(...) »Es ist gewiß etwas sehr Geheimnisvolles
in den Wolken«, sagte Sylvester, »und eine gewisse Bewölkung hat oft einen ganz
wunderbaren Einfluß auf uns. Sie ziehn und wollen uns mit ihrem kühlen Schatten
auf und davon nehmen und wenn ihre Bildung lieblich und bunt, wie ein ausgehauchter
Wunsch unsers Innern ist, so ist auch ihre Klarheit, das herrliche Licht, was
dann auf Erden herrscht, wie die Vorbedeutung einer unbekannten, unsäglichen
Herrlichkeit. Aber es gibt auch düstre und ernste und entsetzliche Umwölkungen,
in denen alle Schrecken der alten Nacht zu drohen scheinen. Nie scheint sich
der Himmel wieder aufheitern zu wollen, das heitre Blau ist vertilgt und ein
fahles Kupferrot auf schwarzgrauem Grunde weckt Grauen und Angst in jeder Brust.
Wenn dann die verderblichen Strahlen herunterzucken und mit höhnischem Gelächter
die schmetternden Donnerschläge hinterdreinfallen, so werden wir bis ins Innerste
beängstigt, und wenn in uns dann nicht das erhabne Gefühl unsrer sittlichen
Obermacht entsteht, so glauben wir den Schrecknissen der Hölle, der Gewalt böser
Geister überliefert zu sein.
Es sind Nachhalle der alten unmenschlichen Natur, aber auch weckende Stimmen
der höhern Natur, des himmlischen Gewissens in uns. Das Sterbliche dröhnt in
seinen Grundfesten, aber das Unsterbliche fängt heller zu leuchten an und erkennt
sich selbst.«
»Wann wird es doch«, sagte Heinrich, »gar keiner Schrecken, keiner Schmerzen,
keiner Not und keines Übels mehr im Weltall bedürfen?«
»Wenn es nur Eine Kraft gibt - die Kraft des Gewissens - Wenn die Natur züchtig
und sittlich geworden ist. Es gibt nur Eine Ursache des Übels - die allgemeine
Schwäche, und diese Schwäche ist nichts, als geringe sittliche Empfänglichkeit,
und Mangel an Reiz der Freiheit.«
»Macht mir doch die Natur des Gewissens begreiflich.«
»Wenn ich das könnte, so wär ich Gott, denn indem man das Gewissen begreift,
entsteht es. Könnt Ihr mir das Wesen der Dichtkunst begreiflich machen?«
»Etwas Persönliches läßt sich nicht bestimmt abfragen.«
»Wie viel weniger also das Geheimnis der höchsten Unteilbarkeit. Läßt
sich Musik dem Tauben erklären?«
»Also wäre der Sinn ein Anteil an der neuen durch ihn eröffneten Welt selbst?
Man verstünde die Sache nur, wenn man sie hätte ?«
»Das Weltall zerfällt in unendliche, immer von größern Welten wieder befaßte
Welten. Alle Sinne sind am Ende Ein Sinn. Ein Sinn führt wie Eine Welt allmählich
zu allen Welten. Aber alles hat seine Zeit, und seine Weise. Nur die Person
des Weltalls vermag das Verhältnis unsrer Welt einzusehn. Es ist schwer zu sagen,
ob wir innerhalb der sinnlichen Schranken unsers Körpers wirklich unsre Welt
mit neuen Welten, unsre Sinne mit neuen Sinnen vermehren können, oder ob jeder
Zuwachs unsrer Erkenntnis, jede neuerworbene Fähigkeit nur zur Ausbildung unsers
gegenwärtigen Weltsinns zu rechnen ist.«
»Vielleicht ist beides Eins«, sagte Heinrich. »Ich weiß nur so viel, daß für
mich die Fabel Gesamtwerkzeug meiner gegenwärtigen Welt ist. Selbst das Gewissen,
diese Sinn und Welten erzeugende Macht, dieser Keim aller Persönlichkeit, erscheint
mir, wie der Geist des Weltgedichts, wie der Zufall der ewigen romantischen
Zusammenkunft, des unendlich veränderlichen Gesamtlebens.«
»Werter Pilger«, versetzte Sylvester, »das Gewissen erscheint in jeder ernsten
Vollendung, in jeder gebildeten Wahrheit. Jede durch Nachdenken zu einem Weltbild
umgearbeitete Neigung und Fertigkeit wird zu einer Erscheinung, zu einer Verwandlung
des Gewissens. Alle Bildung führt zu dem, was man nicht anders, wie Freiheit
nennen kann, ohnerachtet damit nicht ein bloßer Begriff, sondern der schaffende
Grund alles Daseins bezeichnet werden soll. Diese Freiheit ist Meisterschaft.
