Imaginationen des Bösen
Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie
Wenn der Pädagoge A. nach Anhörung eines Vortrags über Kleists Selbstmord als
imaginatives Projekt meint, diese Katastrophe müsse doch vom Vortragenden vermittelt
werden; wenn der Philosoph B. anlässlich einer Diskussion über Friedrich Schlegels
Absage an die Geschichtsphilosophie
zugunsten
einer ästhetischen Utopie sich erregt, wer derlei gedanklich nachvollziehe,
sei ein Anwalt des Bösen; und wenn der Soziologe C. schließlich eine Versöhnung
herstellt zwischen Aufklärung und Romantik, dann haben alle drei, der mahnende
Pädagoge, der zürnende Philosoph und der vermittelnde Soziologe, einen Beleg
dafür gebracht, inwiefern der künstlerisch-literarischen Rede für den akademisch-politischen
Menschen noch immer ein Skandal innewohnt, der, wie aufgeräumt Pädagogen, Philosophen
und Soziologen im allgemeinen sich auch gegenüber dieser Sphäre des Scheins
zu verhalten wissen, bis heute nicht gezähmt werden konnte bzw. mit unrichtigen
theoretischen Vorschlägen zu zähmen versucht wird. Das Beunruhigende liegt darin,
dass sich ästhetische Konstrukte offenbar nicht auf die moralisch-diskursive
Rede rückübersetzen lassen, so gerne man dies auch möchte, und zwar nicht erst
seit der Romantik. Max Webers Theorem von der Ausdifferenzierung der kulturellen
Wertsphäre, mit welchem man sich gegenüber der Beunruhigung der Kunst bis heute
beruhigt, begriff die neue Autonomie bzw. den Autonomie-Anspruch der modernen
Kunst und Literatur funktional, als das historische Korrelat zum Rationalisierungsprozess
der Moderne.
Sofern die Kunst als Sphäre des Subjektiv-Expressiven dieses Primat quasi entlastend
begleitet, kann ihr ein Stellenwert innerhalb dieses Prozesses angewiesen werden.
Sofern sie aber diesem Prozess, wie verhüllt oder erkennbar auch immer, widerspricht,
wird sie als das neue Irrationale tabuisiert und verfällt der ideologiekritischen
Aufklärung. Jürgen Habermas hat diese funktionalistische Begründung und Duldung
der ästhetischen Wertsphäre übernommen, um gleichzeitig das eingangs angedeutete
moralisch-intellektuelle Verdikt auf den aktuellen Begriff zu bringen: Er nennt
die "schwarzen Schriftsteller des Bürgertums, allen voran der
Marquis
de Sade und Nietzsche", die die
letzten Verbindungen zur Marxschen Gesellschaftstheorie unterbrochen hätten.
Was der Pädagoge A., der Philosoph B. und der Soziologe C. meinen, das hat Habermas
unmissverständlich ausgesprochen: Wenn sich die Literatur von der Kommunikationsinstanz
Gesellschaft bzw. von der gesellschaftlichen Theorie der Moderne radikal abkoppelt,
dann wird sie "schwarz". Habermas nimmt Webers kultursoziologischen Hinweis
auf die "diabolische" Wendung innerhalb der modernen Kunstentwicklung ("Die
Wirtschaftsethik der Weltreligionen") sozusagen moralisch ernst. Hatte Weber
1920 eher die aktuellen Exzesse einer noch von Décadence und Ästhetizismus geprägten
Boheme-Moderne relativiert, so sieht Habermas 1980 die Geschichte der ästhetischen
Wertsphäre als Alternative zum rationalen Diskurs "Moderne". Habermas unterstellte
sozusagen die Möglichkeit eines graduellen Schuldigwerdens bis hin zu jenem
endgültigen Sündenfall, bei dem die moderne Literatur sich von der höchsten
Instanz, der gesellschaftlichen Vernunft, ablöst wie Miltons Satan von Gott.
Dieses von Max Weber abgeleitete
funktionale Theorem bekommt seine moralische Dignität vom Wissen um jene historisch-politische
Entwicklung, die Georg Lukács als "Zerstörung der Vernunft" beschrieb, eine
These, deren theoretische Relevanz der Habermas-Schüler Hauke Brunkhorst, nachdem
sie etwas in Vergessenheit geriet, in einem Aufsatz (Merkur, Nr. 436, Juni 1985)
wieder stark zu machen versuchte. Weder er noch Habermas stellen indes die Frage,
ob jener angebliche Sündenfall der Literatur nicht möglicherweise das Apriori
der modernen Kunst seit ihrer Entstehung zu Beginn des 19. Jahrhunderts sein
könnte: nicht bedingt durch eine Verfehlung dieses oder jenes Künstlers bzw.
