist, und
dessen Vater, Marcu, ein an der Sorbonne promovierter Philosoph, sein Leben als
Weinhändler - und unter höchst seltsamen Umständen - beendet hat.
Matei Gaftón, bei dem Tólea zur Untermiete wohnt, ein ehemaliger Journalist,
verbringt den Großteil seiner Zeit in Bibliotheken und verfasst
Beschwerdebriefe, die er, so er sie nicht umgehend vernichtet, an Behörden und
die Presse schickt. Seine Frau Vetúria erteilt ausländischen Studenten
Privatstunden und sammelt "Trophäen vom Transit; Surrogate, verderblichen
Ramsch des planetaren Jahrmarkts". Dr. Marga, der Arzt mit dem Glasauge,
leitet eine Nervenheilanstalt. Und nicht zu vergessen die GESELLSCHAFT, der
Musterverein, dessen Vorsitzender der Genosse Orest Popescu ist. An ihn
gerichtete Spitzelberichte durchziehen den Roman; jede Figur ist ein
beobachteter Beobachter, ein verleumdeter Verleumder.
Ein Ereignis beschäftigt
die Bewohner Bukarests in diesem belasteten Frühling besonders:
Eine Frau wurde von einem Schlägertrupp in ihren eigenen vier Wänden überfallen
und misshandelt, ihre Haustiere wurden allesamt getötet und die Wohnung in
Brand gesteckt ...
Auf der riskanten Suche nach den Mördern seines Vaters irrt und strebt Anatol
Dominíc Váncea Voinóv durch die Wirren des rumänischen Alltags zur Zeit der
Ceauçescu-Diktatur, führt den Leser durch seine Welt der flüchtigen
Begegnungen im starren Rahmen seiner peinlich genauen individuellen
Alltagsroutine. Der ehemalige Professor musste seinen Beruf infolge eines
fatalen Missgeschicks aufgeben; seither versieht er Dienst als Portier in einem
verrufenen Hotel und versucht, seine Bekannten in schier endlosen Monologen für
allerlei sonderbare Theorien zu begeistern.
Manea beherrscht das Kunststück,
durch Momentaufnahmen inhaltliche Dichte ohne sprachliche Schwere zu erschaffen;
eine elegante Dichte, die den Leser nicht erdrückt, sondern bezaubert und genug
Raum für eigene Schlussfolgerungen belässt. Ein intensives Meisterwerk der rumänischen
Literatur, das der Autor nach Ende der Ceauçescu-Diktatur überarbeitete, und
dessen Bedeutung weit über jene eines Zeitdokumentes hinausreicht.
Norman Manea wurde 1936 in der Bukowina geboren, 1941 mit seiner Familie
deportiert. Er überlebte das Vernichtungslager und emigrierte in die USA.
(Doris Krestan)
Norman Manea: "Der schwarze
Briefumschlag"
Aus dem Rumänischen von Paul Schuster.
Hanser, 1995. 352 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Noch ein Buchtipp:
Norman Manea: "Die Rückkehr des Hooligan. Ein Selbstporträt"
Norman Manea wurde zum Augenzeugen zweier Schreckensherrschaften: mit fünf
Jahren wurde er als Kind jüdischer Eltern nach Transnistrien deportiert, mit fünfzig
war er gezwungen, aus Ceauçescus Rumänien
zu emigrieren. Seine Autobiografie ist ein "Buch der Wut" (Charles
Simic) und das Porträt eines Heimatlosen, dem das Schreiben zum einzigen
Vaterland wurde.
Buch
bei amazon.de bestellen
Carmen-Francesca Banciu:
"Vaterflucht"
Verdrängen als Überlebensstrategie - 155 Seiten angst und bang
Zwei Jahre nach dem in deutscher Sprache
verfassten Roman Vaterflucht erschien im Jahr 2000 Ein Land voller
Helden als Übersetzung des rumänischen Ein Tag ohne Präsident. Der
Originaltitel lässt einen direkteren Bezug zum dargestellten Geschehen
herstellen, dem Machtwechsel in Rumänien nämlich, der Zeit unmittelbar davor
und danach.
