Beatrix Stoepel: "Wölfe in Deutschland"
Expeditionen ins Tierreich
Ein Plädoyer für den Wolf in Text
und Bild
Groß ist die Aufregung in Sachsen und ganz Deutschland, als
am 30. April 2002 der Schäfermeister Frank Neumann auf einer Weide am Rande des
Örtchens Mühlrose fünfzehn Schafe mit durchgebissenen Kehlen findet. Drei
weitere sind so schwer verletzt, dass sie getötet werden müssen, von neun
anderen fehlt jede Spur. Für das Bundesforstamt steht nach Untersuchung der
Bisswunden eines fest: Sie stammen von Wölfen! Wölfe in der
Oberlausitz?
Sofort prangen von der "BILD" bis zum "Spiegel"
hysterische Überschriften: "Ein ganzes Dorf in Angst", "Lausitz zittert vor
den Wölfen", "Grausiges Schweigen der Lämmer", ...
Es gibt aber auch besonnene Journalisten, wie Holger Vogt, der schon seit 1997
die Idee verfolgt hatte, einen Bericht über die Rückkehr des Wolfes nach Deutschland
abzuliefern; eine Reportage, die mit dem alteingesessenen "Rotkäppchen-Syndrom"
vom Wolf als Kinderschreck aufräumen soll. Vogt gelingt es, den Tierfilmer Uwe
Anders ebenfalls vom Projekt zu begeistern - und gemeinsam schaffen sie es,
den Norddeutschen Rundfunk (NDR) mit ins Boot zu holen. Eine Dokumentation für
die populäre Sendereihe "Expeditionen ins Tierreich" entsteht. Über dieses
idealistische Unterfangen berichtet das vorliegende Buch, ebenso wie über den
unermüdlichen Einsatz zweier "Wolfsfrauen", die ihre Arbeit und Freizeit fast
gänzlich dem Überleben der Spezies Canis lupus in Sachsen verschrieben
haben. Es sind dies die Biologinnen Gesa Kluth und Ilka Reinhardt. Gesa hatte
bereits während und nach ihrer Ausbildung Felderfahrung mit Wölfen in Minnesota,
Estland und Polen gesammelt. Wegen des Risses der Schafe bei Mühlrose ist Feuer
am Dach. Wird die mediale Aufregung weiterhin geschürt, droht der Rückkehr des
Wolfes nach Deutschland ein jähes wie blutiges Ende.
Dabei hatte alles
still und verheißungsvoll begonnen. Ende 1996 wird ein Wolf auf der Muskauer
Heide, nahe der Trennlinie Sachsens zu Polen, als ständiger Bewohner ausgemacht.
Dem Tier war offensichtlich das Durchschwimmen des Grenzflusses Neiße gelungen.
1998 sind es schon zwei Wölfe, 2000 zählt man sechs Tiere: das Elternpaar und
vier Welpen. Eine Sensation! Nach über 150 Jahren lebt wieder ein wildes
Wolfsrudel auf deutschem Boden. Die Bundesförster machen wenig Aufsehen darüber,
ihnen ist der Wolf willkommen und sie wollten ihn vor allzu abschusslustigen
Waidmännern schützen. Als die Kunde von Isegrims Rückkehr dennoch mehr und mehr
durchsickert, wird im Januar 2001 ein erster Artikel in der "Lausitzer
Rundschau" lanciert, dazu gedacht, der Bevölkerung die Angst zu nehmen. Im
Sommer selben Jahres geht das Sächsische Staatsministerium für Umweltschutz und
Landwirtschaft mit einer Presseerklärung an die Öffentlichkeit. Der Minister
höchstpersönlich spricht von einem "Geschenk für Sachsen"; er wittert
Scharen an Ökotouristen für die strukturschwache Region Oberlausitz. Die Wölfe
werden zum potenziellen Wirtschaftsfaktor.
Doch nach dem Vorfall mit den
27 toten bzw. verschwundenen Schafen scheint die Waage zu Lasten der Wölfe zu
kippen. Es kommt sogar noch schlimmer, als durch weitere sechs gerissene Tiere
die Zahl der toten Schafe auf 33 steigt. Gesa Kluth wird vom Ministerium als
Expertin einberufen, um mit den Schäfern zu reden, Lösungskonzepte zu
erarbeiten. Ein Managementplan kommt auf den Tisch, der in ähnlicher Form im
benachbarten Bundesland Brandenburg schon seit 1994 vorgelegen ist, aber nie den
Weg in die Praxis fand. Der Grund: In Brandenburg konnte sich einfach kein Rudel
etablieren, nur einzelne Wölfe streiften von Zeit zu Zeit durchs Land.
