Simon Werle: "Abendregen"

"Ich weiß, wie dir zumute ist. Jetzt hast du gar niemand mehr."


Eine Erzählung über den Verlust; den Verlust der Mutter, der Geliebten, der eigenen Identität. Triefende Einsamkeit, Begierde, Verzweiflung und Eintönigkeit lösen einander ab und lassen weder Visionen noch Auswege sichtbar werden.

Manolis, der Protagonist und Ich-Erzähler, ist davon überzeugt, an guten Tagen schon bei der Wahl der Telefonnummer ein Sensorium für das entstehende Gegenüber zu entwickeln. Nur aus diesem Grund ist er als Telefonverkäufer hervorragend im Geschäft. Erstaunlich, dass ihm gerade diese Fähigkeit im Umgang mit Menschen aus Fleisch und Blut gänzlich abhanden kommt.

So hasst er es zwar, Claire rauchen zu sehen, zu sehen wie ihr Mund ihn mit einer Zigarette betrügt, andererseits nimmt er sie und ihre Bedürfnisse kaum wahr, errichtet geradezu eine Mauer um sich und akzeptiert bis zum Tod seiner Mutter auch klaglos die ihre.

Die Beziehung zwischen Manolis, dem dicklichen Sportwagenfahrer und Claire, der schönen und von Männern begehrten Krankenhausangestellten, erscheint von Anfang an aussichtslos und zum Scheitern verurteilt. Das Arrangement, das Manolis zu einer gewissen sexuellen Befriedigung verhilft und Claire zumindest musikalisch erregt, bleibt an der Oberfläche, besteht aus keinerlei Alleinverfügungsanspruch, ist von ungeschriebenen Regeln geprägt und gibt Rätsel auf.

Der Tod Doras rüttelt Manolis auf und beschämt ihn, da er nicht einmal fähig war, die Hand seiner Mutter in den letzten Stunden zu halten. Die Lebensgeschichte der Mutter, die jahrelang als Kellnerin gearbeitet hat und deren Leben in erster Linie aus Dienen bestand, wird nur an der Oberfläche gestreift. Trotzdem scheint ihr Tod eine Wende in Manolis' Leben zu bringen. Er übertritt alle Vereinbarungen und wendet sich an Claire, die ihn kaum wahrnimmt und zurückweist. Er beginnt ihr nachzuspionieren und ihren anderen Liebhabern gegenüber so etwas wie Aggression oder Neid zu entwickeln. Letztendlich ist Manolis aber nur zu feige, seine Gefühle direkt auf Claire zu projizieren. Die eigenartige Verbindung ist dem Untergang geweiht. Obwohl er Claire nie besessen hat, empfindet Manolis den Bruch der Beziehung als dramatisch. Der Verlust der beiden Frauen konfrontiert ihn brutal mit der Wirklichkeit. Manolis beginnt sich zu verkriechen - aus seinem Körper in seinen Kopf - um die Schmerzen nicht zu spüren, doch die Schatten seiner Vergangenheit lassen sich nicht länger verdrängen.

(Margarete; 05/2004)


Simon Werle: "Abendregen"
Erzählung
dtv, 2004. 176 Seiten.
ISBN 3-423-13188-8.
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Simon Werle, geboren 1957 im Saarland, studierte Romanistik und Philosophie in München und Paris. Seit 1983 Übersetzer französischer und englischer Literatur, erhielt er dafür 1988 den Paul-Celan-Preis und 1992 den Johann-Heinrich-Voß-Preis. Romane, Theaterstücke, Libretti. Simon Werle lebt in München.