In Vaterflucht ist der Zeitrahmen
weitläufiger; mit autobiografischer Schlagseite wird darin einerseits die
fortschrittsgläubige Elterngeneration mit ihrem seltsame Blüten treibenden
Ehrgeiz, den "Neuen Menschen" hervorzubringen, an den Pranger
gestellt, andererseits die Ablehnung der aufokroyierten Ideale und
Verhaltensmuster durch die Kinder beschrieben. Dass dabei mitunter etwas über
das Ziel hinaus geschossen wird, ist wohl dem Rückstau an allzu lange unterdrücktem
Aufbegehren zuzuschreiben. Vaterflucht muss man als Produkt eines langen
Prozesses ansehen, der mehr als nur eine Generation kollektiv sowohl zur Beichte
als auch zur therapeutischen Selbstbetrachtung auffordert. Der überwiegend als
Rückschau angelegte Roman thematisiert das Einzelschicksal einer unerwünschten
Tochter und deren Befindlichkeit im zunehmend als dubios empfundenen Jubel- und
Arbeitskollektiv vor dem spezifischen Hintergrund der Ereignisse in Rumänien,
ungefähr ab der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Diese Tochter fährt mit ihrem siebenjährigen Sohn nach Jahren
des selbstgewählten
Exils zurück in ihre rumänische Heimat, um ihren Vater zu
besuchen. Die Mutter
ist längst verstorben, der Vater wirkt nicht mehr so bedrohlich
und feindselig
wie früher, und auch die politischen Verhältnisse haben sich
geändert. Während
der Bahnfahrt blickt die Ich-Erzählerin, und mit ihr der Leser,
endlose 155
Seiten lang zurück auf Kindheits- und Jugenderlebnisse, die
insgesamt ein bedrückendes
Bild der rumänischen Zustände entstehen lassen. Sei es, dass
der Vater, der
kein Kind - und schon gar keine Tochter - wollte, aktiver Propagandist
und
Parteifunktionär war, bis ihn die Vorhaben seiner Tochter
parteiintern in
Ungnade fallen ließen, sei es, dass die vernachlässigte,
unglückliche Mutter ständig unter entsetzlichen Kopfschmerzen
litt, oder dass die Eltern
sich demonstrativ in Verzicht zu Gunsten der "missratenen" Tochter
übten.
Zwischendurch kehrt regelmäßig das Motiv des bevorstehenden
aufwühlenden
Zusammentreffens mit dem Vater wieder.
In der Wohnsiedlung zeichnete sich, wie
auch später in der Schule, das gegenseitige Bespitzeln und die damit verbundene
Angst, unangenehm oder überhaupt aufzufallen, ab. Der allerorts beschworene
Aufschwung wollte nie so recht einsetzen, die Verhältnisse für den einzelnen
Menschen wurden nicht und nicht besser.
Die Ich-Erzählerin schrieb schon von klein auf Geschichten, die ihr immer
wieder Erklärungsbedarf bescherten, weil ihre Ansichten und Denkweisen mehr
waren als reine Reproduktionen der staatlich verordneten. Sie ging jedoch,
vielen Widrigkeiten zum Trotz, und insofern gar nicht so anders als
Heranwachsende andernorts auch, ihren Weg und musste infolgedessen zahlreiche
Unannehmlichkeiten auf sich nehmen, die darin gipfelten, dass sie aufgrund einer
geplanten Demonstration für ausgebeutete Bauern drei Monate lang tagtäglich
von Mitarbeitern der Securitate verhört wurde. Im Verlauf dieser peinlichen
Befragungen und Rechtfertigungen wurde ihr bewusst, dass es immer jemanden in
ihrer Nähe gegeben haben musste, der ihrer Akte Vermerke, Protokolle und
Dokumente zugetragen hat, denn der Geheimdienst war bestens über ihre
Interessen, Handlungen und Beziehungen informiert. Aus für sich genommen
wahrlich unergiebigen Details wie ihren brieflichen Auslandskontakten, der
Tatsache, dass sie Kirchenmalerei studierte und Romane schrieb, wurden Verdächtigungen
konstruiert, die ihr jede Hoffnung auf eine erträgliche Zukunft in Rumänien
raubten und sie zu einem Selbstmordversuch trieben.
