Pál Závada: "Das Kissen der Jadwiga"


Liebe, Obsession und Selbstzerstörung vor der Kulisse eines zerrissenen Landes

Am schönsten Tag seines Lebens, wie er zu glauben entschlossen ist, nämlich seinem Hochzeitstag, beginnt der Gutsbesitzersohn Ondris damit, in unregelmäßigen Abständen ein Tagebuch zu führen. Lange hat er die fast sieben Jahre ältere Jadwiga, das ehemalige Mündel seines Vaters, leidenschaftlich umworben. Nun scheint seinem Glück nichts mehr im Wege zu stehen.

Aber es kommt auf unheilvolle Weise anders. Jadwiga verweigert sich Ondris, körperlich wie seelisch. Nur selten und dann für kurze Zeit lässt sie eine Annäherung zu. Ondris, dessen Verhältnis zu Jadwiga einer Obsession gleichkommt, versucht alles, um seine Frau zu gewinnen. In seiner Naivität begreift er lange nicht, dass sie einen anderen liebt, schon vor der Ehe geliebt hat, ausgerechnet seinen Jugendfreund Franci, einen Schürzenjäger. Und als er seine Augen vor der Wahrheit nicht mehr verschließen kann, ist er bereit, sich mit dem andauernden Verhältnis seiner Frau zu dem Nebenbuhler zu arrangieren. Als Jadwiga nach Ondris’ Sohn einen weiteren Jungen zur Welt bringt, dessen Vater nur Franci sein kann, nimmt er auch diese Demütigung und das Kuckuckskind Miso hin. Etliche Male gehen Ondris und Jadwiga "für immer" auseinander, und Wochen oder Monate später kommt es zur Versöhnung; ebenso wenig, wie sie miteinander leben können, ertragen sie die Trennung.

Denn Jadwiga kann auch die Nähe des Liebhabers nie lange ertragen. Für ihn empfindet sie Leidenschaft, für Ondris eher eine herablassende Zuneigung wie zu einem kleinen Bruder. So wechselt sie rastlos zwischen den Männern hin und her.

Nach Ondris’ frühem, auf seine Verzweiflung zurückzuführenden Tod findet Jadwiga sein Tagebuch und ergänzt es um eigene Erlebnisse, Empfindungen und Gedanken. Ihr Sohn Miso wiederum entdeckt es unter ihrem Kopfkissen, das mehr und ehrlicher erzählen könnte als das Büchlein, und die Lektüre bringt das Weltbild des Jugendlichen schier zum Einsturz.

Später, nachdem auch Jadwiga gestorben ist, führt er die Eintragungen fort und flicht Erläuterungen und eigene Eindrücke ein. Je mehr er sich allerdings in die Geschichte seiner Eltern und Großeltern verstrickt, desto tiefer erscheinen die Abgründe, die sich vor ihm auftun.

Miso hat die Eintragungen zueinander in Beziehung gesetzt, sodass es immer wieder - jedoch nicht so häufig, dass der Leser verwirrt würde - zu interessanten, lebendigen Wechseln der Perspektive kommt, aus der Vorkommnisse beleuchtet werden. Nicht zuletzt deshalb fällt es schwer, das spannende Buch vor dem Ende aus der Hand zu legen.

Aufgrund der authentisch wirkenden Tagebuchnotizen treten die Protagonisten dieses Romans mit einer scheinbaren Unmittelbarkeit auf, die den Leser von Anfang an in ihren Bann zieht. Was zunächst wie eine aparte Liebesgeschichte beginnt, zart und romantisch, wächst sich zur Lawine aus, die zwei oder gar drei Generationen der Familie Osztatní unter sich begräbt und erstickt. Verzweifelt klammern sich Ondris und seine Eltern, Jadwiga, Franci und Miso an ihre Lebenslügen, denn es gibt keinen einigermaßen gangbaren Ausweg. Die Hölle, die sie einander bereiten, lässt Gedanken an Sartre aufblitzen, und der Leser fühlt und leidet mit ihnen allen.