Traurigerweise fanden sie regelmäßig ein Ende durch Menschenhand.
Gesa hat mit allerlei Unbill zu kämpfen. Dubiose Bürgerinitiativen fordern "Wölfe
zurück nach Sibirien!" bzw. wird der Abschuss
der Muskauer Wölfe beantragt. Hinzu kommt, dass im Laufe der nächsten zwei Jahre
die meisten Welpen sterben oder einfach verschwinden. Zu allem Überdruss paart
sich Wolf mit Hund, ein Hybridrudel ist die Folge, welches in einen Naturpark
verfrachtet wird, um einer weiteren "Verhundung" der eingewanderten Wolfspopulation
entgegenzusteuern. Gesa und Ilka betreiben Feldforschung, halten Infoveranstaltungen
und Camps ab, stehen den Medien bereit und müssen mit den Schäfern Strategien
entwickeln. Gesa Kluths Maxime: Wölfe können nur dann nachhaltig geschützt werden,
wenn die Menschen vor Ort sie tolerieren. Die Tatsache alleine, dass Canis
lupus in der BRD seit 1987 - und nach der Wiedervereinigung - in ganz Deutschland
als streng geschützte Art gilt, sichert noch nicht sein Überleben.
Gesa Kluth erklärt der Öffentlichkeit, dass Wölfe keine "blutrünstigen Mörder",
sondern einfach nur Wildtiere sind, die gemäß ihrem biologischen Inventar leben
und jagen. In freier Wildbahn laufen Beutetiere weg, sobald sie Beutegreifer
bemerken. Wer nicht fliehen kann, dient Wolf und Co. als Nahrung. Wölfe jagen
schnell und effektiv. Daher kann es vorkommen, dass sie viel Beute auf einmal
schlagen (wie im Fall der Schafe
von Mühlrose); schließlich haben Wildtiere keine geregelten Mahlzeiten und wissen
nie, wann wieder die Chance besteht, satt zu werden. "Ein ungeschütztes Schaf
ist einfach ein zu verlockendes Angebot, das kein Raubtier ausschlägt",
sagt Kluth. Und: Hatte die Jagdmethode Erfolg, wird sie von den Wölfen wiederholt.
Deshalb lässt Gesa die Schäfer Elektrozäune errichten und Leinen mit bunten
Lappen um die Schafweide spannen. Seit Jahrhunderten ist bekannt, dass Wölfe
diese wehenden Stofffetzen fürchten und nur äußerst selten "durch die Lappen
gehen" (ein Sprichwort von der unrühmlichen Treibjagd auf Wölfe herrührend).
Im April kommt auf Initiative der Gesellschaft zum Schutz der Wölfe willkommene
Verstärkung durch die Pyrenäenberghunde "Falko" und "Dux" hinzu. Was es mit
diesen Herdenschutzhunden Besonderes auf sich hat, gibt das Buch preis. Ebenso,
worin der Vorteil von Tieren dieser Rassen gegenüber Hirtenhunden liegt.
"Wölfe in
Deutschland" dokumentiert aber nicht nur den Einsatz der beiden
Tier-Journalisten und Biologinnen, sondern liefert auch auszugsweise
Informationen über den Beginn der systematischen Wolfsverfolgung im ausgehenden
8. Jh. durch Karl den Großen; ebenso über grausame Tötungsapparaturen wie die
"Wolfsangel" (ein mit Köder getarnter Widerhaken, der sich im Rachen des Tieres
spreizte), Werwolfprozesse der frühen Neuzeit oder einen Ukas des Zaren von
1848, wonach alle wildlebenden Wölfe vernichtet werden müssen. Dieser Erlass
betraf vor allem das damals zu weiten Teilen von den Russen besetzte
Polen.