Den Wunsch der Autorin um Aufklärung und
Klarheit in Ehren - dennoch scheint es, als habe sie nicht den entscheidenden
Durchbruch zur unverschleierten Darstellung der sie so offenkundig schwer
belastenden Vergangenheit gefunden, und als verstelle sie sich selbst den Blick
auf die zumutbare Wahrheit. Eine Vaterflucht wurde konzipiert, eine Land-
und Sprachflucht ist es letztendlich geworden. Offen bleibt ebenfalls die Frage,
ob man tatsächlich die Schuld bzw. die Verantwortung für das innere
Abstumpfen, die subjektiv empfundene zwischenmenschliche Kälte oder für die
zahlreichen Fehlschläge im familiären Bereich einzig und allein dem
politischen System zuschieben kann/darf/soll oder ob dergleichen nicht vielmehr
dort weitverbreitet ist, wo Ignoranz und Oberflächlichkeit regieren - und die
kleinste Einheit dafür ist die Seele des Einzelnen ...
Carmen-Francesca Banciu wurde im Jahre
1955 im rumänischen Lipova geboren, studierte Kirchenmalerei und Außenhandel
und hatte in ihrer Heimat unter Publikationsverboten zu leiden. Seit 1991 lebt
sie als freie Autorin in Berlin. Gewiss ist es der Schriftstellerin erster Roman
in deutscher Sprache, und der gehetzte, atemlose Schreibstil setzt das Motiv der
Vaterflucht recht trefflich um - freilich ist die Lektüre bisweilen mühsam!
Amputierte, widerborstige Sätze, die mehr roh gestammelte Assoziationsketten
als Erzählfluss sind; Punkte und Beistriche verdrängen alle anderen
Satzzeichen, was ein diffuses Gefühl des Unwillens hervorrufen mag. Aber womöglich
soll sich der Leser gar nicht bequem-nostalgisch in diesen Roman kuscheln,
sondern hautnah mitleiden, sich hineinsteigern (lassen)?
(Felix Grabuschnig)
Carmen-Francesca Banciu: "Vaterflucht"
Verlag Volk & Welt, 1998. 155 Seiten.
Buch
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Die Rezension von Carmen-Francesca Bancius "Berlin ist mein Paris" finden Sie hier ...
Gellu Naum: "Rede auf dem Bahndamm an die Steine"
"Bis ins Mark infiziert mit Literatur"
"Ich bin bis ins Mark infiziert mit Literatur, und ich wette, dass jeder Arzt in
jedem meiner Nerven den faulenden Wundbrand der Poesie sehen könnte." Auf
diese unmissverständliche und extreme Art beschreibt der Dichter Gellu Naum
sein Verhältnis zur Literatur, von der er seit dem 18. Lebensjahr fasziniert
ist. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Bandes war er 83 Jahre alt und
schien dennoch damals "der jüngste und produktivste rumänische Dichter"
(Ernest Wichner) zu sein.
Gellu
Naum hat sich 1938 in Paris aufgehalten und dort die Bekanntschaft namhafter
Surrealisten gemacht, unter anderem auch Andre Bretons, nachdem er schon 1932 in
Bukarest ein erstes überwältigendes Erlebnis anlässlich einer
surrealistischen Ausstellung Viktor Brauners hatte. Naum brachte damals seine
Faszination auf den Punkt: Er wolle so schreiben, wie die Bilder Brauners
gefertigt seien. Es mag sich dabei vor allem um die Methode der Befreiung des
Geistes gehandelt haben, einer generellen Befreiung im Sittlichen, Künstlerischen,
Ästhetischen, Ideologischen, so wie sie von den Surrealisten propagiert wurde.
Auch wenn er 1938 zu spät nach Paris gekommen war, um die innovativen Energien
des Surrealismus unmittelbar zu erleben, so erlebte er doch die Umsetzung der
Poesie in die Praxis mit allen ihren (ideologischen) Vor- und Nachteilen. Er
selbst bemühte sich um die künstlerische Umsetzung des Surrealismus in Rumänien
und gehörte in den Jahren 1939 bis 1947 zu den Hauptakteuren einer regen Gruppe
von rumänischen surrealistischen Künstlern. Mit der Machtergreifung durch die
Kommunisten jedoch löschte der aufoktroyierte sozialistische Realismus solche
Orientierungen für lange Zeit aus.
Nach
dem Sturz der Diktatur in Rumänien hat der Dichter eine neue Freiheit gefunden,
die Freiheit, nur Dichter zu sein, zu schreiben ohne Druck oder Einschränkung
von außen, einen Neuanfang unter ungewöhnlichen Bedingungen zu machen, sich
also ausschließlich dem Gedicht zu widmen. Das mag auch den produktiven
Aufbruch der späten Jahre erklären.
