Renate Welsh: "Liebe Schwester"


Ein Lesevergnügen, das mich eine Woche lang in jeder Sekunde Freizeit begleitete, ist für mich der Roman "Liebe Schwester" von Renate Welsh. Er erzählt von den beiden Schwestern Karla und Josefa ("Sefa"), die gemeinsam in der elterlichen Wohnung in Wien-Hietzing leben.
Beide Damen sind über 80 Jahre alt, beide waren verheiratet und haben nun als Witwen wieder zueinander gefunden. Sie teilen sich Haushalt und Miete. Karla, die Ältere, hat ein wenig müde Beine und flirtet für ihr Leben gern, außerdem bildet sie Anagramme aus den Buchstaben der Wörter, die sie manchmal zu Sefa sagt und löst gerne Kreuzworträtsel. Sefa, jünger und schüchterner, etwas eifersüchtig auf die Schwester, die sich scheinbar im Leben leichter tut, hat sie doch nicht als Ersatz für die beiden männlichen Nachkommen - Zwillinge - die als Kleinkinder starben, gegolten, ist etwas steifer in ihren Reaktionen; sie kocht und kauft ein.

Beide Frauen sind trotz ihres Alters noch rüstig und durchaus aufgeschlossen für Neuerungen, so besitzen sie sogar eine Espressomaschine und kochen türkischen Kaffee.
Der Beginn des Romans beschreibt beider Alltag. Er ist gleichförmig und nur unterbrochen durch kleinere Kämpfe ums Rechthaben. Alles Vergangene wird in einen Glorienschein gehüllt, der zu bröckeln beginnt, als Karlas Enkelin, die mit ihrer Mutter in Amerika lebt, eine Arbeit über die Zwischenkriegszeit und das Dritte Reich schreiben muss und eine Kassette schickt, auf die Karla und Sefa das damals Erlebte sprechen sollen. Die Schwestern beginnen sich zu erinnern und zu hinterfragen. Von den Eltern behütet, bekamen sie die Hitlerzeit nur am Rande mit, merken aber, dass auch in ihrem Leben Spuren davon zu sehen sind. Der Tod zweier Schulkameradinnen unterstützt die Erinnerungen zusätzlich noch. Zum ersten Mal im Leben stellen die Schwestern auch die Beziehung und die Autorität ihrer Eltern in Frage.

Das Leben von Karla und Sefa wird noch interessanter, auch für Sefas Sohn und dessen Tochter, als sie bei einem Schönbrunnbesuch einen ebenfalls älteren Herrn, Gustl, mit Auto, kennen lernen. Sie unternehmen kleine Ausflüge und schon bald stellt sich heraus, dass Gustl an Sefa interessiert ist. Die Beiden kommen aber erst durch Karlas Regie zusammen.

Im Laufe des Romans und mit zunehmender Beschäftigung finden die beiden Frauen immer mehr zusammen, stoßen sich immer weniger an den persönlichen Eigenheiten der anderen Schwester und beginnen einander zu verstehen und zu lieben.

Wie bereits gesagt, "Liebe Schwester" ist ein absolut netter Roman. Renate Welsh erzählt kurzweilig und unterhaltsam. Ein großes Rätsel waren mir allerdings bis zum Schluss die Anagramme Sefas. Anfangs versuchte ich sie noch zu enträtseln, später überlas ich sie, war aber enttäuscht, dass ich sie nicht verstand, da sie manchmal als Schlüsselbemerkungen eingesetzt werden.

Renate Welsh wurde 1937 in Wien geboren. Ihre Kindheit verlebte sie in einem Vorort Wiens, wo ihr Vater Arzt war. Nach dem Abitur studierte sie Englisch, Spanisch und Literaturwissenschaften, brach ihr Studium aber nach zwei Jahren ab und arbeitete am British Council in Wien. Nebenberuflich, später freiberuflich war sie als Übersetzerin tätig. Seit 1969 hat sie dann viele engagierte Kinder- und Jugendbücher geschrieben, für die sie neben zahlreichen anderen Auszeichnungen mehrfach den Österreichischen Staatspreis für Kinderliteratur, den Preis der Stadt Wien und den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt. 1995 wurde ihr Gesamtwerk mit dem Österreichischen Würdigungspreis ausgezeichnet.
Renate Welsh sagte einmal, sie glaube, "dass Bücher der Hoffnung mehr Platz einräumen können, dass sie die Grenzen des Verstehens und der Einsicht ausdehnen können, dass sie denen eine Sprache geben können, die noch nicht für sich selbst reden. In der Hoffnung auf Hoffnung schreibe ich - und weil mir gar nichts anderes übrig bleibt."

(Ingrid; 12/2003)


Renate Welsh: "Liebe Schwester"
dtv, 2003. 260 Seiten.
ISBN 3-423-24376-7.
ca. EUR 14,50.
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