Norman Manea: "Der
schwarze Briefumschlag"
Symbole, Surrogate und unsichtbare Netze
Die aus einer Laune heraus intensivierte
Suche nach der subjektiven Wirklichkeit im kollektiven Labyrinth aus Mauern des
Vertuschens und des Schweigens, hinter tausend Schleiern verborgen, blind
geworden von jahrzehntealten Lügen, treibt die Hauptfigur in einem
unheilschwangeren Frühling durch Maneas Roman: Anantol Dominíc Váncea Voinóv
brütet über seinen Vermutungen hinsichtlich der dunklen Geheimnisse, die sich
um den Tod seines Vaters ranken. War es Mord, wie er glaubt? Oder hat sein
Vater Selbstmord begangen, wie es offiziell verlautbart wurde? Lange zurück
liegende Ereignisse rund um eine unglückliche Liebschaft und einen
erpresserischen Brief umrahmen ein, trotz oder vielleicht gerade wegen
gelegentlicher greller Lichteinfälle, fassbar düster-vernebelt bleibendes Bild
der Personen und Zustände im Bukarest der 1980´er Jahre, vor dem Umsturz, in
einer Umgebung, wo Spitzeldienste, Verleumdungen, hintergründige Falschheit
häufig und Ehrlichkeit, Wahrheit und loyale Freundschaft selten sind und
überdies Kriterien von begrenzter Haltbarkeit darstellen. Der vorhin benutzte
Ausdruck "düster-vernebelt" bezieht sich jedoch ausschließlich auf
die rein oberflächlichen Äußerlichkeiten des Dargestellten, die sichtbaren
Hüllen, nicht auf die einzelnen Charaktere, denn diese zeichnet Manea mit
beeindruckender, geradezu beengender Detailgenauigkeit, mit ihren individuellen
Stärken und Schwächen, die anhand von Rückschlüssen und Andeutungen, kaum
jemals durch tatsächliche Aussagen oder gar Handlungen offenbar werden. Wie überhaupt
zu betonen ist, dass Manea sich keineswegs in Gejammer über die schlechten
Zustände - (Nahrungsmittelengpässe, mangelhafte Energieversorgung, Zensur) -
ergeht, sondern eben diese äußerlichen Widrigkeiten in Summe die Kulissen auf
der abgedunkelten Bühne für seine Figuren darstellen, deren jeweiliges
schillerndes Innenleben den Roman insgesamt zum Leuchten bringt und zu einem
besonderen Leseerlebnis macht.
So trinken seine "Ersatz"Menschen
Kaffeeersatz und tummeln sich in den Grenzen einer Ersatzgemeinschaft. Da gibt
es den bereits erwähnten Professor
Anatol Dominíc Váncea Voinóv, genannt Tólea, der seine schwarze Kleidung wie eine Rüstung trägt, dessen
Schicksal nach einem unglückseligen Zwischenfall besiegelt ist, dessen Bruder
nach Argentinien ausgewandert ist, und dessen Vater, Marcu, ein an der Sorbonne
promovierter Filosof, sein Leben als Weinhändler - und unter höchst seltsamen
Umständen - beendet hat.
Matei Gaftón, bei dem Tólea zur Untermiete wohnt, ein ehemaliger Journalist,
verbringt den Großteil seiner Zeit in Bibliotheken und verfasst
Beschwerdebriefe, die er, so er sie nicht umgehend vernichtet, an Behörden und
die Presse schickt. Seine Frau Vetúria erteilt ausländischen Studenten
Privatstunden und sammelt "Trophäen vom Transit; Surrogate, verderblichen
Ramsch des planetaren Jahrmarkts". Dr. Marga, der Arzt mit dem Glasauge,
leitet eine Nervenheilanstalt. Und nicht zu vergessen die GESELLSCHAFT, der
Musterverein, dessen Vorsitzender der Genosse Orest Popescu ist. An ihn
gerichtete Spitzelberichte durchziehen den Roman; jede Figur ist ein
beobachteter Beobachter, ein verleumdeter Verleumder.
Ein Ereignis beschäftigt die Bewohner
Bukarests in diesem belasteten Frühling besonders:
Eine Frau wurde von einem Schlägertrupp in ihren eigenen vier Wänden überfallen
und misshandelt, ihre Haustiere wurden allesamt getötet und die Wohnung in
Brand gesteckt ...
Auf der riskanten Suche nach den Mördern seines Vaters irrt und strebt Anatol
Dominíc Váncea Voinóv durch die Wirren des rumänischen Alltags zur Zeit der
Ceauçescu-Diktatur, führt den Leser durch seine Welt der flüchtigen Begegnungen
im starren Rahmen seiner peinlich genauen individuellen Alltagsroutine. Der
ehemalige Professor musste seinen Beruf infolge eines fatalen Missgeschicks
aufgeben; seither versieht er Dienst als Portier in einem verrufenen Hotel und
versucht, seine Bekannten in schier endlosen Monologen für allerlei sonderbare
Theorien zu begeistern.
Manea beherrscht das Kunststück, durch
Momentaufnahmen inhaltliche Dichte ohne sprachliche Schwere zu erschaffen; eine
elegante Dichte, die den Leser nicht erdrückt, sondern bezaubert und genug Raum
für eigene Schlussfolgerungen belässt. Ein intensives Meisterwerk der rumänischen
Literatur, das der Autor nach Ende der Ceauçescu-Diktatur überarbeitete, und
dessen Bedeutung weit über jene eines Zeitdokumentes hinausreicht.
Norman Manea wurde 1936 in der
Bukowina geboren, 1941 mit seiner Familie
deportiert. Er überlebte das Vernichtungslager und emigrierte in die USA.
(kre)
Norman Manea: "Der schwarze
Briefumschlag"
Roman. Aus dem Rumänischen von Paul Schuster.
Gebundene Ausgabe: Hanser, 1995. 352 Seiten.
ISBN 3-446-18292-6.