Die
Texte des vorliegenden Bandes sind in fünf Abschnitte gruppiert: "Fläche
und Oberfläche", "Transitreisen", "Dinge im Wasser",
"Die verborgene Seite im pflanzlichen Leidensbereich" und "Rede
auf dem Bahndamm an die Steine". Thematisch bilden sie jedoch eine Einheit.
Ein eigenartiges, oft skurriles Universum wird Zeile für Zeile und Seite für
Seite aufgebaut, wobei der Einstieg für den Leser nicht immer einfach ist.
Hatte doch eine der oft zitierten Erklärungen der Surrealisten gelautet:
"Am Anfang geht es nicht darum, sie (die Poesie) zu begreifen, sondern sie
zu mögen."
Ein
Charakteristikum der Gedichten Naums - (das man problemlos annimmt und auch mögen
lernt) - ist das Fehlen der Interpunktion, so dass die lyrische Aussage pausenlos
abgespult wird, wobei der Sinnzusammenhang von der jeweiligen Zeile oder von
Abschnitten bestimmt wird, die optisch durch Freiräume im Zeilenfluss markiert
sind. So z. B. in "Rede auf dem Bahndamm an die Steine":
"Ich
sprach auf einem leeren Bahndamm zu den Steinen
mit ausgedehntem Rauschen fiel der Abend ein
zwischen den Zweigen ging etwas zu Ende
das auf Chaosgeometrie hinauslief
die schweren Felder führten jetzt in vier
verschiedene Richtungen am Himmel
seelenruhig schmauchte der Mechaniker
es gab genügend Plätze
ich wählte einen
da saßen wir auf einmal eine strenge Strafzeit ab
am Abend fiel das Haar uns aus
wir legten es auf die Seite
mit ausgedehntem Rauschen fiel der Himmel ein in uns brach was zusammen
ging zu Ende."
Einige Gedichte spiegeln alltägliche, oft banale Vorgänge und Begebenheiten, manchmal
ist es eine Reise über Land oder ein Gespräch, ein Erinnerungsfetzen, der
Garten. Doch schon in den Anfangsbildern solcher Texte eröffnet sich dem Leser
eine andere Welt: die banale Reise wird existenziell, das Gespräch führt ins
Grundsätzliche einer Entscheidung oder Weltanschauung. Der Zugang von einer
Ebene zur anderen erfolgt über Assoziationen, Vergleiche oder Kombinationen von
fremden und verfremdenden Sinnelementen (die Trauer des Holzes, ein Hund will
Kalk fressen, Blumen erniedrigen sich usw.). Andere Gedichte weisen oft schon im
Titel auf Grundsätzliches hin, wobei auch in diesen Fällen ein
Verfremdungsprozess in umgekehrtem Sinn stattfindet, indem alltägliche Details
die lyrische Aura durchbrechen.
So in "Der Schatten":
"...
im Garten pfeift klagend eine Amsel
was tust du mit den Händen fragt sie
ich halte sie übereinander, Bein über Bein antworte ich."
- oder auch im Gedicht "Der Vogel Wasile" oder in "Die schwarze
Schachtel":
"Es
wird immer Schatten oben geben
die wie ein Regen auf euch fallen werden
also riefen Jessie Norman und Kathleen Battle vom Himmel
ich sah sie von unten an."
In jedem Falle sind Naums Gedichte spannende, oft dramatische Auseinandersetzungen
des Ichs mit der Welt im ganzen und im einzelnen.
Die Übersetzungen Oskar Pastiors erschaffen die Texte oft neu, ein Prozess des
Nachdichtens, der insgesamt interessant, manchmal aber auch riskant sein kann.
(Georg Quante)
Gellu Naum: "Rede auf dem Bahndamm an die Steine"
Gedichte rumänisch und deutsch.
Aus dem Rumänischen übersetzt und mit einer Nachbemerkung
versehen von Oskar Pastior und einem Nachwort von Ernest Wichner.
Ammann Verlag, 1998.
Buch
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In
diesem Zusammenhang soll "Oskar Pastior entdeckt Gellu Naum" nicht
unerwähnt bleiben! Der Gedichtband aus der Reihe "Dichter entdecken
Dichter", in der z. B. auch "Paul Auster entdeckt Charles Reznikoff",
"Robert
Gernhardt entdeckt Heinrich
Heine", "Sarah Kirsch entdeckt Christoph Wilhelm Aigner",
"Cees
Nooteboom entdeckt Eugenio Montale" und "Günter Kunert entdeckt Nikolaus
Lenau" erschienen sind, enthält neben einer Auswahl an Neu- auch
zahlreiche Erstübersetzungen von sprachgewaltigen Texten ohne Schnörkel des im
September 2001 verstorbenen rumänischen Schriftstellers.
