Immanuel Kant starb am 12. Februar 1804 um 11 Uhr vormittags, weniger als zwei
Monate vor seinem 80. Geburtstag. Zwar war er immer noch berühmt, aber die deutschen
Denker waren mit dem Versuch beschäftigt, über seine kritische Philosophie "hinauszugelangen".
Er war nahezu bedeutungslos geworden. Seinen letzten wichtigen Beitrag zur philosophischen
Diskussion hatte er fast fünf Jahre zuvor geleistet. Das war die offene "Erklärung
in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre" vom 7. August 1799. Darin hatte
er unmissverständlich seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass alle neueren
philosophischen Entwicklungen mit seiner kritischen Philosophie kaum etwas zu
tun hatten, dass er "Fichtes Wissenschaftslehre für ein gänzlich unhaltbares
System halte" und dass er ganz und gar nicht geneigt sei, an der "Metaphysik
nach Fichtes Prinzipien" teilzunehmen. Indem er die Philosophen dazu drängte,
über seine kritische Philosophie nicht "hinauszugehen", sie vielmehr nicht nur
als sein eigenes letztes Wort, sondern auch als das letzte Wort über metaphysische
Fragen schlechthin ernstzunehmen, verabschiedete er sich praktisch von der philosophischen
Bühne. Von ihm war nichts mehr, jedenfalls nichts anderes zu erwarten. Die deutsche
Philosophie und mit ihr die Philosophie Europas insgesamt schlug eine Bahn ein,
die er nicht gutheißen konnte. Doch diese Entwicklungen hatten mit dem Sterbenden
in Königsberg kaum etwas zu tun. Manche sagten, er habe seine Zeit überlebt,
aber er war nicht mehr an ihnen interessiert.
"Der große Kant ist denn auch wie der kleinste Mensch gestorben, aber so sanft
und still, dass die bei ihm Stehenden nichts als das Ausbleiben des Atems bemerkten."
Sein Tod war der Schlusspunkt einer schrittweisen und sich über einen langen
Zeitraum hinziehenden Verschlechterung seiner geistigen und körperlichen Verfassung,
die im Jahre 1799, wenn nicht schon früher, eingesetzt hatte. Kant selbst sagte
1799 zu einigen seiner Freunde: "Meine Herren, ich bin alt und schwach, Sie
müssen mich wie ein Kind betrachten." Scheffner hatte es schon Jahre vor Kants
Tod für erforderlich gehalten zu betonen, dass alles, was ihn zu dem Genie gemacht
hatte, welches er war, verschwunden war, und er sprach von dem "langentkanteten
Kant". Insbesondere in seinen letzten beiden Jahren waren keine Anzeichen seines
einst so großen Geistes mehr wahrzunehmen.
Sein Leichnam war so vollständig
ausgetrocknet, dass er wie ein Skelett aussah, "das man aufstellen könnte".
Eigenartigerweise fand genau dies statt. In den darauffolgenden beiden Wochen
wurde der tote Kant zu einem öffentlichen Schauobjekt. Die Menschen standen
Schlange, um ihn zu sehen, bis er dann 16 Tage später begraben wurde. Das Wetter
war das Hauptproblem. Es war sehr kalt in Königsberg, und der Boden war so hart
gefroren, dass es unmöglich war, ein Grab auszuheben - so als weigerte sich
die Erde, das aufzunehmen, was von dem großen Manne übrig war. Doch angesichts
des Zustands der Leiche sowie des großen Interesses der Königsberger Bürger
an ihrer toten Berühmtheit gab es schließlich auch keinen Grund zur Eile.