Polen, vor allem der Westen des Landes, ist der Herkunftsort der heutigen sächsischen
Wölfe. Wird Canis lupus dort ausgerottet, hat er auch im Osten Deutschlands
keine Chance. Apropos Chance: Scheinbar kurioserweise haben sich die sächsischen
Wölfe gerade auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz, einem über 15.000 Hektar
weiten Areal, niedergelassen. Bei näherer Betrachtung ist dies gar nicht so
erstaunlich, schließlich macht ein Viertel des Gebietes Waldfläche aus, die
von keinen Wanderern und nur einer Handvoll Jägern gestört wird. Der kluge Wolf
hat schnell gelernt, wo die Bundeswehr den Krach macht und wo bei reichem Nahrungsangebot
in Ruhe Welpen großgezogen werden können.
Was "Wölfe in Deutschland" sicher nicht sein will, ist
eine wissenschaftliche Abhandlung. Das illustriert schon die Tatsache, dass im
Buch etwas "gemogelt" wurde, was die Bildauswahl betrifft: Viele der wunderbaren
Aufnahmen zeigen nordamerikanische, nicht osteuropäische Wölfe. Das sei Autorin
Beatrix Stoepel verziehen. Denn sie hat ein Plädoyer der Toleranz für den Wolf
gehalten, dem in unserer Kultur tief sitzenden Klischee von der Bestie ein
wichtiges Stückchen entgegengesteuert - und hervorgehoben, dass Canis
lupus eine wertvolle Bereicherung des Ökosystems und nicht eine Bedrohung
für den Menschen darstellt.
Wenn Sie nun eine Parteilichkeit des Rezensenten zu Isegrims Gunsten wittern,
trügt Sie ihre Nase nicht; ja, der Rezensent wünscht sich sogar, dass viele
seiner Artgenossinnen und Artgenossen ebenfalls klar Partei für den Wolf ergreifen.
Nur gemeinsam kann das negative Zerrbild dieser hochinteressanten, sozialen
Spezies gerade gerückt und ihr Fortbestehen gesichert werden. Denn eines nicht
zu fernen Tages werden Wolfsfamilien auch in Österreich wieder Quartier beziehen.
Und was ist besser, als anderswo begangene Fehler nicht zu wiederholen. Heißen
wir die wölfischen Ankömmlinge
willkommen
... !
(lostlobo; 01/2005)
Beatrix Stoepel: "Wölfe in
Deutschland"
Hoffmann und Campe, 2004. 223 Seiten.
ISBN
3-455-09470-8.
ca. EUR 25,60.
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Noch zwei Buchtipps:
Tanja Askani: "Wolfsspuren"
Tanja Askani, Falknerin im Wildpark Lüneburger Heide, gehört zu den wenigen
Menschen, denen es gelang, mit Wölfen eine enge Beziehung aufzubauen. 1998 zog
sie ihren ersten verwaisten Polarwolfswelpen mit der Hand auf - damit war der
Grundstein für ihre Liebe zu den Wölfen gelegt. Das Buch folgt ihrem Weg, ihren
Erfahrungen und Erlebnissen mit den Wölfen und erschließt zugleich eine Fülle
an fundiertem Wissen, an neuartigen und überraschenden Erkenntnissen über dieses
faszinierende Tier. Wer sich ohne Vorurteile, mit Einfühlung und Geduld diesem
Tier nähert, sich mit seiner Lebensweise und den ökologischen Zusammenhängen
befasst, erfährt und erlebt den Wolf als äußerst vielschichtiges, sensibles
und faszinierendes Wesen. (AT Verlag)
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Erik Zimen: "Der Wolf. Verhalten,
Ökologie und Mythos"
Dr. Erik Zimen: Der ehemalige Mitarbeiter
von Konrad Lorenz leitete verschiedene Wolfs-Forschungsprojekte im Nationalpark
Bayerischer Wald, in den Abruzzen, in Saarland und in Afrika. Wolf- und
Hundefans
ist der Name Zimen sehr bekannt, zum einen durch seine Bücher, aber auch durch
seine Filme und Auftritte in Funk und Fernsehen. Erik Zimen ist heute der renommierteste
Wolfsbiologe Europas und sicherlich einer der bekanntesten oder sogar der bekannteste
lebende, deutschsprachige Verhaltensforscher. Wer sich für Wölfe interessiert,
kommt an seinem Buch nicht vorbei. (Kosmos)
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