Der Meister übt freie Gewalt nach Absicht und in bestimmter und überdachter
Folge aus. Die Gegenstände seiner Kunst sind sein, und stehn in seinem Belieben
und er wird von ihnen nicht gefesselt oder gehemmt. Und gerade diese allumfassende
Freiheit, Meisterschaft oder Herrschaft ist das Wesen, der Trieb des Gewissens.
In ihm offenbart sich die heilige Eigentümlichkeit, das unmittelbare Schaffen
der Persönlichkeit, und jede Handlung des Meisters ist zugleich Kundwerdung
der hohen einfachen, unverwickelten Welt - Gottes
Wort.«
»Also ist auch das was ehemals, wie mich däucht, Tugendlehre genannt wurde,
nur die Religion, als Wissenschaft, die sogenannte Theologie
im eigentlichsten Sinn? Nur eine Gesetzordnung, die sich zur Gottesverehrung
verhält, wie die Natur zu Gott? Ein Wortbau, eine Gedankenfolge, die die Oberwelt
bezeichnet, vorstellt und sie auf einer gewissen Stufe der Bildung vertritt?
Die Religion für das Vermögen der Einsicht und des Urteils, der Richtspruch,
das Gesetz der Auflösung und Bestimmung aller möglichen Verhältnisse eines persönlichen
Wesens?«
»Allerdings ist das Gewissen«, sagte Sylvester,
»der eingeborne Mittler jedes Menschen. Es vertritt die Stelle Gottes auf Erden,
und ist daher so Vielen das Höchste und Letzte. Aber wie entfernt war die bisherige
Wissenschaft, die man Tugend- oder Sittenlehre nannte, von der reinen Gestalt
dieses erhabenen, weitumfassenden persönlichen Gedankens. Das Gewissen ist der
Menschen eigenstes Wesen in voller Verklärung, der himmlische Urmensch. Es ist
nicht dies und jenes, es gebietet nicht in allgemeinen Sprüchen, es besteht
nicht aus einzelnen Tugenden. Es gibt nur Eine Tugend - den reinen, ernsten
Willen, der im Augenblick der Entscheidung unmittelbar sich entschließt und
wählt. In lebendiger, eigentümlicher Unteilbarkeit bewohnt es und beseelt es
das zärtliche Sinnbild des menschlichen Körpers, und vermag alle geistigen Gliedmaßen
in die wahrhafteste Tätigkeit zu versetzen.«
»O! trefflicher Vater«, unterbrach ihn Heinrich, »mit welcher Freude erfüllt
mich das Licht, was aus Euren Worten ausgeht. Also ist der wahre Geist der Fabel
eine freundliche Verkleidung des Geistes der Tugend, und der eigentliche Zweck
der untergeordneten Dichtkunst, die Regsamkeit des höchsten, eigentümlichsten
Daseins. Eine überraschende Selbstheit ist zwischen einem wahrhaften Liede und
einer edeln Handlung. Das müßige Gewissen in einer glatten, nicht widerstehenden
Welt wird zum fesselnden Gespräch, zur alleserzählenden Fabel. In den Fluren
und Hallen dieser Urwelt lebt der Dichter, und die Tugend ist der Geist seiner
irdischen Bewegungen und Einflüsse. So wie diese die unmittelbar wirkende Gottheit
unter den Menschen und das wunderbare Widerlicht der höhern Welt ist, so ist
es auch die Fabel. Wie sicher kann nun der Dichter den Eingebungen seiner Begeisterung
oder wenn auch er einen höhern überirdischen Sinn hat, höherer Wesen folgen
und sich seinem Berufe mit kindlicher Demut überlassen. Auch in ihm redet die
höhere Stimme des Weltalls und ruft mit bezaubernden Sprüchen in erfreulichere,
bekanntere Welten. Wie sich die Religion zur Tugend verhält, so die Begeisterung
zur Fabellehre, und wenn in heiligen Schriften die Geschichten der Offenbarung
aufbehalten sind, so bildet in den Fabellehren das Leben einer höhern Welt sich
in wunderbarentstandnen Dichtungen auf mannigfache Weise ab. Fabel und Geschichte
begleiten sich in den innigsten Beziehungen auf den verschlungensten Pfaden
und in den seltsamsten Verkleidungen, und die Bibel
und die Fabellehre
sind Sternbilder Eines Umlaufs.«
»Ihr redet völlig wahr«, sagte Sylvester, »und nun wird es Euch wohl begreiflich
sein, daß die ganze Natur nur durch den Geist der Tugend besteht und immer beständiger
werden soll. Er ist das allzündende, allbelebende Licht innerhalb der irdischen
Umfassung. Vom Sternhimmel, diesem erhabenen Dom des Steinreichs, bis zu dem
krausen Teppich einer bunten Wiese wird alles durch ihn erhalten, durch ihn
mit uns verknüpft, und uns verständlich gemacht, und durch ihn die unbekannte
Bahn der unendlichen Naturgeschichte bis zur Verklärung fortgeleitet.« (...)
(aus "Heinrich
von Ofterdingen" von Novalis)
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