Das Begräbnis selbst war eine feierliche und großartige Angelegenheit. Eine
große Menschenmenge hatte sich versammelt. Zahlreiche Königsberger Bürger, von
denen die meisten Kant entweder nicht sehr gut oder überhaupt nicht gekannt
hatten, kamen, um zu sehen, wie der berühmte Philosoph zur letzten Ruhe gebettet
wurde. Die auf den Tod Friedrichs II. geschriebene Kantate hatte man für Kant
umgeschrieben: der größte preußische Philosoph wurde mit Musik geehrt, die für
den größten preußischen König geschrieben war. Ein langer Zug folgte dem Sarg,
und von allen Königsberger Kirchen läuteten die Glocken. Das muss den
meisten Königsberger Bürgern angemessen erschienen sein. Scheffner, Kants ältestem
noch lebenden Freund, "gefiel [es] sehr gut", und Gleiches galt für die Mehrzahl
der Königsberger. Seit 1701 war ihre Stadt zwar nicht mehr die politische Hauptstadt
Preußens, aber in den Augen vieler Königsberger war sie die intellektuelle Hauptstadt
des Landes, wenn nicht der Welt.
Kant war einer der bedeutendsten Bürger der Stadt gewesen. Er war ihr "Philosophenkönig",
auch wenn die Philosophen außerhalb von
Königsberg sich nach einem anderen König
umsahen.
Am Tage des Begräbnisses war es immer noch bitter kalt; doch wie so oft an Wintertagen
in Königsberg war das Wetter auch wunderbar klar. Scheffner schrieb etwa einen
Monat später an einen Freund:
Sie glauben nicht, was in meiner ganzen Existenz für ein Schauer sich ereignete,
als man die ersten großen gefrorenen Erdklöße auf den Sarg warf - es tönt mir
noch in Kopf und Herzen.
Was Scheffner erbeben ließ, war nicht nur die Kälte. Und es war auch nicht bloß
die Angst vor seinem eigenen Tode, die der hohle Klang der gefrorenen Erdklumpen,
welche auf den nahezu leeren Sarg fielen, erweckt haben mochte. Der Schauer,
der noch Tage und Wochen in seinem Kopf anhielt, hatte tiefere Gründe. Kant,
der Mann, war für immer fort. Die Welt war kalt, und es gab keine Hoffnung -
nicht für Kant, und vielleicht für keinen von uns. Scheffner wusste nur zu gut,
dass Kant davon überzeugt gewesen war, nach dem Tode sei nichts zu erwarten.
Mochte er auch in seiner Philosophie die Hoffnung auf ein ewiges Leben und eine
künftige Existenz hochgehalten haben, in seinem Privatleben hatten ihn solche
Ideen kalt gelassen. Scheffner hatte häufig gehört, wie sich Kant verächtlich
über Gebete und andere religiöse Praktiken äußerte. Die organisierte Religion
erfüllte ihn mit Zorn. Jedem, der Kant persönlich kannte, war klar, dass ihm
der Glaube an einen persönlichen Gott fremd war. Gott und Unsterblichkeit hatte
er zwar postuliert, glaubte aber selbst an keines von beiden. Seine feste Überzeugung
war, dass derartige Glaubensvorstellungen lediglich eine Sache des "individuellen
Bedürfnisses" seien. Kant selbst empfand kein derartiges Bedürfnis.
Scheffner hingegen, ein Bürger Königsbergs, der fast ebenso berühmt war wie
Kant, hatte ganz eindeutig ein solches Bedürfnis. Er, der zum Zeitpunkt von
Kants Tod einer der achtbarsten und geachtetsten Bürger der Stadt war, betrachtete
sich als guten Christen, und wahrscheinlich war er das auch. Scheffner war ein
frommes, wenn auch nicht streng orthodoxes Mitglied seiner Gemeinde, und er
war glücklich verheiratet. Seine
Frömmigkeit war nicht immer selbstverständlich
gewesen. In seinen frühesten Jahren war er als Dichter durchaus berühmt oder
vielleicht besser gesagt berüchtigt geworden. Ja, man erinnerte sich an ihn
immer noch als den (anonymen) Verfasser eines Bandes mit erotischen Gedichten
in französischer Manier, der etwa 40 Jahre zuvor einiges Aufsehen erregt hatte.
