Donata Elschenbroich: "Weltwunder"
Kinder als Naturforscher
Kindern den Zugang zu den Naturwissenschaften freimachen
Viele Erwachsene von heute sind in naturwissenschaftlicher Hinsicht
Analphabeten. Sie haben in der Schule die ungeliebten
Naturwissenschaften zeitig abgewählt und zuvor mit anderen Fächern
"ausgeglichen".
In der Gesellschaft setzt sich allmählich der Gedanke durch, dass
unsere Wirtschaft ohne Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik
nicht funktionieren kann. Wie aber sollen Erwachsene, denen selbst der
Zugang zu diesen Gebieten fehlt, Kinder an sie heranführen?
Donata Elschenbroich zeigt in ihrem neuen Buch Chancen und Wege hierzu auf,
aber sie weist auch auf die Schwierigkeiten hin, denen Erzieher bei ihrem Bemühen gegenüberstehen.
Schon Säuglinge experimentieren und interagieren mit ihrer Umwelt, um
sie und sich selbst zu begreifen. Neuere Forschungsergebnisse belegen,
dass die intellektuellen Leistungen der Babys bislang weit unterschätzt
wurden.
Kinder begegnen der Physik zunächst ganz unmittelbar und sinnlich: auf
der
Schaukel (Pendel) und auf der Wippe (Hebel), sogar beim Putzen
(beispielsweise Kapillareffekte). In der Schule werden diese
Erfahrungen entwertet; hier steht die bloße Faktenvermittlung, das
durchgeplante Experiment mit Erfolgsgarantie im
Vordergrund. Der Mond
der Kindheit ist so gar nicht gleich dem Mond der Wissenschaft. Daher
habe ich für den Titel dieser Rezension bewusst das Verb "freimachen"
und nicht "öffnen" gewählt: Zu häufig steht die Schule der Autorin
zufolge im Weg, statt Weg zu sein.
Donate Elschenbroich umreißt zuerst die Entwicklung der Kinder als
Forschende in ihren ersten Lebensjahren; sie erklärt, wie
wissenschaftliche Erkenntnis in Kindern entsteht.
Ansätze zum Fördern und Ausbauen dieser Erkenntnis gibt es viele. Das
Buch enthält neben Erläuterungen der pädagogischen Ideen mehrerer an
der kindlichen Wahrnehmungsumsetzung interessierter Forscher aus
verschiedenen Epochen (etwa Georg Christoph Lichtenberg) zahlreiche
Interviews mit Vertretern solcher Ansätze, die aus ganz verschiedenen
Bereichen stammen, Pädagogen aus Hochschulen, Wald- und
Waldorfkindergärten zum Beispiel, aber auch einem Kernphysiker und
einem Chemiker. Es zeigen sich überraschend viele Übereinstimmungen:
Kinder brauchen Zeit und Ruhe für ihre Versuche, und sie lernen vor
allem aus
Experimenten,
die ihre eigenen Beobachtungen und Überlegungen hervorgebracht haben;
es ist wichtiger, dass Kinder zu fragen beginnen, als dass sie
antworten. Vor allem aber bietet die Natur selbst ideale Anreize zum
Staunen, Hinterfragen und schließlich Experimentieren.
Das letzte Kapitel stellt dem deutschen Kindergarten die französische
Ecole maternelle sowie chinesische und japanische Einrichtungen
gegenüber. Hier zeigt sich, dass in diesen Ländern, insbesondere in
Ostasien, gewissermaßen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird: Im
Bemühen, die Kinder "wettbewerbsfähig" zu machen, werden sie schon
extrem früh mit Reizen überflutet. Allerdings muss man gerade die
Einrichtungen im Fernen Osten im
Kontext der umgebenden Kultur betrachten. Dennoch wird dort bereits
Kritik laut, und eine erste Umorientierung auch in Richtung Deutschland
beginnt.
Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis gibt die Möglichkeit, sich
intensiver mit der Materie zu befassen.
Donata Elschenbroich bietet kein Patentrezept, sie legt sich auch nicht auf
eines der vorgestellten und diskutierten Konzepte fest, sondern "extrahiert"
anhand vieler Beispiele die Vorgehensweisen, die am ehesten kindgerecht und
erfolgversprechend sind. Sie fördert das Verständnis für die kindliche Wahrnehmung
und Wahrnehmungsverarbeitung. Am Ende etlicher Kapitel findet man Denkanstöße
für die Praxis, zum Beispiel naturwissenschaftliches Hintergrundwissen in Redensarten,
Sprichwörtern und Metaphern, die Kinder und Erziehende gleichermaßen
zum
Enträtseln anregen können.
Das Buch ist gründlich recherchiert und ausgearbeitet, sehr gut
verständlich und daher für alle Erziehenden - Eltern, Lehrer,
Erzieherinnen - geeignet, die in den heutigen Kindern die natürliche
Freude am Entdecken und Experimentieren vertiefen und diese mit dem
durch die Schule zu vermittelnden Wissen zu einem positiven Verhältnis
zu Naturwissenschaften und Technik verknüpfen möchten. Angesichts der
Ergebnisse der PISA-Studie halte ich dieses Werk für einen Glücksfall.
(Regina Károlyi; 09/2005)
Donata Elschenbroich: "Weltwunder"
Antje Kunstmann, 2005. 270 Seiten.
ISBN 3-88897-398-8.
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Donata Elschenbroich arbeitet am
Deutschen Jugendinstitut auf dem Gebiet der international vergleichenden
Kindheitsforschung und gilt als Expertin für Bildung in frühen Jahren. Mit dem
Dokumentarfilmer Otto Schweitzer produzierte sie mehrere Filme zum Thema "Weltwissen
der Siebenjährigen". Ihr gleichnamiges Buch (2001) wurde in sieben
Sprachen übersetzt:
"Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können"
Was sollte ein Kind in seinen ersten sieben Lebensjahren erfahren haben, können,
wissen? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein? Donata
Elschenbroich hat über Jahre in einer großangelegten Studie Menschen aller
Schichten, jeden Alters und verschiedenster Bildungshintergründe befragt.
Ausgangs- und Zielpunkt der vielstimmigen Recherche: eine Wunschliste für
"Weltwissen", die lebenspraktische, soziale, motorische Fähigkeiten
und Erfahrungen ebenso umgreift wie kognitive und ästhetische Angebote. Nicht
um einen Lernzielkatalog, eine Checkliste abzuprüfender Fähigkeiten geht es
hier, wohl aber um ein Panorama von Bildungserlebnissen, die wir Erwachsenen -
Eltern, Erzieher, Nachbarn, Politiker - Kindern in den frühen Jahren schulden.
Donata Elschenbroich bietet eine Fülle von Anregungen, wie sich Weltwissen im
Alltag für und mit unseren Kindern entwickeln lässt - ein Spiel mit offenem
Ende, dessen Gewinner wir alle sind. (Antje Kunstmann)
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