"Blinde Krähe"
In
der Morgenfrühe die vielleicht der Anfang der Nacht ist
dieser Stunde wo ich voller Disteln und als Toter
durch die Erdgeschichte krauche
oder nackt und unbeweglich plötzlich
vor der Auslage mit photographischen Artikeln stehe
an diesem Morgen voller Sonnenschein und Mondrian
und erdolchten Erzherzögen in blutroten Coupés
flattert und ich hör es ohne einen Laut
in uns selber diese Rabenvogelkrähe"
Dass hier
der Übersetzer als Entdecker tätig wurde, ist bemerkenswert und bleibt nicht
ohne Folgen: Nicht schüchternes Neben-den-Zeilen-Verharren ist das Ergebnis,
sondern tätiges Nachdichten, das dem Leser jedoch allerhand gleichermaßen
Entdeckenswertes wie Rätselhaftes zum Grübeln übrig lässt. Jenseits
oberflächlicher Moralbegriffe steht das höchstpersönliche Beziehungsspiel mit
der Umgebung im Vordergrund. Der Surrealist Gellu Naum malte mit Worten, und
auch Oskar Pastior beherrscht diese Kunst. Inwieweit der geschulte Blick des
Entdeckers für nachfolgende Entdeckungsreisende prägend war und ist, wird sich
zeigen ...
"Oskar Pastior entdeckt Gellu Naum"
Gedichte.
Europa Verlag, 2001. 94 Seiten.
Buch
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In
Zeiten der Zensur entstanden eher notgedrungen denn aus freien Stücken mehr
oder minder unterschwellig kritische Texte, deren besonderer Reiz darin
besteht, dass Denkansätze eher zwischen den Wörtern und Zeilen als im konkreten
Ausdruck zu finden sind, sofern sich der jeweilige Autor nicht der
nationalistisch-romantisierenden (Selbst-) Betrachtung hingegeben, sondern im
Rahmen der Möglichkeiten Stellung bezogen hat.
Marin Sorescu: "Der Fakir als Anfänger"
Gedichte und Ansichten
Aufgrund des innenpolitischen Klimas in seiner Heimat war
der der 1927 geborene Marin Sorescu über lange Jahre hinweg gezwungen,
sich "interpretierbarer" Ausdrücke zu bedienen, Chiffren zu entwickeln,
und mit seiner Sensibilität für treffsichere Formulierungen überlistete er
gelegentlich die aufmerksamen Zensoren. So konnte er den riskanten Spagat
zwischen Anerkennung und Publikationsverbot meistern, wobei ebendieser Freiraum
mitunter eben doch Beanstandungen seitens der staatlichen Meinungswächter zur
Folge hatte.
Der
vorliegende Band beinhaltet ausgewählte Werke aus drei zuvor in Rumänien
erschienenen Büchern sowie den Manuskripten des Autors, darunter
Gedichte sowie Texte von Reden, die der Autor bei Zusammenkünften mit
Schriftstellerkollegen in Deutschland gehalten hat.
Sorescu war nämlich in der glücklichen Lage, bereits zu Ceauçescus Zeiten an
Poesiefestivals jenseits der Staatsgrenzen teilnehmen zu dürfen - wohl auch,
weil das Regime Gefallen daran fand, sich mit einem international anerkannten,
"kritischen" Schriftsteller zu schmücken.
Marin Sorescus ernsthafte, jedoch keineswegs humorlose Gedichte und Betrachtungen
sind nach wie vor aktuell und weitaus mehr als therapeutischen Zwecken dienende
verblassende Standbilder eines zerbröckelten politischen Systems.
Der Schriftsteller und ehemalige Kulturminister verstarb 60jährig an den Folgen
einer Zirrhose, verursacht durch Hepatitis C.
Marin Sorescu: "Der Fakir als Anfänger"
Gedichte und Ansichten.
Aus dem Rumänischen und mit einem Nachwort von Oskar Pastior.
Carl Hanser Verlag, 1992. 104 Seiten.
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Dieter Schlesak: "Gefährliche Serpentinen"
Gedicht-Anthologie.