Nach Ansicht vieler gehörten diese Gedichte zu den obszönsten Versen, die je
auf deutsch geschrieben worden waren. Kants Ruf als Ungläubiger konnte in noch
höherem Maße einen Schatten auf Scheffners eigenen Ruf werfen. Darüber hinaus
musste er sich Gedanken über Kants unsterbliche Seele machen. Als Freund nahm
er Kant ernst. Überrascht es daher, dass sich diese Zweifel nicht nur über die
Zeremonie des Begräbnisses von Kant, sondern auch über Scheffners Leben schlechthin
legten?
Einige der rechtschaffeneren Christen in Königsberg hielten es für erforderlich,
der Beerdigung gänzlich fernzubleiben. So blieb Ludwig Ernst Borowski, ein hoher
Amtsträger der lutherischen Kirche Preußens, einer der ersten Studenten Kants
und gelegentlicher Tischgast in Kants letzten Jahren, ein Mann, den viele als
Kants Freund ansahen, zu Hause - sehr zu Scheffners Bestürzung. Doch Borowski
verfolgte noch höhere Karriereziele. Da er sich nur zu gut darüber im klaren
war, welch zweifelhaften Ruf Kant bei den Regierenden, auf die es wirklich ankam,
genoss, hatte er das Gefühl, es sei besser, an der Beerdigung nicht teilzunehmen.
Zwar nicht gegenüber Kants moralischem Charakter, aber doch gegenüber seinen
philosophischen und politischen Ansichten hatte er erhebliche Vorbehalte, und
er tat, was er für das Diplomatischste hielt.
Am Tage nach Kants Tod veröffentlichten die Königlich Preußischen Staats-,
Kriegs- und Friedens-Zeitungen eine Notiz, in der es unter anderem hieß:
Heute Mittags um 11 Uhr starb hier an völliger Entkräftung im 80sten Jahre seines
Alters Immanuel Kant. Seine Verdienste um die Revision der spekulativen Philosophie
kennt und ehrt die Welt. Was ihn sonst auszeichnete, Treue, Wohlwollen, Rechtschaffenheit,
Umgänglichkeit - dieser Verlust kann nur an unserem Orte ganz empfunden werden,
wo also auch das Andenken des Verstorbenen am ehrenvollsten und dauerhaftesten
sich erhalten wird.
(…)
Philosophenbiografien sind schwer zu schreiben. Sie müssen einen Mittelweg zwischen
der Wiedergabe der biografischen Details und der Diskussion des philosophischen
Werkes finden. Sie dürfen weder zu einer bloßen Schilderung der äußeren Lebensumstände
des Philosophen noch zu einer bloßen Zusammenfassung oder allgemeinen Erörterung
seiner Bücher werden. Wenn sich eine Biografie allzu sehr auf die Zufälle konzentriert,
die das Leben des Beschriebenen ausmachen, dann wird sie vielleicht banal und
langweilig (und sei es nur deshalb, weil Philosophen gewöhnlich kein aufregendes
Leben geführt haben - und führen). Konzentriert sich eine Biografie zu sehr
auf das Werk, dann kann sie leicht aus einem anderen Grunde langweilig werden.
Die Schriften der meisten Philosophen eignen sich nicht zu oberflächlicher Zusammenfassung
oder allgemeiner Erörterung. Auf jeden Fall ist es äußerst unwahrscheinlich,
dass eine solche summarische Behandlung des Lebenswerks eines Philosophen in
signifikanter Weise etwas zur philosophischen Diskussion beitragen würde. Im
Idealfall wäre eine Biografie irgendeines beliebigen Philosophen sowohl philosophisch
als auch historisch interessant und würde die Lebensgeschichte des Philosophen
mit einer philosophisch interessanten Betrachtung seines Werkes verbinden.