ästhetischen Programms - was man abermals sozialhistorisch und funktionsgeschichtlich
zu erklären hätte -, sondern durch die Verfasstheit eines ästhetischen Konstrukts
seit der europäischen Romantik, dem man sich mit einer anderen Methode zu stellen
hätte. Es war Hegel, der diese Vermutung als erster kategorisch formulierte,
wenn er in seiner Ästhetik
das
Werk E.T.A. Hoffmanns als ein Beispiel des "Bösen", d.h. des wesenlos "Negativen",
aus dem künstlerisch Zulässigen auszugrenzen versuchte.
Hegel hat die "Schwärze"
der modernen romantischen Kunst, von der Habermas spricht, also nicht sanktioniert,
sondern er hat sie als erster Philosoph unter der Kategorie des "Bösen" aus
der Sphäre des "Geistes" ausgeschlossen. Er steht am Anfang der Geschichte eines
theoretischen Bannfluchs, dem sich von ihm inspirierte Philosophen wie Karl
Rosenkranz in seiner Ästhetik des Hässlichen (1853) und Publizisten wie Arnold
Ruge in der Neuen Vorschule der Ästhetik (1837) entschieden und weniger entschieden
anschlossen. Vornehmlich Ruge, den der Systematiker Rosenkranz, der um das Heterogene
an dem Phänomen Kunst wirklich theoretisch bemüht war, allerdings auch kritisiert,
hat unter dem Begriff des "Bösen" ebenfalls über Hoffmann, aber auch über
Heinrich
Heine in einer Sprache das Urteil gesprochen, in welcher der moralische
Rigorismus der späteren Ideologiekritik festgelegt wurde. Seit Hegel wird die
romantische und die ihr folgende "schwarze" Literatur der Moderne unter jenen
Verdacht des "Bösen" gestellt, der im Kategoriensystem von Habermas oder Apel
und deren Schülern bis heute wiederkehrt. Ich möchte also nach dem Bösen in
der Literatur im Sinne eines historischen Begriffs, nicht im Sinne einer wieder
Mode werdenden kryptosakralen Symbolik oder aber einer ontologischen Kategorie
fragen. Dabei soll es allerdings nicht um die Erörterung des soeben gekennzeichneten
philosophischen Verdachts selbst gehen, den die Phänomenalität einer böse gewordenen
Kunst gar nicht interessiert, der sie vielmehr unter diesem Begriff denunziert.
Vielmehr geht es um die Umkehrung dieser Negativität zu einer ästhetischen Kategorie.
Um vorweg anzudeuten, was damit gemeint sein könnte, zitiere ich den von Habermas
als "schwarzen" Schriftsteller apostrophierten Nietzsche: Dieser hat in einem
sehr ironischen Kommentar aus dem Nachlass der achtziger Jahre zu der Tragödiendefinition
des Aristoteles geschrieben, wenn dieser die griechische Tragödie unter den
"deprimierenden", d.h. den moralisch-reflexiven Affekten von "Schrecken" und
"Mitleid", missverstehe, dann übersehe er, dass die Tragödie ein "tonicum" sei,
also etwas Erhebendes. Und dieses Verkennen komme aus der "absoluten Verlogenheit
eines Systematikers". Vor Nietzsche hatte nur
Heinrich von Kleist in einem Brief
an Marie von Kleist vom Spätherbst 1807 schon dagegen polemisiert, dass die
"Anforderung an Sittlichkeit und Moral" das "ganze Wesen des Dramas" vernichte.
Die griechische Tragödie, so Kleist, hätte unter solchen moralisierenden Kriterien,
wie sie ein gegenwärtiges bürgerliches Publikum vertrete, nie entstehen können!
Was Kleist und Nietzsche für das 19. Jahrhundert fordern, ist nichts anderes,
als dass die Ausgrenzung des Bösen ästhetisch wieder rückgängig gemacht werde,
denn des Aristoteles Tragödiendefinition, die bis in die ästhetische Diskussion
des 18. Jahrhunderts bei allen Differenzierungen der Auslegung verbindlich blieb,
hätte die erste theoretisch begründete Ausgrenzung des Bösen vorgenommen: Das
erste Verbrechen des Mythos, das Atreus-Grauen - nicht bloß in seiner Urform
bei Aischylos
und Sophokles, sondern noch in
Goethes Iphigenie auf Tauris als Rückkehr des
Mythos ästhetisch präsent - wurde schon von Aristoteles theoretisch-moralisch
gezähmt. Diesem stellte sich nicht das Problem, dass es das Grauen selbst sein
könnte, was an der Tragödie fasziniert.
(Aus "Imaginationen des Bösen. Zur
Begründung
einer ästhetischen Kategorie" von Karl Heinz
Bohrer.)
Gewalt, Grausamkeit, Krieg - diese
Sphäre zieht die Künstler vor allem an. Warum paktiert die literarische Fantasie
mit dem Bösen? Karl Heinz Bohrer erläutert anhand der Werke von
Poe,
Baudelaire,
Shakespeare,
Kafka
und anderen die Natur des Bösen und gibt dem Leser
einen Einblick in diese
ästhetische Kategorie.
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