Als 16jähriger Lyzeaner in Kronstadt/Siebenbürgen trug ich drei Bücher
monatelang in meiner Schultasche mit; "Zusatzlektüre" nannte man das.
Eines war "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" - mein
damaliger Deutschlehrer hatte mich mit einem Referat darüber beauftragt. Das
Referat habe ich geschrieben, aber das Buch erst einige Jahre später richtig
verstanden.
Ein anderes schmales Bändchen war von E. A. Poe: "Die Abenteuer des Gordon
Pym" und gehörte gar nicht zum Unterricht; Weltliteratur gab es erst zwei
Jahre später.
Ein drittes Buch war ein dicker Gedichtband, gebunden in dunkelgrünem Karton: sämtliche
Gedichte von Lucian Blaga in rumänischer Sprache. Das Bildnis dieses feinen,
sanften Mannes mit melancholischem, fragendem, ja fast traurigem Blick zierte
unsere Aula: er war auch Schüler unserer Schule gewesen. In dem Gedichtband
fand ich eine für mich damals überraschende Aussage, nämlich dass Dichtung
den Zauber der Welt nicht entschlüsseln, sondern vertiefen würde.
Die Erinnerung an das Buch mit den dunkelgrünen Umschlägen stellte sich
augenblicklich ein, als ich den Gedichtband "Gefährliche Serpentinen"
in die Hand nahm und durchblätterte. Dasselbe beachtliche Volumen, die Gedichte
darin ebenfalls akkurat nach Themen (fast zyklisch) geordnet, hier wie dort
biografische Angaben zu den Autoren, ein umfassendes und sehr gutes Nachwort,
das zu den Gedichten und dem Umfeld hinführt - (dem Herausgeber ist nicht genug
zu danken!). Dazu auch noch die Tatsache, dass viele der Autoren dieses Bandes
(wie auch Blaga) zeitweilig zu Unterdrückten der kommunistischen Diktatur
stalinistischer oder maoistischer Prägung geworden waren: eingesperrt,
weggesperrt, schreib- und publikationsgesperrt.
Ein herausragendes Buch, das wie kaum zuvor das Gesamtphänomen der rumänischen
Nachkriegslyrik analytisch präsentiert, ein Buch, das nach Jahrzehnten
mangelnder Kommunikation zwischen Ost und West endlich die Vitalität der rumänischen
Lyrik international bekannt macht.
Thematische Kraftlinien durchziehen wie ein kompliziertes Nervensystem
den Band. Traditionelle Themen wie Tod oder Transzendenz führen zur freien
Bewegung auf der Zeitachse oder zum unkontrollierten Schweben entlang der
Zeitkoordinaten, wobei fast immer eine Überbrückung der historischen Zeit
angestrebt wird. Autochtone Themen wie etwa das "Mioritische" als
geografischer Raum, der den darin lebenden Menschen und dessen Innenleben formt,
werden zur symbolbeladen Kulisse, zur Landschaft als lyrisches Objekt oder als
Detail auch nur gestreift. Und wichtiger (weil spezifisch) die Satire und
Parodie als Lebensweise und Form der nationalen Selbstdarstellung, die etwa in
I. L. Caragiale einen illustren Vorläufer hatte. Dazu die "mythische Seele",
die aufgrund der historischen Bedingungen einen grundsätzlichen Hass
produziert, nach dem Motto: "Hasse deinen Nächsten wie dich selbst."
Eine sehr gründliche und präzise Analyse dieser thematischen
Koordinaten wird von Dieter Schlesak im Nachwort durchgeführt.
In diesem Rahmen bleibt uns lediglich der Hinweis auf einige wenige zentrale
Gedichte.
Zum Beispiel auf die Wirklichkeitsbewältigung durch Selbstparodie in
Marin Sorescus "Studie":
"Ich kam mir schon lange verdächtig vor,
und gestern heftete ich mich an meine Fersen
und beschattete mich unauffällig den ganzen Tag.
Nun gut, ich bin weit gefährlicher,
als ich dachte ..." (Seite 50)
Oder Ana Blandianas feinsinnigen poetischen Resignationen aus "Im
Schlaf":
"... es geschieht mir, dass ich im schlaf
aufschreie,
nur im schlaf.
ich erwache und bin erschrocken
über so viel mut
in der stille der disziplinierten nacht,
und ich versuche es, den schrei
des ruhenden nachbarn abzuhören ..."(Seite 64),
und das berühmte "Ich glaube":
Ich glaube wir sind ein Volk von Pflanzen
Wie anders könnten wir sonst ruhig
auf unsere Entlaubung warten?