Auch wenn sowohl das Leben als auch das Denken behandelt werden müssen, kann
das doch nicht heißen, dass man diesen beiden verschiedenen Zielsetzungen einfach
dasselbe Gewicht einräumen sollte. Die Dinge liegen komplizierter. Eine Biografie
muss beide Aspekte irgendwie miteinander verbinden. Sie muss deutlich machen,
wie Leben und Denken eines Philosophen miteinander zusammenhängen. Es ist zwar
eine schwierige und vielleicht unlösbare Aufgabe zu beweisen, weshalb ein bestimmter
Philosoph die Anschauungen vertrat, die er vertrat, und die Bücher schrieb,
die er schrieb, aber jede Biografie, die auf diese Frage überhaupt nicht eingeht,
wird wahrscheinlich nur von beschränktem Interesse sein. Es sieht so aus, als
sei die Biographie Kants besonders schwierig zu schreiben. Sein Leben war das
eines typischen Universitätsprofessors im Deutschland des 18. Jahrhunderts.
Sein philosophisches Werk ist so kompakt, so schwer verständlich und fachlich,
dass es schwierig ist, es dem Durchschnittsleser näherzubringen. Das sieht wie
eine tödliche Kombination aus. Außerdem stellte Kant selbst seine Werke unter
das Motto de nobis ipsis silemus ("über uns selbst schweigen wir"). Ihm
ging es um philosophische Wahrheit, und er wollte dafür bekannt werden, dass
er philosophische Wahrheiten vorgetragen hatte. Das hat auch Folgen für seine
Biografie. Es gibt kein Tagebuch; die Details über sein Leben sind spärlich.
Man muss sie aus dem zusammensuchen, was er durch Zufall durchsickern ließ,
und aus den Erinnerungen derer, die ihm am nächsten standen. Das sind größtenteils
Erinnerungen älterer Leute an den älteren Kant.
Kant hatte durchaus ein Leben. Gewiss lebte er in einem isolierten Teil Preußens
und unternahm keine aufregenden Reisen, es gibt keine großen Abenteuer zu erzählen,
und ein großer Teil seines Lebens lässt sich durch sein Werk zusammenfassen,
aber dessen ungeachtet gibt es eine überaus interessante und vielleicht sogar
aufregende Geschichte zu erzählen. Das ist die Geschichte von Kants intellektuellem
Leben, wie es sich nicht nur in seinem Werk, sondern auch in seinen Briefen,
seiner Lehre und seinem Umgang mit seinen Zeitgenossen in Königsberg und dem
übrigen Deutschland widerspiegelt. Selbst wenn das Leben Kants bis zu einem
gewissen Grade typisch für einen deutschen Intellektuellen des 18. Jahrhunderts
war, ist es gerade deshalb von historischer Bedeutung, weil es so typisch war.
Die Unterschiede und Ähnlichkeiten seines Lebens im Vergleich zu dem seiner
Kollegen an anderen protestantischen Universitäten wie Marburg, Göttingen und
anderswo in Deutschland können interessante Perspektiven eröffnen, um nicht
nur den Menschen zu verstehen, sondern auch die Zeit, in der er lebte.
Das Leben Kants umfasste nahezu das gesamte 18. Jahrhundert. In seine Erwachsenenjahre
fielen einige der bedeutsamsten Veränderungen der abendländischen Welt - Wandlungen,
die auch heute noch nachwirken. Das war die Epoche, in der die Welt, wie wir
sie heute kennen, entstand. Zwar stand Königsberg nicht im Mittelpunkt irgendeiner
der bedeutsamen Bewegungen, die zu unserer Welt geführt haben, aber diese Bewegungen
bestimmten doch weitgehend das intellektuelle Milieu Königsbergs. Die Philosophie
Kants war in erheblichem Maße Ausdruck dieser Wandlungsprozesse und eine Reaktion
auf sie. Sein intellektuelles Leben spiegelte den größten Teil der bedeutenden
intellektuellen, politischen und wissenschaftlichen Entwicklungen der damaligen
Zeit wider. Seine Anschauungen sind Reaktionen auf das kulturelle Klima der
damaligen Zeit. Englische und französische Philosophie, Naturwissenschaft, Literatur,
Politik und Manieren bildeten den Stoff seiner Tagesgespräche. Selbst so relativ
ferne Ereignisse wie die Amerikanische und die Französische Revolution übten
auf Kant und damit auch auf sein Werk eine deutliche Wirkung aus. Seine Philosophie
muss in diesem globalen Kontext gesehen werden.