Der Rahmen des Romans könnte kaum dramatischer sein, auch wenn er sich eng an die ungarische Geschichte des 20. Jahrhunderts anlehnt. Ondris’ Familie gehört der etwas abschätzig behandelten slowakischen Minderheit in Ungarn an, die im für das Land fatalen Ersten Weltkrieg nationalistische und separatistische Bestrebungen entwickelt, gepaart mit sozialistischen Ideen. In der Zwischenkriegszeit, unter dem Horthy-Regime, wird die Minderheit unterdrückt; außerdem kommt es zu antisemitischen Ausschreitungen, die nicht einmal halbherzig geahndet werden. Zu dieser Zeit ist die Familie bereits finanziell angeschlagen. Im Zweiten Weltkrieg verliert Jadwiga ihren beinahe allzu intensiv geliebten älteren Sohn. Der Kommunismus schließlich beschleunigt den Niedergang der Familie Osztatní. Am Ende bleibt nur ein alter, verarmter, in der Vergangenheit gefangener eigenbrötlerischer Misanthrop übrig: Miso.

Schlicht, alltäglich und dennoch schön ist die Sprache dieses Romans, immer wieder durchsetzt mit typisch ländlicher, farbenfroher, direkter Deftigkeit; die Protagonisten charakterisieren sich nicht unwesentlich durch ihren individuellen Stil. Dem Übersetzer ist die schwierige Aufgabe gelungen, den einzigartigen Wortwitz und den Bilderreichtum der ungarischen Sprache ganz natürlich ins Deutsche einzubinden.

Das Buch besticht zudem durch seine ansprechende, hochwertige Aufmachung. Eine außergewöhnliche Neuerscheinung - und das Werk eines Autors, von dem wir hoffentlich weitere Werke in deutscher Übersetzung erwarten dürfen.

(Regina Károlyi; 09/2006)


Pál Závada: "Das Kissen der Jadwiga"
(Originaltitel "Jadviga párnája")
Aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner
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Gebundene Ausgabe:
Luchterhand Literaturverlag, 2006. 460 Seiten.
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Taschenbuch:
btb, 2008.
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Pál Závada wurde am 14. Dezember 1954 in Tótkomlós, einem Dorf im Südosten Ungarns, geboren. Von 1974 bis 1978 studierte er an der Wirtschaftsuniversität in Pécs, von 1980 bis 1982 Soziologie an der Budapester Universität.
Pál Závada lebt in Budapest, arbeitete als Wissenschaftler am Soziologischen Institut der Ungarischen Akademie. 1986 erschien sein erstes Buch, das sich mit der Sozialgeschichte seines Heimatdorfes beschäftigte. "Das Kissen der Jadwiga" ist sein erster Roman. Das Buch wurde verfilmt und mit zwei der renommiertesten Literaturpreise Ungarns ausgezeichnet: dem "Jósef-Attila-Preis" und dem "Sándor-Márai-Preis".

Lien: Interview mit Pál Závada über "Das Kissen der Jadwiga"

Ein weiteres Buch des Autors:

"
Das Vermächtnis des Fotografen"
Pál Závadas Roman erzählt viele Geschichten: Die eines Professors, der 1942 mit einer Gruppe in die ungarische Provinz reist, um dort das Leben der Landarbeiter zu studieren. Die des jungen Adam K. der - es ist das Jahr 1968 - insgeheim ein Mädchen anbetet und nur deshalb im Schulchor die Lieder der Partei singt, statt sich die neuesten Songs der "Beatles" oder "Rolling Stones" anzuhören, weil er sich sonst nicht in der Nähe seiner großen Liebe aufhalten könnte. Wieder Jahre später, will Adam mit einem Interrail-Ticket und kaum Geld in der Tasche Westeuropa kennenlernen. Unterwegs trifft er Landsleute mit Blumen im Haar, einer Gitarre unter den Armen und einer Menge ungehöriger Ideen im Kopf. Ideen, zu denen auch die freie Liebe und andere Lebensformen zählten. Ideen, über die gute Ungarn besser nicht nachdachten ...
Pál Závada, der in Ungarn in einem Atemzug mit Péter Nádas und Imre Kertész genannt wird, erzählt in einem Kaleidoskop von äußerst präzisen, lebensnahen und kunstvoll komponierten Bildern davon, wie das sozialistische Ungarn bereits mit seiner Gründung zu zerfallen begann und wie sich die Menschen in diesem ununterbrochenen Niedergang behaupteten. Es ist die auf der Oberfläche komische, im Untergrund aber tragische Geschichte eines halben Jahrhunderts, das uns noch lange beschäftigen wird, auch nachdem die alten politischen Träume längst zu Grabe getragen wurden. (Luchterhand Literaturverlag) zur Rezension ...
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