Würden wir sonst den Mut haben
wie im Schlaf auf einer Rutsche
fast bis in den Tod zu gleiten
mit der Gewissheit
dass es ein leichtes sein wird
noch einmal geboren zu werden ...
Ich glaube wir sind ein Volk von Pflanzen.
Wer hat schon einen Baum gesehen
der sich aufbäumt?" (Seite 74).
Mircea lvanescu ("Rufe über den Wolf") bewältigt das Obskure
und Geheimnisvolle der Wirklichkeit, indem er es potenziert:
"Wie alles vergolten wird ... Immer wieder sagte ich,
wenn ich an einen Tisch trat, an dem mehrere saßen
und mich erwarteten oder
mich teilnahmslos hinnahmen - ich sagte:
"Welches Leid", Manche lachten. Ich selbst
wusste ja nicht recht, was ich sprach, bloß soviel:
In der Nacht, als ich mich an den Augenblick erinnerte,
da ich seine gespannten Züge gewahrte und
die in einer fremden Sprache vorgebrachten Worte hörte, mit den
gleichen Silben, die beharrlich an meine Schläfe hämmerten,
und das Gesicht anstarrte, wissend,
im Gedächtnis wird die gleiche Folge der Worte
und Mienen ausgelöst: in jener Nacht
ermaß ich, wie groß dieses Leiden ist." (Seite 11)
Nichita Stanescus "Lied" konzentriert die Realität auf einen
einzigen Augenblick, dessen Intensität ins Metaphysische hinführt:
Nur dieser Augenblick hat ein Erinnern.
Was wirklich war, weiß keiner mehr.
Die Toten tauschen unter sich zur Zeit
die Namen, die Zahlen, eins, zwei, drei...
Nur noch was sein wird, ist,
und was noch nie geschehen
hängt an dem Aste eines Baumes,
zart, ungeboren, wie Geister entstehen.
Es gibt nur meinen hölzernen Leib,
und nichts mehr, nur noch Alter, Stein
Und meine Traurigkeit, sie hört
die ungebornen Hunde bellen.
Die angekläfften Niegebornen,
oh, nur noch diese werden sein!
Wir, die Bewohner dieses Augenblicks,
sind nichts als ein Mitternachtstraum.
und da mit ungezählten Füßen." (Seite 311)
Noch ein Wort über die scheinbare Lust einiger Übersetzer am Verdrehen,
Aussparen oder "kreativen Ergänzen" (eine Prozedur, die wir auch im
Fall von Gellu Naums "Rede auf dem Bahndamm zu den Steinen" als
ziemlich irritierend empfanden).
In Mircea Dinescus Gedicht "Rede anlässlich der Aufnahme eines östlichen
Landes in Europa" (das auch im Original abgedruckt ist - Seite 172/173)
steht sinngemäß: ".... ab morgen werdet ihr mich schwerer aus der Kneipe
herausholen als Shakespeare aus der Encyclopaedia Britannica" und leider
nicht ".... ab morgen kriegt Ihr Shakespeare aus der Encyclopaedia
Britannica leichter heraus als mich aus der Kneipe". "Hotul rusinat"
ist leider nicht ein "reuiger Dieb", "bunul Dumnezeu" nicht
Gott schlechthin (sondern eher der "liebe Gott"), "uitati linga
sura" konnten wir in der deutschen Fassung leider nicht wiederfinden,
"musafirii" (allein) sind keineswegs der "hohe Besuch" usw. usf.
Das Übersetzen von Gedichten kann manchmal ein riskantes Geschäft sein.
(Georg Quante)
Dieter Schlesak: "Gefährliche Serpentinen"
Gedicht-Anthologie.
Rumänische Lyrik der Gegenwart, ausgewählt,
herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Dieter Schlesak. Übertragen
von Werner Söllner, Oskar Pastior, Ernst Wichner, Gerhard Csejka, Lioba Happel,
Rolf Bossert, William Totok, Franz Hodjak, Anemone Latzina, Joachim Wittstock,
Dieter Schlesak und vielen anderen, mit Zeichnungen von Pomona Zipser.
Druckhaus Galrev, 1998. 421 Seiten.
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