Doch der Rahmen, in dem Kant die folgenschweren Entwicklungen erfuhr, die sich
im 18. Jahrhundert abspielten, war eindeutig deutsch, ja preußisch. Manchmal
ist es beinahe erschreckend, wenn man feststellt, wie viel von seiner intellektuellen
Entwicklung durch äußere Kräfte diktiert war. So entwickelte sich Kants philosophisches
Frühwerk als eine Reihe von Antworten auf die philosophischen Preisaufgaben,
welche die Berliner Akademie gestellt hatte. Es ist ebenso schwierig, den frühen
Kant zu verstehen, ohne sein Verhältnis zum Sturm und Drang und zum Geniekult
zu erörtern, wie der späte Kant schwer zu begreifen wäre, ohne die Kontroverse
zu berücksichtigen, die sich mit dem sogenannten Pantheismusstreit verband.
Darüber hinaus war Kant ein Teil des eigentümlichen intellektuellen Milieus
Königsbergs. Er war in dieser Stadt nicht der einzige, der an diesen Veränderungen
interessiert und durch sie beeinflusst war. Hamann, von Hippel, Herder, Herz
und mehrere andere waren - zumindest zum Teil - wegen ihrer Erfahrungen in Königsberg
in der Lage, Beiträge zur deutschen kulturellen Szene zu leisten. Es ist wichtig
zu verfolgen, wie sich die Lebenswege dieser interessanten Menschen kreuzten
und wie Kant durch seinen Umgang mit ihnen geprägt wurde. Zwar wäre es vielleicht
eine Übertreibung, von einer
"Königsberger Aufklärung" zu sprechen, so wie wir
von einer "Berliner Aufklärung" und einer «schottischen Aufklärung» sprechen,
aber es wäre auch nicht völlig unangemessen. Die kritische Philosophie Kants
muss auch in diesem Kontext gesehen werden. So müssen bei der Erörterung von
Kants Leben und Werk alle drei Kontexte - der globale, der regionale und der
lokale - berücksichtigt werden.
In dieser Biografie Kants werden solche Belange ernster genommen werden, als
dies in früheren Lebensbeschreibungen geschehen ist. Mit anderen Worten, dies
wird eine intellektuelle Biographie Kants, welche zeigt, wie Kants intellektuelle
Interessen in seiner Zeit verwurzelt waren. (…) Ohne die Wiedergabe der biografischen
Details von Kants Leben und seiner Werke zu vernachlässigen, werde ich mich
auf die intellektuelle Reise Kants konzentrieren, die ihn von eng umrissenen
Interessen bezüglich der metaphysischen Grundlagen der Newtonschen Physik bis
hin zur philosophischen Verteidigung einer moralischen Einstellung, wie sie
einem aufgeklärten "Weltbürger" zukommt, führte.
Wie Vorländer und Gulyga gedenke ich, Kant so darzustellen, dass er für jemanden
zugänglich ist, der sich in der Kant-Forschung nicht im einzelnen auskennt.
Selbst ein Leser, der mit den Feinheiten der gegenwärtigen philosophischen Diskussion
über Kant oder über Philosophie im allgemeinen nicht vertraut ist, sollte das
Buch lesbar finden. Das Leben Kants ist als solches interessant, und anders
als Vorländer und andere, die in erster Linie den älteren Kant zum Leben erwecken
wollten, werde ich mich eher auf den jüngeren Philosophen konzentrieren, der
das Projekt einer Kritik der reinen Vernunft entwarf. Meine Hoffnung
ist, dass ein vielseitiger Kant zum Vorschein kommen wird, ein Kant, der mehr
wie ein wirklicher Mensch aussieht als der "Mandarin" von Königsberg, wie
Nietzsche
ihn sah.
Aus dem Leben Kants können wir ebensoviel lernen wie aus den Lebensgeschichten
anderer Gestalten des 18. Jahrhunderts - ich denke an
Benjamin Franklin, David
Hume, Friedrich den Großen, Katharina die Große -, deren Lebensgang mit dem
Leben Kants auf verwickelte und manchmal auch nicht so verwickelte Weise verflochten
war. Ja, aus Kants Biografie können wir mindestens ebensoviel lernen wie aus
der Biografie jeder bekannten Persönlichkeit. Vielleicht können wir aus ihr
sogar noch mehr lernen, weil Kants Charakter, wie sich zeigen wird, ganz bewusst
seine eigene Schöpfung sein sollte. Mit
Montaigne und seinen
stoischen
Vorgängern war er sich darüber einig, dass es "unsere Pflicht ist, nicht
Bücher, sondern einen Charakter zu entwerfen und nicht Schlachten und Provinzen,
sondern Ordnung und Ruhe in unserem Verhalten zu gewinnen. Unser großes und
ruhmreiches Meisterwerk besteht darin, angemessen zu leben." Ob Kant sein Leben
"angemessen" geführt hat, ist eine offene Frage; und das macht sein Leben faszinierend
für jeden, der der Meinung ist, dass die Philosophie einen wichtigen Beitrag
zum Verständnis unseres Lebens zu leisten hat.
Ich weiß nicht wirklich, was Biografien für so viele Leser eine derartige Faszination
verleiht. Ist es einfach die Neugier zu wissen, wie die "Berühmten" gelebt haben?
Ist es Voyeurismus, ein unschöner Drang, einen Einblick in die schmutzigen kleinen
Geheimnisse der "Großen" zu bekommen? Ist es Eskapismus, ein Versuch eines stellvertretenden
Lebens, eine Art Romanze für Menschen mit eher intellektuellen Neigungen? Oder
ist es eine Art Versuch, in unserem eigenen Leben Sinn zu finden? Zahlreiche
Selbsthilfebücher sind Zeugnis dafür, dass das Bedürfnis nach einem "erfolgreichen"
Leben weit verbreitet ist. Von erfolgreichen Menschen könnte man meinen, sie
hätten dieses flüchtige Ziel erreicht - und erfolgreiche Philosophen, also Menschen,
die darüber nachgedacht haben, was zum Erfolg führt, könnten mehr zu bieten
haben als die meisten.
Wie Virginia Woolf einmal bemerkt hat, ist es schwierig, wenn nicht unmöglich,
Biografien zu schreiben, weil "Menschen nicht linear sind". Ihr Leben hat keinen
richtigen Erzählungsfaden. Doch genau ein solcher Faden ist es, den Biografen
herzustellen versuchen. Eine Biografie hat einen Anfang, eine Mitte und ein
Ende; und in ihr wird gewöhnlich der Versuch unternommen, Ereignissen einen
Sinn abzugewinnen oder Gründe für sie anzugeben, die möglicherweise nur aufeinander
folgten, ohne irgendwie miteinander zusammenzuhängen. Das Leben mancher Menschen
hat vielleicht wirklich einen Sinn, während es bei anderen so aussieht, als
werde es sinnlos geführt. Ob das Leben eines Menschen Sinn - was immer das heißen
mag - gehabt hat oder nicht, ist eine Frage, die sich zumindest ebenso schwer
beantworten lässt wie die Frage, ob unser eigenes Leben Sinn hat. Letztlich
sind die beiden Fragen miteinander identisch. Deshalb brauchen wir nicht zurückhaltend
zu sein, wenn wir uns, um unserem eigenen Leben einen Sinn abzugewinnen, das
Leben derjenigen ansehen, die uns vorangegangen sind.
Natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass uns das Studium eines bestimmten
Lebens wichtige und lohnende Lektionen vermitteln wird. Ich denke, es wäre ein
Fehler, das eigene Leben nach dem Leben einer historischen Gestalt zu modellieren,
auch wenn viele, die so etwas unternommen haben, dann schließlich eigenständige
historische Gestalten geworden sind. Man kann sich ein Leben nicht so aussuchen,
wie man sich einen Mantel aussucht. Doch es gibt viele Lebensweisen, und Biografien
können uns gewisse Einblicke in ihre möglichen Gefahren und Nutzanwendungen
geben. Das Leben Kants war anders als dasjenige, welches
viele
Romantiker, selbsternannte Nietzscheaner oder andere moderne Abenteurer
geführt haben. Die Entscheidung darüber, ob es attraktiv war oder nicht, muss
ich dem Leser überlassen. Sicher bin ich, dass es interessanter war als die
heute noch im Umlauf befindlichen Karikaturen.
(Aus der Biografie "Kant" von Manfred Kühn.)
Manfred Kühn erzählt in der umfassenden
Biografie des großen Denkers Kants Leben und stellt sein philosophisches Werk
vor. Heinrich Heine hat gespottet, von Immanuel Kant könne niemand eine
Lebensgeschichte schreiben, denn Kant habe weder ein Leben noch eine Geschichte
gehabt. Manfred Kühn räumt mit der Legende von Kants ereignislosem
Professorenleben gründlich auf und zeichnet das Bild eines eleganten und
geistreichen Gentleman, der eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Leben
seiner Heimatstadt Königsberg spielte. Man nannte Kant den "eleganten Magister".
Er war ein ungemein beliebter Universitätslehrer, charmant und kontaktfreudig,
von Freunden umgeben, gern auf Gesellschaften. Die bis zur Karikatur verzerrten
Klischees vom pedantischen Leben Kants treffen allenfalls seine späten Jahre.
Neben dem Portrait von Kants Leben und der Einführung in seine Schriften macht
Manfred Kühns Biografie deutlich, wie sehr das Denken des großen Philosophen von
den wichtigen politischen, kulturellen und intellektuellen Ereignissen seiner
Zeit inspiriert wurde, vom Geniekult des Sturm und Drang, den Schriften David
Humes und Rousseaus bis zu den Ideen der
Französischen Revolution. Sie stellt
Kollegen und Freunde Kants vor, Gegner und Konkurrenten, und natürlich auch den
Diener Martin Lampe. Manfred Kühn bietet ein differenziertes Bild von Kants
Leben, seinem Denken und seiner Zeit.
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Weiterer Buchtipp:
Manfred
Geier: "Kants Welt"
Im Jahr 1804 starb der "Gelehrte von Zwerggröße", wie
sich der 1,57 m große Mann übrigens selbst nannte, der sein Leben der Aufklärung
gewidmet, die kritische Philosophie erfunden und den
kategorischen
Imperativ aufgestellt hatte.
Immanuel Kant war ein Titan der Geisteswelt.
Sein Leben freilich gilt als wenig ereignisreich, sein Werk als schwer
verständlich. Manfred Geier versteht es meisterhaft, die Lebensgeschichte dieses
weltweisen und menschenklugen Philosophen mit dessen wichtigsten Werken zu
verbinden, die einen Höhepunkt in der Geschichte des modernen Denkens und
Handelns bilden. Nahezu alle großen geistigen und politischen Herausforderungen,
mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, sind von Kant bereits deutlich
formuliert worden - vom Problem des Friedens über die Grenzen des Sagbaren und
Denkbaren bis zu den Ansprüchen religiöser und esoterischer Glaubensformen.
Diese Aktualität nachvollziehbar zu machen ist das wichtigste Anliegen von
"Kants Welt".
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